Mahakalja

Mahakalja

2. Antonia & Antonio, Eusebio 3. Sorry, ich existiere auch …

Yvonne-Elizabeth Ray


EUR 23,90
EUR 14,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 640
ISBN: 978-3-99064-721-9
Erscheinungsdatum: 27.01.2020
Glück und Leid liegen oft nah beieinander und das Leben hält nicht nur schöne Momente bereit, sondern führt nicht selten auf verworrene Wege. Begeben Sie sich auf die Reise und tauchen Sie ein in die drei spannenden Lebensgeschichten.
MAHAKALJA
Der dornenvolle Weg zur Selbstfindung



1. Leben in Darjeeling

Wo imponierende Sonnenaufgänge in 2500 m in Tiger Hill die Landschaft verschönern … Der Glamour des altehrwürdigen Windamere Hotels seinen Charme verbreitet …Und aufgespießte Falter im Museum das Auge erfreuen … Darjeeling ist meine Heimatstadt und bedeutet Dorje Ling. Was so viel bedeutet wie „Ort des Donnerkeils“. Der Legende nach wurde der Ort von einem mystischen Donnerkeil getroffen - dem Zepter der Göttin Indra - das auf den heutigen „Observatory Hill“ fiel.
Im „Bengalischen Naturhistorischen Museum“ sind gegen 5000 ausgestopfte oder in Chloroform konservierte Tiere ausgestellt. Ein Eldorado. Es ist ein pikantes Vergnügen, die realitätsgetreuen Nachbildungen von Tigern, Eulen, Pandas, schwarzen Jaguaren, Bären, Hirschen, so quasi - die gesamte Fauna des Hochgebirges bewundern und bestaunen zu können. Wenn man in die gelben, grünen oder braunen Knopfaugen eines Tieres sieht, spürt man, wie es einen magisch fixiert. Bedrohliche Atmosphäre. Oder wenn man in Griffnähe eines Leoparden oder Tigers steht, glaubt man zu spüren, wie eine Pranke oder Pfote nach einem greift. Das sind gruselige und schauerliche Momente. - Da glotzen einen Hunderte von Kreaturen an. Und man fühlt sich ihnen ausgeliefert und nahe. Das Museum wurde von fanatischen, süchtig gelehrsamen Briten gegründet. Die bekannt waren als chronische und versessene „Schmetterlingsjäger“ - eine exzentrische Sucht. Die Engländer fingen herrliche und bunte Exemplare und spießten die toten Viecher auf blütenweißes Papier.Darjeeling ist schlechthin die Tee-Stadt im Norden von Bengalen. Früher war dieses Gebiet von einwandernden Gurkhas aus Nepal bewohnt. Auch die Menschen aus dem gebirgigen Bhutan siedelten in der Umgebung an. Die Stadt in Indien grenzt an Nepal und Bhutan. Es ist herrlich gelegen und ist wegen der klaren Bergluft und der imposanten sie umgebenden nahen Berge des stolzen Himalaja-Massivs touristisch sehr begehrt und weit herum bekannt. Menschen aus aller Welt pilgern in die reizvolle Hochland-Stadt. Ein faszinierender Zauber umgibt meine Heimatstadt, und ich bin stolz auf sie. Die Besucher schwelgen in der wechselvollen Geschichte der Stadt und schnüffeln eifrig in Geschichtsbüchern, um sich interessante Ausführungen und pikante Anekdoten der kriegerischen Konflikte zwischen Briten, Gurkhas aus Nepal und weiteren Bergvölkern anzueignen. Da gab es zuweilen heftige Kämpfe. Die Gurkhas waren hervorragende Krieger, mussten sich dann aber geschlagen geben. Die Briten gewannen die Oberhand, besiegten die tapferen Kämpfer und dominierten fortan das Hochland. Die Engländer erstellten wundervolle Kolonialbauten mit riesigen Veranden, um sich in der Nähe der gewaltigen Kulisse des Himalajas behaglich zu fühlen und die schneebedeckten, gigantischen Wolkenkratzer ausgiebig betrachten zu können - dabei die obligate Tasse Tee schlürfend. Diese Häuser existieren noch heute, zerbröckeln langsam, die Fassaden verwittern - so nagt der Zahn der Zeit. Sie vermitteln meinem Heimatort ein Flair von Nostalgie, ich liebe sie. Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich vor einem dieser uralten, ockerfarbenen Gebäude stehe und mir ausmale, wie die Menschen hier wohl gelebt haben.Die Engländer waren passionierte Wanderer und erstellten Wege und Wanderrouten. - Die Touristen lesen in ihrem „Bulletin“ über den Spielzeugzug. Es ist die legendäre Darjeeling-Himalaja-Bahn. Die Bahnlinie beginnt in Shiliguri. Es kommen fanatische Eisenbahnfreaks aus jeder Ecke des Globus angereist. Da ist der junge Mann aus Australien, die ältere Hausfrau aus Los Angeles oder der Rentner aus Madrid. Und frönen der gleichen Leidenschaft. Sie geben sich im Zug ein lustiges Stelldichein und fachsimpeln über die Eisenbahnen, wie andere Leute Käsesorten oder Schokoladen vergleichen.
Sie steigen in der Tiefebene in den Zug und lassen sich im Zickzack über gefährliche Kurven in die Höhe ziehen. Gerumpel und Ächzen begleitet ihre Fahrt. Und je mehr sie über dem Abgrund hängen - die Wagen aus den Geleisen zu kippen drohen -, umso höher schlägt ihr Herz. Es ist diese Passion des Eisenbahnfahrens. Ihre zusammengekniffenen Augen widerspiegeln ihre Begeisterung. Ich geselle mich zuweilen zu den Touristen, unterhalte mich mit ihnen, nur um ihre Mienen zu studieren und mich daran zu ergötzen. Vogelgezwitscher dröhnt aus den Wäldern und dringt an das Ohr, und wenn man Glück hat, kann man einen Schwarzbären erspähen. Der Zug schnauft den Berg hinan und gewährt spektakuläre Aussichten durch die Waggonfenster: schroffe Felswände, halsbrecherische Schluchten, Teeplantagen und die reich behängten Kokosnussbäume. Die Touristen filmen um die Wette und wollen jede Kleinigkeit, wie ein wildes Schaf, das blökend und baff den vorbeifahrenden Zug begleitet, auf der Kamera bannen. Die Touristen sind geschäftige Menschen: Sie klatschen fröhlich in die Hände, wenn die Dampflokomotive gemächlich hupt. Und auch mal kurz anhält, um weitere Passagiere aufzunehmen. Wie Trauben hängen einige junge Leute an der Tür auf dem Trittbrett und amüsieren sich mit lauten Schwätzereien furchtlos und mit wehendem Haar.Wenn ich den Teepflückerinnen zusehe, entsteht ein Bild voller Anmut und Poesie. Sie tragen ihre Körbe und pflücken routiniert die Teeblätter. Die vom Tee geschwängerte, köstliche Luft muss diesen Frauen behagen: Sie strahlen Zufriedenheit aus. Und ein flüchtiges Lächeln huscht über ihr Gesicht.Mein Vater besitzt ausgedehnte Teefelder. Er liebt es, mit seinem breitkrempigen Sonnenhut auf einer zartgrün gestrichenen Bank im Garten zu sitzen und sein Auge über die Felder bis zu den Respekt einflößenden und Macht gebietenden Bergen schweifen zu lassen. Er liest sich durch die Teebörsen-Tabellen und bengalischen und englischen Tageszeitungen; dazu trinkt er ein Tässchen mit dampfendem Tee. Er mag ihn stark gesüßt. Manchmal schleiche ich hinzu und werfe ihm noch einen Würfelzucker in den Tee. Er ist dann sehr verblüfft und lässt die immer gleiche Bemerkung fallen: „Aisha - die Küchenmagd - ist wohl verliebt und ist am zuckrigen Stängel hängen geblieben. Es ist mehr Zucker als Tee in meiner Tasse.“
Wie mag ich dieses Ritual, wie liebe ich es, wenn er so in seinem Tee rührt, eine Lesebrille auf der Nase und sich nichts entgehen lässt, was in den Zeitungen steht. Ich mache mich bemerkbar: „Papa, darf ich auch eine Tasse Tee haben? Ich leiste dir Gesellschaft.“ „Wenn du magst, Mahakalja, braucht dich Mutter nicht in der Küche?“ „Momentan nicht“, kommt es über meine Lippen. Ich will es auskosten, in der Nähe meines Vaters zu sein und bettle so um ein wenig Aufmerksamkeit. Hat er mich ausgiebig wahrgenommen, so habe ich mein Ziel erreicht und überlass’ ihn wieder seinen Zeitungen.
Um den Geschmack in seinem Tee etwas zu neutralisieren, liegen Knusperzeug und Salzkonfekt in einer Schale daneben. Vater ist ein patriarchalischer Mann in mittleren Jahren. Ein kecker Bauch sticht unter seinen Hosenträgern hervor und ziert seine stattliche Statur. Das verleiht ihm ein etwas herrisches Gepräge. Er trägt einen Kranz schwarzer Barthaare.Wenn er lacht, blitzen die Zähne aus seinem Gesicht - dekorativ aufgelockert mit zwei goldenen Zähnen. Vater ist wunderschön und stark gebräunt. Seine Haut hat den Schimmer von Samt. Er ist ein Edelmann. Auf seinem Kopf - unter dem obligaten Sonnenhut - hübsch versteckt schauen vorwitzig einige Strähnen schwarzes Haar hervor. - Er ist meist in einen Leinenanzug gekleidet. Auf der Brust prangt eine goldene Uhrenkette, so quasi sein Markenzeichen. Vater ist ein gestrenger und konsequenter Mann. Er ist auch in der lokalen Behörde tätig und zieht mit anderen Teepflanzern und Gesinnungsgenossen die Schnüre in der Politik und vor allem im Bildungswesen in Darjeeling und im weiteren Hochland. Herr Rajan - unser Familienname - hat einen Schulpavillon für die Kinder errichten lassen. Es ist ein hübscher Zweckbau, und die Kinder können hier die Grundstufe besuchen. Mein Vater hat eine humane Gesinnung. Und lebt sie aus. Er beschäftigt um die 50 Teepflückerinnen auf seinem Gelände. Es liegt ihm auch am Herzen, dass deren Kinder gefördert werden. Und er beobachtet die Sprösslinge genau.


2.

Darjeeling ist stark geprägt von der britischen Kolonialzeit. Unsere Familie fühlt sich wohl und wohnt gerne an diesem Ort: Die Luft ist sagenhaft rein, und die Menschen erscheinen mir noch unverdorben. Ich möchte die Kulisse mit dem gewaltigen Bergmassiv nicht missen. Von meinem Fenster aus ist der Blick frei und berührend; ich erklimme in Gedanken die Schneehänge.
Das Wandergebiet ist weit gefächert, die Engländer frönten in ihrer Freizeit dem Erkunden der Umgebung auf gut markierten Wegen und nahmen gerne Kind und Kegel auf ihre Abenteuer mit. Der Luftkurort ist auf einer Höhe von ca. 2000 m gelegen. Das passte den Europäern. Und wenn der Himmel zur Monsunzeit seine Schleusen öffnete, und der Regen niederzuprasseln begann, zogen die Regierungsbeamten mit dem gesamten Hofstaat in die erfrischende Höhe von Darjeeling. Es war eine Flucht vor der mit Feuchtigkeit gesättigten Luft und der Schwüle im tropischen Tiefland von Indien. In der Ebene war die Luft von den Monaten unerträglicher Hitze staubgeschwängert: Ein bestialisches und mörderisches Vibrieren der Hitze, die die Menschen zuweilen in Lethargie versinken ließ.Mein Heimatort ist leicht hügelig, und die Wege - mit den Lasten tragenden Menschen - wirken wie bunte Tupfer in der Landschaft, die ein Grün in allen Schattierungen hervorbringt. Ich hocke auf einem Wiesenbord und nehme die Farben auf: Da kann ich - je nach Lichteinfall - ein Grasgrün, Seegrün, Olivengrün, Flaschengrün oder ein symbolisches Hoffnungsgrün erkennen. Eine Symphonie in Farben. Vater hat mir eine Farbpalette auf meinen Schlafzimmertisch gelegt und mich ermuntert, die Felder in ihrem Facettenreichtum zu malen: Ich verbringe Stunden damit, einen Teebaum zu malen und präsentiere ihm dann mein Werk. Und studiere seinen Gesichtsausdruck genau und warte sehnsüchtig auf eine positive Reaktion. Er hat die Angewohnheit, meine Skizzen von allen Seiten zu bewundern, mich zu fixieren und schweigt. Erneut beäugt er die Zeichnungen und schenkt mir endlich die gewünschte Aufmerksamkeit. In diesen Augenblicken fühl’ ich mich meinem Vater sehr nah. Dann dringt ein Schalk durch seine Augen und er meint vielleicht mit seiner wohlklingenden, sonoren Stimme:
„Gut gemacht, Mahakalja. Übe weiter. Schau, dort, Maja, die Teepflückerin; versuche sie aufs Papier zu bannen.“
Mich fröstelt; hat er mich ernst genommen? Der Kommentar fiel so lapidar aus. Mein Vater kann Gedanken lesen und fährt fort: „Aus dir wird mal eine Künstlerin, Geschick zeigst du. Sehr gut. Sehr gut, Mahakalja.“
Das Lob bekräftigt mich und spornt mich an, weiter zu malen. Hinter unserem Haus liegt ein Teich, in dem prächtige Karpfen schwimmen. Auch bevölkern zwei junge Schwäne die Umgebung. Mutter holt manchmal einen Fisch aus dem Wasser und lässt ihn in der schwarzen Pfanne brutzeln. Der mundet hervorragend.Meine Mutter ist ein häuslicher Mensch. Sie kocht mit Leidenschaft und präpariert die herrlichsten Gerichte. Wir mögen Fladenbrot, Kokosnuss-Leckereien und ihre feinen Eintopfgerichte: Sie kocht auch himmlisch scharfen Curry mit Huhn. Dafür bereitet sie eine spezielle Gewürzmischung aus Curcuma, Curry, Kardamom, Chilischoten her. Dazu serviert sie in kleinen Porzellanschälchen Trockenreis. - Natürlich trinken wir Tee dazu. Ich habe vier Brüder: Tushar, Subhas, Shiklas und Narajan und eine kleine Schwester: Mina. Die Brüder verbringen die meiste Zeit in einem Internat in der Nähe von Kalkutta. Der Älteste arbeitet in der „Bank of India“ und ist in Mumbai ansässig. Ich gehe beinahe täglich auf den Markt. Ich habe einen eigenen Stand und verkaufe Mangos, Kokosnüsse, Litschisund Jackfrüchte. Wir nennen die Jackfrucht auch „Katal“. Die Litschis mit ihrem köstlichen weißen Fleisch lege ich in mächtige Körbe. Darum schichte ich die fleischigen und honiggelben Mangos auf. Die Kokosnüsse mit ihrer harten, knorrigen Schale prangen an den Enden meines Stands.Richte ihn immer pittoresk her. Lege Blätter dazwischen. Schaue, dass die Früchte farblich aufeinander abgestimmt sind. Verwende Zeit dafür. Es ist eine Arbeit, die ich Mutter abnehme. Und sie hat mir eingeprägt: „Die frischen Früchte sind ein fröhlicher Blickfang und appetitlich aufgeschichtet, Mahakalja.“
Ich ziehe immer meine Tracht an mit einem überdimensionalen Hut. Meine Wangen sind leicht gerötet, und den Lippen gebe ich einen frechen, purpurroten Strich. Mein schwarzes Haar steckt meine Mutter mit Nadeln hoch. Es thront dann wie eine kecke Pyramide unter meinem Sonnenhut. So bin ich immer ein beliebtes Fotomotiv für die zahlreichen Touristen, die sich auf dem Markt einfinden. Sie knipsen mich wohlwollend und stecken mir auch mal eine Rupie zu, die ich fröhlich einem Bettlerkind weitergebe. Ich rede neben Bengali ganz passabel Englisch. Ein paar Worte Deutsch und Italienisch habe ich auch aufgeschnappt. So ergeben sich oft lustige Gespräche. Und die Touristen sind stolz, sich so schön mit einer Einheimischen unterhalten zu können: Touristen sind eigenartige Leute: Ich frage mich oft, was es ihnen nutzt, wenn sie mich zehnfach in ihrer Kamera festgehalten haben und mir eine Münze schenken. Spaß? Möglich. Sie wollen ja ein tolles Ferienerlebnis mit nach Hause nehmen. Oder dass sie in die Rolle des Wohltäters schlüpfen, wenn sie zwei Mangos bezahlen, ohne sie mitzunehmen. Ich bin präsentabel genug, und habe Freude, wenn ich posieren darf. Gestern habe ich eine junge Europäerin, die mich immer und immer wieder geknipst hat, darauf angesprochen. Sie betrachtete mich von oben nach unten, studierte einen Augenblick und meinte dann: „Ich knipse für mein Erinnerungsalbum, mache keine tiefschürfenden Überlegungen. Einfach so.“
„Das sagen sie richtig. Ich bin immer erstaunt, wie die Leute teure Kameras mit sich schleppen, um Alltagsszenen zu fotografieren.“„Die Kamera ist das Arbeitsutensil des Touristen - gehört zu ihm. Oh, ich bin mir im Klaren, dass Touristen eine lächerliche Spezies darstellen - ich denke genau wie sie. Aber das Reisen beflügelt nun mal den Menschen.“
„Ja, kostspielig ist es auch.“
„Das stimmt. Oh, ich muss weiter, verliere meine Gruppe. Alles Gute.“Die junge Frau geht weg. Sie hat mir gefallen. Ich überleg’ mal - wie viel Geld investiert wird, um diese Filme zu entwickeln.


3.

Ich bin 22 Jahre alt. Hin und wieder schaut mein Freund Jhantu vorbei. Er ist ein ruhiger und intelligenter Bursche. Seine Eltern sind ebenfalls Besitzer einer immensen Teeplantage und des „Grand Hotel“. Wenn er gut drauf ist, Lust hat auf ein Späßchen, neckt er mich damit und zupft an meinen Haaren. „Hey, Mahakalja - wir betreiben insgesamt eine Teeplantage. Tönt doch gut?“ Mir steht der Sinn weniger nach solchen Ausrutschern. Ziehe mich dann in mich zusammen und schweige. Jhantu wird dann immer sehr zutraulich, ist sich im Klaren, dass er da in ein „seelisches Fettnäpfchen“ getreten ist: Für mich hat der Tee oberste Priorität, ist beinahe eine Lebensphilosophie für mich, und ich vertrage heitere Bemerkungen darüber, die ins Obszöne abrutschen, nur schlecht.
Das „Grand Hotel“ ist ein zusammen geschachtelter, uralter Bau, dessen Fassaden leicht bröckeln und mit lustigen Türmchen verziert ist: Zwiebelförmig und liebenswert. Das Haus entstammt den Anfängen der Kolonialzeit.
Die Familie von Jhantu hat darin die Trocknungsanlage für die aromatischen Teeblätter untergebracht. Emsige Arbeiter sortieren die Blätter; ihre Hände haben eine bräunliche Tönung angenommen und die Finger sind leicht gekrümmt. Die obere Etage wird bewohnt: Violette, durchgesessene Plüschsofas, die auch schon bessere Zeiten gesehen haben, stehen herum. Und eine adrette, verstaubte Decke ziert den Intarsien-Tisch mit löwenähnlichen Motiven. Das Herzstück des Raums bildet eine wundervolle Vitrine, aus der kunterbunte Dinge aus längst vergangenen Zeiten lachen. Der Blickfang sind zwei ausgestopfte Äffchen mit bunten Spielbällen, die einen aus glasigen Augen anglotzen.
Und nur die Triebe und die beiden jüngsten Blätter werden verwendet und während mehreren Stunden auf dem Rost sanft hingelegt und durch Ventilatoren luftgetrocknet. Weltweit gilt der Tee aus Darjeeling als qualitativ hochstehend und teuer. Die Teesorten tragen wunderschön poetisch klingende Namen, wie: „Golden Broken“ oder „Flowery Orange“. Wir hocken auf einem der Sofas, Jhantu nimmt ein Buch aus dem Regal, legt es mir auf die Knie, und wir blättern eine Seite nach der anderen um: „Da, betrachte die urtümliche Teepflanze. Das ist unser Reichtum.“ „Ja, sie wurde aus China reingeschmuggelt.“ „Mahakalja, die aromatischen und duftenden Teegärten sind ein Erbe der Briten.“ „Klar, Jhantu, es ist das Pendant zur europäischen Rebe - eben orientalisch.“ „Oh, meinst du? Ein etwas holpriger Vergleich.“ „Jhantu, man sollte im Tourismus tätig sein, unser Wohnort hat eine magische Anziehungskraft und lockt Touristen aus aller Welt an.“
„Jaja, Mahakalja - und es ist ein Schmelztiegel vielfältiger Einflüsse: So sieht man schlitzäugige Menschen aus dem Bhutan und der Mongolei - rotbackige Nepalesen - Tibeter mit flachen Wangen und natürlich die wunderschönen und tiefbraunen Menschen aus Bengalen.“
„Jhantu, und all’ diese Menschen strahlen Tiefgründigkeit aus, das macht sie so besonders. Die Mannigfaltigkeit der Ethnien spannt sich wie ein nuancenreicher und eindrücklicher Regenbogen über die Gebirgslandschaft.“
„Schön gesagt, Mahakalja.“
„Jahntu, ich liebe diese Gegend unendlich. Der Markt bietet ein Eldorado, um diese Menschentypen zu studieren. Und die Touristen knipsen gierig ihre Filme leer.“
„Du siehst die Touristen als Störfaktoren?“
„Ach - das kann man nicht sagen. Sie sind freundlich und bringen Devisen. Ich finde sie nur allesamt lachhaft in ihrer Gier, das Authentische zu fotografieren und mit sich nach Hause zu transportieren. Und wir posieren wie Kamele im Zirkus.“
„Gut, da wird unserer Eitelkeit hofiert.“
„Ja, wenn du meinst, Jhantu.“
Mein Freund ist lernbegierig und absolviert betriebswirtschaftliche Studien; er hat ein Flair für Kräuterkunde. Wir stecken die Köpfe stundenlang in Botanik-Bücher und streifen durch die Teehaine und in abgelegene Täler, um seltene Sorten ausfindig zu machen.1835 wurde Darjeeling gegründet. Es wurden terrassierte Häusergruppen angelegt, die untereinander mit schmalen Treppen verbunden sind. Als Kinder sind wir die Treppen rauf und runter gesprungen, bis wir bleierne Knochen bekamen und uns alle Glieder wehtaten. Einmal purzelte ich fünfzig Stiegen hinunter und blieb just vor der schmutzigen Schnauze eines wedelnden, halb verhungerten Hundes liegen. Er schleckte mich ab und war sichtlich erstaunt ob der wimmernden Beute, die sich von Schmerzen geplagt vor ihm krümmte. Ich hatte Glück. Ein Arm war gebrochen, und das war auch schon alles. Ich biss auf die Zähne. Der Köter war mir sympathisch, und ich trug ihn auf dem gesunden Arm nach Hause. Meine Mutter ist nicht erschrocken ob meines struppigen Aussehens; sie schenkte mir einen gütigen Blick aus ihren weisen, dunklen Augen. Zusammen mit dem Findling wurde ich ausgiebig gewaschen. Der Arzt wurde aufgeboten, eilte herbei und bandagierte meinen gebrochenen Arm. Von nun an blieb der Hund - ich nannte ihn „Gatu“, bei mir und wurde ein anhänglicher und zuverlässiger Freund. Er begleitete mich wie selbstverständlich überallhin und entwickelte sich zu einem Prachttier: Gatu hat eine rötlich-braune Haut und eine elegant geschwungene Schnauze. Wir sind unzertrennliche Freunde geworden.

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