Mit einem Cowboy tanzen

Mit einem Cowboy tanzen

Sylva Kanderal


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 190
ISBN: 978-3-903271-09-8
Erscheinungsdatum: 07.05.2019
Der Tag ihres größten beruflichen Triumphs wird für die Junganwältin Veronique Morgan zum schlimmsten in ihrem Privatleben. Sie verkriecht sich in ihrer Arbeit, doch bald stellt sich heraus, dass diese mehr Gefahren birgt, als Veronique je gedacht hätte …
Kapitel 1

»Ms. Morgan, Dr.?Glenn will Sie sprechen. Er erwartet Sie in seinem Büro.«
Veronique hob ihren Kopf von den auf ihrem Schreibtisch liegenden Akten und schaute Ms. Brown erstaunt an.
»Dr.?Glenn?«, fragte sie ungläubig. »Warum Dr.?Glenn?«
»Das weiß ich nicht, aber beeilen Sie sich bitte«, antwortete die alte, treue Sekretärin der Anwaltskanzlei Ashton, Glenn & Partner höflich, aber mit einer strengen Stimme. Dann machte sie kehrt, schloss leise die Türe hinter sich und ließ die überraschte Veronique in ihrem Büro allein zurück.
Veronique Morgan war seit drei Jahren in der renommierten Anwaltspraxis an der Fleet Street in London angestellt. Als Klassenbeste hatte sie ihr Jurastudium an der School of Law an der Queen Mary University of London vor vier Jahren abgeschlossen und erfolgreich alle weiteren Prüfungen absolviert, um Anwältin zu werden. Ihre glänzenden Noten hatten geholfen, gleich im Anschluss an ihre Ausbildung eine Stelle als junge Juristin zu bekommen. Ihre Aufgaben waren es, Klienten zu treffen, ihre Probleme anzuhören und mit ihnen zu besprechen, sie juristisch zu beraten und für eine Anhörung bei Gericht alles für den Barrister vorzubereiten. Als Solicitorin durfte sie nur einfache Fälle vor niedrigen Gerichten vertreten. Sie durfte nicht vor höheren Gerichten auftreten. Dies war nur den Barristern – Anwälten mit spezieller Zulassung – erlaubt. Die Kanzlei hatte einen exzellenten Ruf und Veronique wusste, dass sich mit dieser Anstellung eine Gelegenheit für ihren Start ins Berufsleben eröffnet hatte, die sich kaum wiederholen würde.
Nach dem Studienende hatte sie mehrere Bewerbungen an verschiedene Rechtsanwaltskanzleien geschickt, darunter auch Ashton, Glenn & Partner. Von einer positiven Rückmeldung hatte sie nicht zu träumen gewagt. Umso größer war ihre Überraschung gewesen, als sie die Einladung zu einem persönlichen Gespräch bekommen hatte und Dr.?Ashton ihr eine Stelle als seine Assistentin angeboten hatte. Sie hatte ihre Freude darüber kaum zurückhalten können. Dr.?Ashton hatte damals geschmunzelt, ihr zugenickt und bemerkt, dass er hoffe, dass es ihr in der Kanzlei nicht nur gefallen werde, sondern auch wertvolle Erfahrungen sammeln werde können.
Das war auch Veroniques Ziel. Sie war sehr gewissenhaft, fleißig und klug. Ihr analytisches Denken und ihre Neugier waren in diesem Beruf von Vorteil. Sie war ruhig und leise, hörte den Anderen immer gut zu, ihre Argumente waren logisch und präzise formuliert. Der Beruf der Anwältin schien wie gemacht für sie zu sein.
Veronique wollte soeben ihr Büro verlassen und zu Dr.?Glenn gehen, kehrte jedoch noch einmal zu ihrem Schreibtisch zurück, um einen Notizblock und einen Kugelschreiber mitzunehmen. Sie trug einen gutsitzenden dunkelblauen Blazer, ein einfaches weißes T-Shirt von Marc Cain und einen schmalen Rock. Das Outfit lockerte sie mit einem farbigen kleinen Halstuch auf. Ihre üppige dunkelblonde Mähne hatte sie ordentlich nach hinten gekämmt und mit einer Spange in Nacken festgebunden. Sie trug fast kein Make-up, nur ein bisschen Wangenrouge und einen Mascara, der ihre lavendelblauen Augen betonte. Sie war schlank und anmutig, bewegte sich leicht und graziös wie eine Ballerina. Sie nahm den Block, strich beiläufig noch mit ihrer Hand über den Blazer und verließ das Büro.

Glenns Arbeitsräumlichkeiten befanden sich im vierten Stock, sie lagen damit ein Stockwerk höher als die Büros von Dr.?Ashton, mit dem sie sonst immer zusammenarbeitete. Veronique ging die elegante, aus hellem Carrara-Marmor gemeißelte Treppe hoch und klopfte kurz an die Tür von Ms. Taylor, der Sekretärin von Dr.?Glenn. Sie winkte Veronique mit einer Handbewegung herein und ließ sie warten, bis sie ihr Telefongespräch beendet hatte.
»Dr.?Glenn wartet auf Sie«, sagte sie freundlich, begleitete Veronique zu Dr.?Glenns Büro und klopfte kurz am dunklen Holz der großen, kunstvoll geschnitzten Türe an.
»Herein«, schallte es aus dem Zimmer laut heraus. Dr.?Glenn hat die typische Stimme eines Erfolgsanwaltes, dachte Veronique. Sie klang bestimmt, klar und hatte eine gute Tonalität, wie ein perfekt gestimmtes Musikinstrument. So eine Stimme, kombiniert mit geschickt präsentierten Fakten, garantierte ein gutes Echo und die Aufmerksamkeit der Anwesenden im Gerichtssaal und war somit indirekt Teil seines Erfolgs bei vielen Verhandlungen.
Veronique trat ohne Zögern ein.
»Guten Tag, Dr.?Glenn. Sie wollten mich sprechen?«
»Setzen Sie sich, Ms. Morgan«, er wies auf einen mit braunem Leder gepolsterten großen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Veronique nahm Platz, legte ihren Notizblock auf ihren Schoß und schaute Dr.?Glenn mit Neugier an. Er war großgewachsen, schlank, eloquent und unzugänglich, steif, immer gut angezogen, mit beginnender Glatze und schönen Händen. Er war exzellent in seinem Beruf und mit seinen achtunddreißig Jahren ein sehr erfolgreicher Barrister. Veronique war ihm gegenüber voller Respekt.
»Sie sind mit der Causa Bailey versus Bailey vertraut, nicht wahr?« Kühl und distanziert blickte er zu ihr und setzte fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Dr.?Ashton wird für eine unbestimmte Zeit abwesend sein. Sie übernehmen den Fall. Informieren Sie sich gut, bis ins letzte Detail. Sie müssen alles über den Sachverhalt wissen. Wir sind eine erfolgreiche Kanzlei und ich erwarte einen klaren Sieg bei der Verhandlung. Der Gerichtstermin ist für den kommenden Dienstag um 8.00 Uhr in der Royal Court angesetzt, also haben Sie noch eine ganze Woche Zeit, um sich perfekt vorzubereiten. Unmittelbar nach der Verhandlung möchte ich Ihren Bericht vorgelegt bekommen. Alles klar?« Dr.?Glenn durchbohrte Veronique mit einem harten Blick. Er erwartete weder Fragen von ihr noch würde er einen Widerspruch dulden.
Veronique nickte bedächtig. »Ja, ich glaube, ich habe einen ziemlich guten Überblick über diesen Fall. Ich werde mich gut vorbereiten, das verspreche ich Ihnen. Danke für Ihr Vertrauen.« Sie blickte wartend zu ihm. Ohne sie nochmals anzuschauen, verschob er einige Papiere auf seinem Schreibtisch, dann hob er seinen Kopf, richtete seine Augen auf sie und stand auf. Die Audienz war beendet. Höflich begleitete er sie zur Tür.
Zurück in ihrem Büro setzte sich Veronique auf den praktischen, weichen Drehsessel hinter ihrem Schreibtisch, stützte die Ellbogen auf das Pult, legte ihren Kopf in ihre Hände und starrte vor sich hin. Was ist Dr.?Ashton passiert, fragte sie sich, dass ich seinen Fall übernehmen soll? Sie wusste, dass sie dadurch die große Chance bekommen hatte, auf die sie schon lange gewartet hatte – und sie wollte sie nutzen.
Aus den Akten wusste sie einiges über die Ehe von Mr. und Mrs. Bailey. Aber einen guten Überblick zu haben und wirklich mit den Fakten vertraut zu sein, waren zwei verschiedene Sachen, das wusste sie auch. Die gegenseitigen Beschimpfungen und die verdrehten Fakten, die die Eheleute preisgegeben hatten, waren für den Prozess nicht relevant. Sie wusste, auf so einer Basis gewann man eine Verhandlung nicht, eher würde man damit nur Raum für endlose Prozessfolgen schaffen. Und sie wollte definitiv Erfolg haben und sich die Anerkennung der Kanzlei sichern.
Veronique suchte Ms. Brown im Sekretariat auf. Sie brauchte die gesamte Akten und Notizen, die Dr.?Ashton gemacht hatte, sie musste jedes einzelne Detail wissen. Ms. Brown hatte alles schon vorbereitet und schob ihr einige Ordner zu. »Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, Ms. Morgan.«
»Danke, den kann ich gut brauchen. Was ist eigentlich Dr.?Ashton dazwischengekommen, dass ich den Fall Bailey für ihn übernehmen soll, wissen Sie etwas? Warum ist er abwesend?«
Ms. Brown drehte ihren Kopf zur Seite, schaute weg, atmete tief ein und sagte dann leise, dass er einen Unfall auf den Klippen in der Nähe von Plymouth hatte und bewusstlos im Peninsula Hospital in Plymouth liege. Veronique nickte, wollte nicht weiter fragen. Kurz beobachtete sie Ms. Brown, die bleich und traurig vor ihr stand. Etwas stimmte mit ihr nicht, das war offensichtlich. Veronique wollte nicht aufdringlich sein, aber sie bot Ms. Brown ihre Hilfe an. Mit einem leeren Blick, der ziellos durch den Raum schweifte, schüttelte sie den Kopf.
»Danke, Ms. Morgan, alles ist in Ordnung. Ich brauche keine Hilfe, aber es ist lieb von Ihnen, zu fragen. Ich schätze das sehr.« Sie reichte Veronique die vorbereitete große Stofftasche, legte alle Ordner, die mit dem Fall Bailey zu tun hatten, hinein und zauberte auf ihr Gesicht ein kleines, trauriges Lächeln. Dann faltete sie ihre Hände vor ihrer Brust zusammen, als ob sie beten wollte und drehte sich dem Fenster zu. Veronique schaute noch einmal zu ihr. Dann verlies sie zögernd das Sekretariat. Sie nahm sich fest vor, Dr.?Ashton so bald wie möglich zu besuchen.
Dr.?Ashton war ihr Chef und ein guter juristischer Berater. Sie hatte in den vergangenen drei Jahren viel von ihm gelernt, sie schätzte ihn als Anwalt und auch als Mensch hoch. Er war ein kleiner, grauhaariger Mann, mit einer leisen, ruhigen Stimme in der Kanzlei – im Gerichtssaal jedoch war sie voller Stärke und Durchsetzungskraft. Er hatte die Intensität und den Klang seiner Stimme immer unter Kontrolle. Von leisen Tönen bis zu eher lauten, er beherrschte sie meisterhaft. Wie ein Schauspieler akzentuierte er seine Worte und Sätze bei allen seinen Besprechungen und Prozessen ganz bewusst, um sie stets am besten zur Geltung zu bringen. Veronique hörte ihm bei Verhandlungen immer wieder mit Freude und Bewunderung zu. Er war, im Unterschied zu Dr.?Glenn, ein witziger, immer gut gelaunter Mann, der auch Interesse am Leben seiner Mitarbeiter zeigte.
Zurück in ihrem Büro legte sie den Inhalt der Tasche auf den Schreibtisch und sortierte akkurat alle Ordner und Papiere. Für den Rest des Vormittags war sie in die Akten vertieft, machte sich Notizen über Sachverhalte, die ihr nicht sofort klar waren, und schrieb offene Fragen auf. Die Scheidung des Ehepaares Bailey schien kein Problem zu sein. Da die Eheleute nach zwei Ehejahren zwei weitere Jahre schon getrennt lebten, waren die Voraussetzungen für eine Scheidung erfüllt. Aber die Abfindung, die Mariella Bailey verlangte, war enorm und ihr Noch-Ehemann Chris wollte die verlangte Summe nicht akzeptieren. Die Ehe des jungen, durchaus erfolgreichen Investmentbankers hatte nur vier Jahre angehalten und war kinderlos. Nun verlangte seine argentinische Frau acht Millionen Pfund Abfindung, für jedes Ehejahr satte zwei Millionen. Das war ungewöhnlich viel und der Geldbetrag war der Knackpunkt der Verhandlung. Chris Bailey war nicht bereit, diese Summe zu zahlen, und seine Frau drohte daher damit, ihn zu desavouieren. Sie wollte mit erfundenen und nicht gerechtfertigten Aussagen über seine angeblichen Affären an die Öffentlichkeit gehen, sollte sie das Geld nicht bekommen.
Veronique griff zum Telefon und wählte Chris Baileys Nummer. Sie brauchte mehr Informationen. Nach zweimaligen Klingeln meldete er sich.
»Guten Tag, Mr. Bailey. Ich heiße Veronique Morgan und bin die Assistentin von Dr.?Ashton. Wir benötigen noch zusätzliche Informationen zu Ihrem Prozess. Hätten Sie Zeit, noch heute in unsere Kanzlei zu kommen? Der Verhandlungstermin ist für den kommenden Dienstag angesetzt und da sind Punkte, die wir noch unbedingt besprechen müssen.«
Chris Bailey antwortete barsch, verlangte Dr.?Ashton und verhielt sich unkooperativ. Er habe keine Zeit mehr und schon alles gesagt und erklärt. Er sehe keinen Grund, nochmals in die Kanzlei zu kommen. Seine Kunden seien ihm wichtig und er müsse heute noch einiges für diese erledigen, teilte er Veronique mit.
»Und Ihre acht Millionen Pfund, die sie zahlen sollen, sind Ihnen nicht wichtig?«, fragte Veronique. Mit einer festen, angenehmen Stimme erklärte sie ihm, dass Dr.?Ashton abwesend war und sie ihn nun beim Gericht vertreten würde. Sie würde daher vor der Verhandlung gerne nochmal persönlich mit ihm als ihrem neuen Klienten reden und ein paar offene Fragen klären.
»Entschuldigen Sie bitte, Ms. Morgan, aber machen Sie Witze? Ich will den Prozess gewinnen, ich brauche Ashton! Wo ist er?«, fragte Bailey laut, ungeduldig und aufgeregt.
Veronique ging auf seine Frage nicht ein und versicherte ihm, dass er für den erfolgreichen Ausgang des Prozesses nochmals in die Kanzlei kommen müsse. Die verbleibende Zeit, die zur Verfügung stehe, sei kurz.
»Bitte, kommen Sie, wann immer es Ihnen passt, Mr. Bailey, aber noch heute. Ich warte auf Sie«, beendete sie ihre Erklärung. Er murmelte etwas und versprach, in einer Stunde in der Kanzlei zu sein.
Veronique nahm einen der dicken Ordner nochmals in die Hand. Sie musste unbedingt herausfinden, warum Mariellas Forderungen so hoch waren. Mit welcher Begründung erwartete sie eine so enorme Entschädigung? Was hatte er verbrochen?
Das Paar hatte sich in Paris kennengelernt und fünf Monate später geheiratet. Sie zogen nach London in seine Wohnung im Pinehurst Court, einer der besten Londoner Adressen. Veronique hatte begonnen, sich in einem auf dem Schreibtisch liegenden Block weitere Notizen zu machen. Sie wollte wissen, wie hoch sein Einkommen und sein Vermögen vor der Hochzeit waren und wie hoch die Beträge jetzt lagen. Was hatte Mariella in die Ehe gebracht? Aus was für einer Familie stammte sie? War womöglich eine außereheliche Beziehung auf einer oder auf beiden Seiten im Gange? War sein Job sauber? Gab es irgendetwas, das sie noch nicht wusste?
Das Telefon summte. »Mr. Bailey ist da, Ms. Morgan. Möchten Sie ihn in Ihrem Büro empfangen?«, fragte Ms. Brown.
»Ja, danke, Ms. Brown. Ich hole ihn ab, bin sofort bei Ihnen.« Sie machte ein bisschen Ordnung auf ihrem Schreibtisch und ging zum Sekretariat, um Mr. Bailey zu empfangen. Sie fand ihn mit gekreuzten Beinen in einem Sessel im Vorzimmer sitzend. Als sie das Zimmer betrat, blickte er sofort zu ihr und mit verengten Augen beobachtete er sie kurz prüfend. Dann stand er auf. Er war ein großgewachsener, breitschultriger Amerikaner, mit dunkelblonden, welligen Haaren und einem scharfen Blick. Veronique streckte ihm ihre Hand entgegen, begrüßte ihn und mit einem Lächeln bat sie ihn, ihr zu folgen. In ihrem Büro bot sie ihm einen bequemen Stuhl an und mit seinem Einverständnis nahm sie das Gespräch auf Tonband auf.
Zwei Stunden später wusste sie, dass Mariella aus einer wohlhabenden Familie aus Buenos Aires stammte. Ihr Vater machte Geschäfte mit Edelsteinen, vorwiegend in Brasilien, und Immobilien in Argentinien und spekulierte meist hoch. Die Finanz- und Immobilienkrise 2008 hatte ihn schwer getroffen, er hatte damals fast sein gesamtes Vermögen verloren. Die verwöhnte Mariella hatte daraufhin ihr Glück in Europa gesucht und 2012 Chris Bailey kennengelernt. Er war ein erfolgreicher Investmentbanker in London, wies profunde Kenntnisse über die Wirtschaftswelt auf und hatte rechtzeitig vor der Finanzkrise seine riskanten Investitionen heruntergeschraubt, war in weniger attraktiven Bereichen tätig geblieben, die jedoch sicherer gewesen waren, und hatte so die rauen Zeiten gut und ohne nennenswerte Verluste überstanden. Sehr bald hatte sich gezeigt, dass er, dank dieser Strategie, über genug freie finanzielle Reserven verfügte, um einige tief verschuldete, aber interessante Immobilien in den USA und in Europa zu kaufen. Er hatte sich nicht über die Bemerkungen seiner Kollegen vor der Krise geschert, die ihn als Feigling und Zögerer ausgelacht und später als gnadenlosen Profiteur angeprangert hatten. Doch er war seinen Weg gegangen. Und dieser war der richtige für ihn gewesen.
Er hatte die vierundzwanzigjährige Mariella bei einer Sonderveranstaltung im Musée d’Orsay im Mai 2012 kennengelernt. Eine hübsche, quirlige, dunkelhaarige, kleine Argentinierin, die ständig lachte und sehr gut tanzte. Er war entzückt gewesen, hatte sie von der ersten Minute an bewundert, sich in ihren Bann gezogen gefühlt. Die kommenden Monate hatten sie fast jede freie Stunde zusammen verbracht und im Oktober des gleichen Jahres in Buenos Aires geheiratet. Chris hatte die gesamten Kosten für die Hochzeit übernommen. Weit über hundert Gäste waren eingeladen gewesen und fast alle stammten von der Seite der Braut. Nur Chris’ Bruder Stan, seine Frau und Kinder und auch zwei seiner Kollegen aus Studienzeiten an der Stanford waren dabei gewesen. Sein Vater blieb dem Fest fern. Ein akutes, kurz vorher aufgetretenes Augenproblem verhinderte seine Reise zu der Hochzeit. Chris selbst hatte kein großes Fest gewollt, aber Mariella hatte auf eine elegante Hochzeit bestanden. Und nicht nur auf das. Sie wünschte sich auch exorbitant luxuriöse Flitterwochen in der Karibik, obwohl Chris viel lieber mit ihr in seine Heimat, Wyoming, gereist wäre. Sie liebte das Gefühl, zeigen zu können, dass sie ein besonderes Leben führen konnte. Als Kind und junge Frau war sie zu Hause verwöhnt und verhätschelt worden, weshalb sie die späteren finanzielle Verluste ihres Vaters erst nicht hatte wahrhaben wollen. Sobald sich diese aber deutlich bemerkbar gemacht hatten und nicht mehr leugnen ließen, hatte sie in dieser weder erwarteten noch gewollten Not sofort nach einem passenden Ehemann gesucht, der ihr ein sorgenfreies Leben ermöglichen sollte. Gefühle spielten bei ihr dabei eine untergeordnete Rolle. Dass der dreiunddreißigjährige Chris sich in sie verliebt hatte, hatte ihr geschmeichelt, aber sie hatte – laut Chris – nichts Ähnliches für ihn empfunden. Sie genoss die sonnige, sorgenfreie Seite des Lebens, die ihr durch die Heirat mit ihm wieder offenstand. Sie liebte Parties und Veranstaltungen aller Art, auf denen sie interessante Leute treffen konnte. Sie wollte immer im Mittelpunkt stehen, gab gerne an und machte alles, um auf gesellschaftlichen Anlässen die gesamte Aufmerksamkeit an sich zu reisen. Und sie flirtete hemmungslos. Dies kam in der Gesellschaft nicht immer gut an und bei Chris auch nicht. Oft war sie auch ohne Chris ausgegangen. Er arbeitete viel und ein intensives Sozialleben lag nicht unbedingt im Zentrum seiner Interessen. Aber für Mariella war ein solches Leben wichtig und Chris hatte versucht, sie, so oft es ihm möglich gewesen war, zu begleiten. Er war stolz auf seine hübsche, junge Frau gewesen, er hatte sich mit ihr auch zeigen wollen, er hatte mit ihr gern getanzt, ihr Geschenke gekauft und er hatte Kinder mit ihr gewollt. Nach zwei Ehejahren, die sie in London verbracht hatten, war Mariella für einige Monate allein nach Argentinien gereist. Sie hatte den Winter dort verbringen wollen. Als Chris zu Weihnachten dorthin gekommen war, war sie spürbar kalt und distanziert ihm gegenüber gewesen, geistig abwesend und ständig bei Verabredungen mit Freundinnen. Er war bei diesen Treffen nicht erwünscht gewesen. Als sie ein paar Mal nachts gar nicht nach Hause gekommen war und ihre Erklärungen windig gewesen waren, hatte er wissen wollen, was los war. Mariella hatte nur mit den Achseln gezuckt und versucht, ihn mit einigen durchsichtigen Lügen abzuspeisen. Chris hatte keinen Streit gewollt. Er hatte sich schlecht und allein gefühlt und er war es auch gewesen. Ihre Kälte, ihr reserviertes Verhalten und die offensichtlichen Lügen hatten ihm wehgetan.
Er hatte überlegt, noch vor Weihnachten nach London zu fliegen. Doch als Mariella seine Pläne erfahren hatte, hatte sie ihm eine filmreife Szene gemacht, ihn der Gleichgültigkeit, Gefühlskälte und einem Mangel an Interesse an ihrem Leben und fehlendem Respekt gegenüber ihrer Familie beschuldigt. Sie hatte über eine Ehekrise gesprochen und ihm vorgeworfen, dass er nicht den geringsten Willen hätte, ihre Eheprobleme zu lösen. Er war sich in London noch keiner Krise bewusst gewesen, hatte aber zugeben müssen, dass sich in Buenos Aires eine Kluft zwischen ihm und Mariella deutlich gemacht hatte. Deshalb hatte er sich schließlich doch dagegen entschieden, frühzeitig nach London zu fliegen. Aber die Weihnachtstage waren weiterhin voller Spannungen gewesen, Mariella hatte sich mehrmals die Augen trocken getupft, immer dann, wenn ihr Vater sie angeschaut hattte. Sie hatte die Leidende spielen wollen und Chris als einen gefühllosen Ehemann vorführen wollen. Ihre Mutter war zu ihrem Schwiegersohn distanziert gewesen und der Rest der Familie hatte ihn ignoriert. Den Ring mit einem großen gelben Diamanten, den sie als Weihnachtsgeschenk von Chris bekommen hatte, hatte Mariella achtlos auf den Kaminsims abgelegt, ohne ihn anzuprobieren oder zu tragen. Chris war zutiefst verletzt gewesen. Als er dies gezeigt hatte, hatte Mariella, die die Gekränkte spielte, die Situation genutzt und war ausgegangen. Chris hatte daraufhin seinen Rückflug auf den nächsten Tag umgebucht und einen Privatdetektiv engagiert.

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