Herr Lehrer, sind Sie traurig?

Herr Lehrer, sind Sie traurig?

Band 1

Martin Herzig


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 474
ISBN: 978-3-99064-508-6
Erscheinungsdatum: 04.03.2019

Leseprobe:

Eine andere Enttäuschung war das Herbarium. Im ersten Frühling erhielten wir den Auftrag, während eines Jahres Blumen zu sammeln, zu trocknen und zu beschriften. Dreißig Arten wurden verlangt. Am Schluss musste man das Herbarium vorlegen und erhielt eine Note. Ich besprach die Aufgabe mit dem Großvater. „Wann und wo suchst du die Pflanzen, wo trocknest du sie?“, wollte er wissen. Ich berichtete von den Exkursionen im Eiltempo und der Presse unter dem Pult mit den dicksten Büchern als Last und Zeitungen als Zwischenlage. „Das gefällt mir nicht, das gibt nichts Rechtes. Suche sie hier an den Sonntagen. Ich komme mit. Wir sammeln ums Haus, im Feld, im Längwald und am Jurahang. Da bringen wir die dreißig mit Leichtigkeit zusammen. Zum Trocknen nehmen wir meine Kopierpresse. Und als Zwischenlagen schneiden wir alte, unbedruckte Tapeten in A4-Blätter“, schlug er vor. Ich führte noch an, dass die meisten meiner Kollegen die fertigen Herbarblätter einzeln oder als Sammlung den Seminaristen der oberen Klasse abkauften. Besonders gelungene Exemplare seien schon jahrelang im Umlauf. Der Großvater schüttelte langsam den schweren Kopf: „Das ist dumm! Sie lernen nichts dabei. Sie empfinden auch nicht die Freude der Entdeckung. Du machst es ja für dich und nicht nur für die Note. Dazu ist es Betrug.“ So kam es, dass wir an den Sonntagen auszogen, ich mit Feldstecher und Botanisierbüchse behängt, der Großvater mit seinem Fotoapparat. Er tat, als wäre ich der Führer. Aber er wollte nur, dass ich die Blumen entdeckte, und leitete mich geschickt den besten Jagdgründen zu. Wenn ich eine Blume entdeckte und freudig stehen blieb, musste ich niederknien und den Boden betasten und die benachbarten Pflanzen anschauen. Zu Hause legten wir die Blumen auf den Esstisch. Ich notierte in einem alten Jahreskalender, was mir der Großvater erklärte: Gänseblümchen, Maßliebchen, Bellidiastrum, auch Margritli genannt, Weide im Steinacker. Oder: Veilchen, Viola calcarata, magerer Rasen mit Geröll, Waldenalp. Oder: Steinnelke, Fluehfriesli, Felsbänder auf der Leenfluh.
Als ich an einem abgelegenen Waldrand ein paar schöne, rote Blumen entdeckte und mich bereit machte zum Pflücken, befahl der Großvater: „Halt! Die lassen wir stehen. Es ist das Rote Waldvögelein, sehr selten. Ich mache ein Foto und du klebst es statt der Blume ein.“ Freudig erwartete ich den Tag, wo man das Herbarium abgeben musste. Der Direktor rief einen Namen und der betreffende Botaniker ging mit seinem Werk zum Lehrerpult. Je nachdem, wie fleißig er bei den Obern eingekauft hatte, begleitete ihn ein verhaltenes Getuschel. Der große Moment kam: „Freudiger!“ Stolz legte ich die Sammlung, die mir viele unvergessliche Erlebnisse geschenkt hatte, vor den Lehrer. Er blätterte, hielt an, drehte weitere Seiten und kam zu den Fotos des Waldvögeleins. Hier hielt er inne und hob den Kopf: „Was soll das! Ich will Pflanzen sehen, nicht Fotos. Sie waren zu faul und dachten, ich sähe den Betrug nicht. Gibt eine Drei!“ Ich wankte an den Platz und kämpfte gegen die Tränen. Sie mussten warten, bis spät abends alle Zimmergenossen schliefen. Kurt neben mir erwachte von meinem gepressten Schluchzen und flüsterte: „Was ist passiert?“ Er war in der B-Klasse und wusste nichts von meinem missratenen Herbarium. Leise erzählte ich, wie ich mit dem Großvater einen ganzen Sommer lang gesammelt hatte und wie der Direktor urteilte. „Das musst du deinem Großvater melden. Morgen nach dem Mittagessen gehen wir nach Münchenbuchsee. Vor der Post ist eine Telefonzelle“, sagte Kurt eindringlich. Am nächsten Mittag begleitete mich Kurt zur Telefonzelle. Der Großvater hörte zu, ließ mich wiederholen, was der Direktor zu den Fotos gesagt hatte, und befahl, ruhig meine Arbeit zu machen. Das war am Dienstag. Am Donnerstag stand plötzlich Herr Lindgren in der Turnhalle, wo wir mit den Reckstangen, Barrenholmen und dem Pferd kämpften, und ging zu Herrn Horle. Sie sprachen kurz miteinander, dann winkte mich der Turnlehrer zu sich: „Sie müssen mit Herrn Lindgren zum Direktor!“ Während mir durch den Kopf sauste, ich würde wegen schlechter Noten und des vermeintlichen Betruges mit dem Waldvögelein aus dem Seminar gewiesen, ging ich neben dem Aufsichtslehrer zum Büro. Ich fühlte mich wie ein Verbrecher, der abgeführt wurde. Herr Direktor Schreyer stand am Fenster. Er drehte sich um, wies meinen Aufpasser höflich hinaus und sagte: „Setzen Sie sich.“ Er wartete, bis ich mich auf dem äußersten Rand des Stuhles niedergelassen hatte, und nahm seinen Platz auf dem Ledersessel ein. Vom Tisch nahm er zwei Papierbogen, schaute hinein, legte sie wieder hin und schaute mich an: „Freudiger, hier ist ein Brief Ihres Großvaters, per Eilpost ist er gekommen. Darin schreibt er, wie Sie die Blumen gesammelt haben. Er schreibt auch, wie es zu den Fotos kam. Ich wäre genau gleich vorgegangen. Das Waldvögelein sollte längst geschützt sein. Alle Achtung! Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Sie sind nicht wie andere, die mich betrügen. Sie bekommen eine Fünfeinhalb. Und jetzt kommen Sie hier ans Telefon, rufen zu Hause an und geben einen Bericht ab. Kommen Sie!“ Er schritt steif hinaus und ich wählte mit zitternden Fingern die Nummer.
Auch Turnlehrer Emil „Miggu“ Horle bewegte sich in straffer Haltung und schaute ernst, fast besorgt über die Klasse, wenn wir uns in zwei Reihen aufstellten. Aber die vielen Fältchen um die Augen waren jederzeit bereit, ein Lächeln anzuzeigen oder einen anfeuernden Zuruf zu begleiten. Er turnte nie mit, zeigte keine Übungen an den Geräten und schoss im Handball, wo er früher Nationaltrainer war, nicht aufs Tor. Aber er beschrieb die Bewegungen, die Schritte und die Körperstellung so anschaulich, dass man glaubte, einen Lehrfilm zu sehen. Als unser bester Leichtathlet Kurt im Hochsprung die Latte immer höher legen ließ und endlich scheiterte, ermunterte ihn Miggu zu einem völlig neuen Stil. Er beschrieb den Ablauf eines Rollers, wo der Körper statt aufrecht waagrecht über der Latte schwebte, mit dem Bauch nach unten. Nach wenigen Versuchen gelang der Sprung und am Turntag stellte Kurt damit einen neuen Seminarrekord auf. Als junger Lehrer erlitt Kurt einen schweren Unfall. Er fuhr mit seinem Motorrad in den unbeleuchteten Graswagen eines Bauern. Wochenlang lag er in einem Streckbett. Sein starker Wille und die Freude am Sport erlaubten ihm später die Ausbildung zum Turnlehrer. Er fand seine Lebensstelle in Hofwil. Wie sein Vorbild Emil Horle plagten ihn in späteren Jahren die steifen Hüften, doch mit Worten und Gesten lehrte er seine Mädchen und Jünglinge einen neuen Hochsprung-Stil: den Rückwärtsflop. Unser Miggu freute sich über jeden Fortschritt, vor allem bei Schülern, die nicht zu den Sportgrößen zählten. Einmal senkte sich ein Bogenball, ungelenk geworfen von Walter Grob, hinter Torhüter Dietrich ins Tor. Verblüfft schaute Walter dem Ball nach. Miggu aber schrie begeistert: „Bravo, Gröbli, das hast du fein gemacht!“ In solchen Momenten vergaß unser Lehrer das vorgeschriebene „Sie“ und rief uns mit „Du“ an, wie es bei Sportlern üblich ist. Um eine Vollstelle zu gewährleisten, wurde Herr Horle zur Übernahme des Grammatikunterrichtes im Französisch verknurrt. Ergeben führte er uns anhand eines Leitfadens in die Geheimnisse von „Verbes français irréguliers, formation du pluriel des noms et des adjectifs“ und andere Fertigkeiten ein. Geduldig hörte er zu, wenn wir schwierige Verben aufsagten, und schaute dazwischen sehnsüchtig hinaus in die Freiheit der Landschaft oder spitzte die Ohren, weil im Hof ein Ball aufsprang. Viele Stunden lang übten wir das Einsetzen von indicatif oder subjonctif. Weil Ueli die Grammatik perfekt beherrschte, baten wir ihn, uns während einer Probe mit einem Zeichen anzugeben, wann wir den subjonctif schreiben mussten, also statt j’avais que j’eusse oder statt il sait qu’il sache. Herr Horle pflegte Sätze zu diktieren und dabei das Verb in der Grundform zu lassen, damit wir die richtige Form suchen mussten. „Also, beim subjonctif werde ich husten“, sagte Ueli lachend. Die Probe begann. Erster Satz, zweiter Satz, dritter Satz, immer noch kein Husten. Besorgt schielten wir zum Souffleur. Der vierte Satz kam, die Grundform des Verbs - und ein leichtes Hüsteln vertrieb unsere Sorgen. Nach dem vierten oder fünften subjonctif geschah etwas Unerwartetes. Herr Horle wandte sich mit gerunzelter Stirn an Ueli: „Friedli, machen Sie etwas gegen Ihre Erkältung. Wir brauchen Sie am Samstag!“ Ueli spielte als gewandter Stürmer in der Handballelf des Seminars. Uns stockte der Atem, aber Ueli führte seine Mission zu Ende, wobei er den Husten zu einem Räuspern drosselte. Später haben wir oft diskutiert, ob Miggu den Trick bemerkt hatte, denn in der nächsten Stunde ließ er die korrigierten Proben austeilen und bemerkte lächelnd: „Das haben Sie gut gelernt, nur weiter so!“
Auch andere Lehrer bleiben mir unvergesslich. Der Pianist, Dirigent und Komponist Hermann Indermühle versuchte mit einer unglaublichen Geduld, völlig unmusikalische Zöglinge so weit zu fördern, dass sie ein Lied anständig singen konnten. Bei Walter Günthard, einem rothaarigen, gutmütigen Seminaristen, gelang das erst nach vielen Übungen. So stellte sich Mutsch, wie Herr Indermühle genannt wurde, vor den ergeben neben dem Klavier stehenden Schüler und sang, immer im gleichen Ton, dem A: „Versuchen Sie, meinen Ton abzunehmen, aaaaaa…aaaaa.“ Walter holte tief Atem und hauchte mit zitternder Stimme ein B.“ „Noch einmal, bleiben Sie ganz ruhig, atmen sie fest aus, wenig ein, fühlen Sie meinen Ton, aaaa!“ Diesmal plärrte Walter ein Fis. Unser Singlehrer hatte entdeckt, dass ich das absolute Gehör besaß. Ich wusste nicht, dass dies eine besondere Fähigkeit war. Ich wusste nur, dass ich jeden beliebigen Ton summen konnte und jedes Lied mit dem richtigen Ton anstimmte. Herr Indermühle prüfte mich mit vielen Tönen, die er sagte. Ich summte sie und er wiederholte den Ton auf dem Klavier. Es stimmte immer. Jetzt sagte er: „In welchem Zimmer wohnen Sie?“ Erstaunt antwortete ich: „In der Nummer Sieben.“ „Und Herr Günthard?“ „In der Sechs.“ „Gut, dann sind Sie ja Nachbarn. Gehen Sie jeden Tag hinüber und üben mit Ihrem Kollegen, zuerst auf A und dann auch auf anderen Tönen. Vielleicht können Sie ihm helfen. Als zukünftiger Primarlehrer sollte er mit seiner Klasse auch ein paar Lieder singen können.“ Meine Besuche und Übungen wurden für die acht Zimmergenossen von Walter rasch eine willkommene Abwechslung vom langweiligen Lernen. Mein Zögling ließ sich von der munteren Stimmung anstecken und näherte sich dem vorgesummten Ton immer mehr. Die Kameraden erfanden ein neues Spiel: Sie machten eine Bemerkung, wie etwa „Charly, schließe das Fenster“, oder „Kann mir einer diese Gleichung erklären.“ Statt im normalen Sprechton sangen sie den Satz, aber immer nur auf einem Ton. Ohne Aufforderung sang Walter den Satz nach und wurde gelobt, wenn er nicht zu weit daneben lag. Ernst, der Katholik war, sagte, er wähne sich fast in der Messe. Als Walter zum ersten Mal den vorgesungenen Ton des Singlehrers traf, strahlte dieser so, als hätte er soeben erfolgreich dem Seminarchor Schuberts „Heilig ist der Herr“ dirigiert. Unser Kamerad durfte seinen Schülern nur wenige Jahre lang Lieder beibringen, weil er früh schon sterben musste.
Auch den Geigenlehrer Erich Füri sehe ich vor mir, wie er vor seinen drei Zöglingen in einer engen Klavierzelle steht und die Lektion mit einem wundervoll gespielten Ausschnitt aus einem seiner klassischen Konzerte beginnt. Meine Mitspieler Alois und Bernhard waren Anfänger. Sie waren zuerst an der Reihe und kratzten mühsam ihre „Alle meine Entelein …“ und „Ringe Ringe Reihe, sind der Kinder dreie …“ Herr Füri begleitete die heiseren Töne mit Grimassen und rief mit letzter Kraft: „Genug! Gehen Sie jeder in eine Zelle und üben Sie. Hoffentlich gibt es hier im Dachstock keine Mäuse. Die armen Viecher müssten schnell eine neue Heimat suchen. Und - Alois, wiegen Sie sich nicht wie ein Eisbär hinter dem Gitter hin und her. Los jetzt!“ Er öffnete die Dachluke, atmete tief ein und klagte: „Die zwei werden es nie lernen. Wir beginnen mit den Etüden und dann arbeiten wir weiter an unserem Mozart.“ Ich nahm Vaters Geige aus dem Kasten und machte mich bereit.
Im zweiten Hofwilerjahr ließ uns ein Ereignis alle Sorgen mit Noten und Lehrern vergessen. Im alten Seminargebäude summte es wie in einem Bienenhaus. In den Schlafsälen, vor den Lektionen im Klassenzimmer, gedämpfter beim Essen, überall steckten die Zöglinge die Köpfe zusammen und plauderten aufgeregt oder tuschelten mit glänzenden Augen. Aber es stand kein Zeugnis bevor und auch kein Turntag. Das kommende Ereignis galt nicht nur dem Geist oder den Muskeln. Es ging viel tiefer, mitten ins Herz, denn ein Treffen mit den gleichaltrigen Seminaristinnen des Seminars Marzili stand bevor. Fragen flogen hin und her: Was zieht ihr an? Könnt ihr tanzen? Müssen wir ein Geschenk mitbringen? Was sagt man einem Mädchen, das einem gefällt? Nachts wurde eifrig geflüstert: Kann man sie küssen? Wie macht man das? Muss man sie dabei festhalten? Werner aus der B, schon ein Mann, er war ja einige Jahre älter als wir, rief eine Schülerversammlung ein. An der Tafel stand das Programm: Seminargebäude Marzili 14 bis 17Uhr, Tanz, Unterhaltung und Imbiss. Werner hielt eine kleine Ansprache: „Wir kleiden uns sonntäglich. Als Geschenk bringt jeder eine Tafel Schokolade mit. Diese legen wir auf einem Tischchen aus und die Mädchen können sich bedienen. Sie verlangen eine Namenliste. Ich werde eine erstellen und sie schicken. Unser Schülerorchester bringt ein Ständchen dar. Jörg wird mit euch ein Stück auswählen und üben. Jeder von uns wird mit einem Zweizeiler vorgestellt. Ich mache es für unsere Klasse. Wer macht es für die A?“ „Der Freudiger!“, riefen einige. „Gewählt“, nickte Werner und ohne weitere Namen abzuwarten, hielt es der Präsident in seinem Schreibblock fest. In unserem Zimmer wurde der schmale Gang zwischen den Schreibtischen und den Betten zum Ballsaal erhoben. Stets gesichert durch einen Spion vor der Tür, wurde geübt. Die Sitzenden gaben durch gedämpftes Klatschen den Takt an und die Paare stampften dazu einen unbeholfenen Reigen. „Wie hält man die Frau?“, hieß es, und „Wie weiß man, in welcher Richtung man sich drehen muss?“ Paul, der zwei ältere Schwestern hatte, wirkte als Tanzlehrer. Wenn der Aufpasser hereinstürzte, rannte man an seinen Platz und beugte sich über die Bücher und Hefte. Meistens erschien dann Herr Lindgren. „Ich habe ein Geklatsche gehört. Gräub, geben Sie Auskunft!“ „Ja, das war so“, berichtete Gräub mit sorgenvollem Gesicht, „ich habe Freudiger eine Mathematikaufgabe gestellt und er hat die Lösung gefunden. Darauf haben alle geklatscht.“ „Da hätte ich auch mitgeholfen“, bekannte der Lehrer, „machen Sie weiter, aber ohne Beifall.“ Es bedrückte mich, dass ich nicht tanzen konnte. Ich hatte ja nur als Knabe mit Johanna vor der Alphütte getanzt und die in unserem Zimmer vorgeführten Tänze waren mir fremd. Aber noch vielmehr beschäftigte mich das Vorstellen von 24 Seminaristen mit je zwei Zeilen, die sich reimten. Deshalb saß ich am Samstag nach der Versammlung schon nach dem Mittagessen in der Kanzel am Moossee, ein Übungsheft mit Bleistift vor mir auf der Brüstung der Luke und begann: Aebi Ulrich. Was wusste ich über ihn? Er war ein ruhiger, unauffälliger Schüler. Halt! Im Handball griff er als bulliger Verteidiger die anrennenden Stürmer wie ein wild gewordener Büffel an und wurde vom Turnlehrer ermahnt. Ich begann zu schreiben: „Im Handball isch der Ueli e Büffu.
Der Miggu git em drum e Rüffu.“
Weiter zu René Aeschlimann. Er startete in der Saison jeden Sonntag an einem Orientierungslauf und heimste schon erste Siege ein. Also:
„Der René isch im Wald es Ass,
will im OL ne füehrt der Recta-Kompass.“
Noch etwas holprig wirkten die Verse, aber ich würde sie noch ausfeilen.
Und jetzt René Ammann. Trotz allem Nachdenken fiel mir noch nichts ein. Unauffällig tat er seine Pflicht und wir waren alle erstaunt, als es nach einigen Jahren hieß, er sei jetzt erfolgreicher Psychologe. Und unauffällig blieb er bis zum Tag, als man von seinem frühen Tod hörte. Also vorläufig weiter zu Hanspeter Baumer. Hier musste ich nicht suchen, weil er die Liste der Strafarbeit mit großem Abstand anführte. Die meisten Strafstunden wurden ihm wegen des verbotenen Fußballs aufgebrummt. Die Buchhaltung ging so: Wer eine reine Weste besaß, war Soldat. Die erste Strafstunde beförderte ihn zum Korporal und die nächste zum Wachtmeister. So stieg der Sträfling weiter auf bis zum General. Baumer war gegenwärtig Adjutant zweiten Grades, weil er nach der Ernennung zum General wegen weiterer Missetaten wieder als Soldat begonnen hatte. Unter mir glitt ein prächtiger Stockentenerpel in seiner Paradeuniform über den glänzenden Seespiegel, scheu gefolgt vom Weibchen in seinem schlichten Kleid. Ich schrieb:
„Em Baumer sys Strofkonto isch genial:
Scho gly isch är Zwöistärngeneral.“
Und jetzt unser Bernhard Bigler, Star im Sport und eifriger Besucher von Theater und Konzerten. Auf ein Gesuch hin erhielt man vom Direktor die Erlaubnis für den Besuch eines kulturellen Anlasses. Bernhard und unsere Musiker Jörg Ewald und Hans-Heinz nutzten diese Gelegenheit am fleißigsten. Aber während die Musiker Beethovens neunter Sinfonie oder Figaros Hochzeit lauschten, saß Bernhard in der Revolverküche, wie man das Kino Forum nannte, das vor allem Westernfilme vorführte. Bernhard fühlte sich hier wie im Wilden Westen. Als Lehrer hielt er sich später ein Pferd und galt als treffsicherer Pistolenschütze. Trotzdem wusste er Bescheid über das kulturelle Geschehen in der Bundesstadt. Er musste dem Direktor manchmal einen Bericht erstatten vom Besuch des Schwanensees oder des Othello, und um gewappnet zu sein, studierte er die Zeitungsberichte über diese Aufführungen. Ohne mich zu besinnen schrieb ich:
„Der Cowboy Bigler gieng em beschte,
go wyterstudiere im Wilde Weschte.“
Auch bei Gerhard Bracher brauchte man nicht zu suchen. Er war immer der Letzte, sei es auf dem Bahnsteig vor Abfahrt des Zuges, beim Antreten zum Essen oder zu Beginn der Lektionen. Ganz von selbst schrieb der Bleistift die Worte:
„E Sekunde bevor der Lehrer seit ‚Setze!‘
Chunt no üse Geru z’hetze.“
Als die Schatten der Eschen das Wasser verdunkelten, packte ich zusammen. Noch fehlten einige Zweizeiler. Beim Aufstieg durch die Wiesen zum Seminar begann sich der Reim über Alois Heller zu formen:
„Der Löisu luegt zu allne guet,
wie d Gluggere zu ihrer Bruet.“
Als unser Promotionspräsident betreut uns Lois bis heute. Er organisiert Zusammenkünfte und zieht den beschlossenen Beitrag ein. Seine schwierigste Aufgabe ist das Aufbieten zum Begräbnis eines Kameraden. Die weiteren Verse fielen mir ein bei Soll und Haben in der Buchhaltungsstunde, bei der Schilderung von Intrigen am Hofe Ludwigs XVII., am Esstisch mitten im Geschwätz, vor dem Einschlafen und auf dem WC. Weil ich am Ball die Verse selber vortragen musste, stieg ich am folgenden Samstag wieder auf die Kanzel und rief den Enten und Seerosen meine Verse zu. Dabei verdiente das Bauwerk seinen Namen „Kanzel“ endgültig.
Der große Tag kam. Nach einem endlosen Vormittag mit Französisch, Deutsch, Planimetrie und Biologie und einem Mittagessen mit einer Rede von Herrn Lindgren, wo er uns für den Anlass zu einem ritterlichen Benehmen aufrief, stürmten wir in die Zimmer und verwandelten uns mit viel Gelächter und lustigen Ratschlägen in junge Herren. Weil ich mich gestreckt hatte, rückten die Ärmel den Ellenbogen näher und die Hosenstöße den Waden. „Hosenklammern zum Radfahren brauchst du nicht mehr“, meinte Ruedi lachend. Paul band mir einen großen Krawattenknopf und Kurt schob mir ein weißes Nastuch so in die obere Rocktasche, dass nur die Spitze herausguckte. Während eine frohe Schar dem Bahnhof zuwanderte, packte ich meine Geige in den Rucksack. Gemütlich radelte ich dann mit Bernhard der Stadt zu. Hoch über der grünen Aare näherten wir uns dem Gewirr von Dächern und Türmen. Am Bahnhof vorbei, mitten durch Scharen von Menschen und ganzen Kolonnen von Autos, erreichten wir den Bubenbergplatz. Auf seinem Sockel begrüßte uns der Ritter, Schultheiss und Kriegsheld Adrian von Bubenberg, die linke Hand leicht gehoben, die rechte fest am Knauf eines gewaltigen Schwertes. Ich sah unseren Geschichtslehrer vor uns, wie er mit vor Erregung zitternden Lippen das Losungswort des Helden von Murten rief: „Solange in uns eine Ader lebt, gibt keiner nach.“ Gewandt meisterten wir die Abfahrt ins Marzili. Je näher das Seminargebäude kam, umso banger wurde mir.

Eine andere Enttäuschung war das Herbarium. Im ersten Frühling erhielten wir den Auftrag, während eines Jahres Blumen zu sammeln, zu trocknen und zu beschriften. Dreißig Arten wurden verlangt. Am Schluss musste man das Herbarium vorlegen und erhielt eine Note. Ich besprach die Aufgabe mit dem Großvater. „Wann und wo suchst du die Pflanzen, wo trocknest du sie?“, wollte er wissen. Ich berichtete von den Exkursionen im Eiltempo und der Presse unter dem Pult mit den dicksten Büchern als Last und Zeitungen als Zwischenlage. „Das gefällt mir nicht, das gibt nichts Rechtes. Suche sie hier an den Sonntagen. Ich komme mit. Wir sammeln ums Haus, im Feld, im Längwald und am Jurahang. Da bringen wir die dreißig mit Leichtigkeit zusammen. Zum Trocknen nehmen wir meine Kopierpresse. Und als Zwischenlagen schneiden wir alte, unbedruckte Tapeten in A4-Blätter“, schlug er vor. Ich führte noch an, dass die meisten meiner Kollegen die fertigen Herbarblätter einzeln oder als Sammlung den Seminaristen der oberen Klasse abkauften. Besonders gelungene Exemplare seien schon jahrelang im Umlauf. Der Großvater schüttelte langsam den schweren Kopf: „Das ist dumm! Sie lernen nichts dabei. Sie empfinden auch nicht die Freude der Entdeckung. Du machst es ja für dich und nicht nur für die Note. Dazu ist es Betrug.“ So kam es, dass wir an den Sonntagen auszogen, ich mit Feldstecher und Botanisierbüchse behängt, der Großvater mit seinem Fotoapparat. Er tat, als wäre ich der Führer. Aber er wollte nur, dass ich die Blumen entdeckte, und leitete mich geschickt den besten Jagdgründen zu. Wenn ich eine Blume entdeckte und freudig stehen blieb, musste ich niederknien und den Boden betasten und die benachbarten Pflanzen anschauen. Zu Hause legten wir die Blumen auf den Esstisch. Ich notierte in einem alten Jahreskalender, was mir der Großvater erklärte: Gänseblümchen, Maßliebchen, Bellidiastrum, auch Margritli genannt, Weide im Steinacker. Oder: Veilchen, Viola calcarata, magerer Rasen mit Geröll, Waldenalp. Oder: Steinnelke, Fluehfriesli, Felsbänder auf der Leenfluh.
Als ich an einem abgelegenen Waldrand ein paar schöne, rote Blumen entdeckte und mich bereit machte zum Pflücken, befahl der Großvater: „Halt! Die lassen wir stehen. Es ist das Rote Waldvögelein, sehr selten. Ich mache ein Foto und du klebst es statt der Blume ein.“ Freudig erwartete ich den Tag, wo man das Herbarium abgeben musste. Der Direktor rief einen Namen und der betreffende Botaniker ging mit seinem Werk zum Lehrerpult. Je nachdem, wie fleißig er bei den Obern eingekauft hatte, begleitete ihn ein verhaltenes Getuschel. Der große Moment kam: „Freudiger!“ Stolz legte ich die Sammlung, die mir viele unvergessliche Erlebnisse geschenkt hatte, vor den Lehrer. Er blätterte, hielt an, drehte weitere Seiten und kam zu den Fotos des Waldvögeleins. Hier hielt er inne und hob den Kopf: „Was soll das! Ich will Pflanzen sehen, nicht Fotos. Sie waren zu faul und dachten, ich sähe den Betrug nicht. Gibt eine Drei!“ Ich wankte an den Platz und kämpfte gegen die Tränen. Sie mussten warten, bis spät abends alle Zimmergenossen schliefen. Kurt neben mir erwachte von meinem gepressten Schluchzen und flüsterte: „Was ist passiert?“ Er war in der B-Klasse und wusste nichts von meinem missratenen Herbarium. Leise erzählte ich, wie ich mit dem Großvater einen ganzen Sommer lang gesammelt hatte und wie der Direktor urteilte. „Das musst du deinem Großvater melden. Morgen nach dem Mittagessen gehen wir nach Münchenbuchsee. Vor der Post ist eine Telefonzelle“, sagte Kurt eindringlich. Am nächsten Mittag begleitete mich Kurt zur Telefonzelle. Der Großvater hörte zu, ließ mich wiederholen, was der Direktor zu den Fotos gesagt hatte, und befahl, ruhig meine Arbeit zu machen. Das war am Dienstag. Am Donnerstag stand plötzlich Herr Lindgren in der Turnhalle, wo wir mit den Reckstangen, Barrenholmen und dem Pferd kämpften, und ging zu Herrn Horle. Sie sprachen kurz miteinander, dann winkte mich der Turnlehrer zu sich: „Sie müssen mit Herrn Lindgren zum Direktor!“ Während mir durch den Kopf sauste, ich würde wegen schlechter Noten und des vermeintlichen Betruges mit dem Waldvögelein aus dem Seminar gewiesen, ging ich neben dem Aufsichtslehrer zum Büro. Ich fühlte mich wie ein Verbrecher, der abgeführt wurde. Herr Direktor Schreyer stand am Fenster. Er drehte sich um, wies meinen Aufpasser höflich hinaus und sagte: „Setzen Sie sich.“ Er wartete, bis ich mich auf dem äußersten Rand des Stuhles niedergelassen hatte, und nahm seinen Platz auf dem Ledersessel ein. Vom Tisch nahm er zwei Papierbogen, schaute hinein, legte sie wieder hin und schaute mich an: „Freudiger, hier ist ein Brief Ihres Großvaters, per Eilpost ist er gekommen. Darin schreibt er, wie Sie die Blumen gesammelt haben. Er schreibt auch, wie es zu den Fotos kam. Ich wäre genau gleich vorgegangen. Das Waldvögelein sollte längst geschützt sein. Alle Achtung! Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Sie sind nicht wie andere, die mich betrügen. Sie bekommen eine Fünfeinhalb. Und jetzt kommen Sie hier ans Telefon, rufen zu Hause an und geben einen Bericht ab. Kommen Sie!“ Er schritt steif hinaus und ich wählte mit zitternden Fingern die Nummer.
Auch Turnlehrer Emil „Miggu“ Horle bewegte sich in straffer Haltung und schaute ernst, fast besorgt über die Klasse, wenn wir uns in zwei Reihen aufstellten. Aber die vielen Fältchen um die Augen waren jederzeit bereit, ein Lächeln anzuzeigen oder einen anfeuernden Zuruf zu begleiten. Er turnte nie mit, zeigte keine Übungen an den Geräten und schoss im Handball, wo er früher Nationaltrainer war, nicht aufs Tor. Aber er beschrieb die Bewegungen, die Schritte und die Körperstellung so anschaulich, dass man glaubte, einen Lehrfilm zu sehen. Als unser bester Leichtathlet Kurt im Hochsprung die Latte immer höher legen ließ und endlich scheiterte, ermunterte ihn Miggu zu einem völlig neuen Stil. Er beschrieb den Ablauf eines Rollers, wo der Körper statt aufrecht waagrecht über der Latte schwebte, mit dem Bauch nach unten. Nach wenigen Versuchen gelang der Sprung und am Turntag stellte Kurt damit einen neuen Seminarrekord auf. Als junger Lehrer erlitt Kurt einen schweren Unfall. Er fuhr mit seinem Motorrad in den unbeleuchteten Graswagen eines Bauern. Wochenlang lag er in einem Streckbett. Sein starker Wille und die Freude am Sport erlaubten ihm später die Ausbildung zum Turnlehrer. Er fand seine Lebensstelle in Hofwil. Wie sein Vorbild Emil Horle plagten ihn in späteren Jahren die steifen Hüften, doch mit Worten und Gesten lehrte er seine Mädchen und Jünglinge einen neuen Hochsprung-Stil: den Rückwärtsflop. Unser Miggu freute sich über jeden Fortschritt, vor allem bei Schülern, die nicht zu den Sportgrößen zählten. Einmal senkte sich ein Bogenball, ungelenk geworfen von Walter Grob, hinter Torhüter Dietrich ins Tor. Verblüfft schaute Walter dem Ball nach. Miggu aber schrie begeistert: „Bravo, Gröbli, das hast du fein gemacht!“ In solchen Momenten vergaß unser Lehrer das vorgeschriebene „Sie“ und rief uns mit „Du“ an, wie es bei Sportlern üblich ist. Um eine Vollstelle zu gewährleisten, wurde Herr Horle zur Übernahme des Grammatikunterrichtes im Französisch verknurrt. Ergeben führte er uns anhand eines Leitfadens in die Geheimnisse von „Verbes français irréguliers, formation du pluriel des noms et des adjectifs“ und andere Fertigkeiten ein. Geduldig hörte er zu, wenn wir schwierige Verben aufsagten, und schaute dazwischen sehnsüchtig hinaus in die Freiheit der Landschaft oder spitzte die Ohren, weil im Hof ein Ball aufsprang. Viele Stunden lang übten wir das Einsetzen von indicatif oder subjonctif. Weil Ueli die Grammatik perfekt beherrschte, baten wir ihn, uns während einer Probe mit einem Zeichen anzugeben, wann wir den subjonctif schreiben mussten, also statt j’avais que j’eusse oder statt il sait qu’il sache. Herr Horle pflegte Sätze zu diktieren und dabei das Verb in der Grundform zu lassen, damit wir die richtige Form suchen mussten. „Also, beim subjonctif werde ich husten“, sagte Ueli lachend. Die Probe begann. Erster Satz, zweiter Satz, dritter Satz, immer noch kein Husten. Besorgt schielten wir zum Souffleur. Der vierte Satz kam, die Grundform des Verbs - und ein leichtes Hüsteln vertrieb unsere Sorgen. Nach dem vierten oder fünften subjonctif geschah etwas Unerwartetes. Herr Horle wandte sich mit gerunzelter Stirn an Ueli: „Friedli, machen Sie etwas gegen Ihre Erkältung. Wir brauchen Sie am Samstag!“ Ueli spielte als gewandter Stürmer in der Handballelf des Seminars. Uns stockte der Atem, aber Ueli führte seine Mission zu Ende, wobei er den Husten zu einem Räuspern drosselte. Später haben wir oft diskutiert, ob Miggu den Trick bemerkt hatte, denn in der nächsten Stunde ließ er die korrigierten Proben austeilen und bemerkte lächelnd: „Das haben Sie gut gelernt, nur weiter so!“
Auch andere Lehrer bleiben mir unvergesslich. Der Pianist, Dirigent und Komponist Hermann Indermühle versuchte mit einer unglaublichen Geduld, völlig unmusikalische Zöglinge so weit zu fördern, dass sie ein Lied anständig singen konnten. Bei Walter Günthard, einem rothaarigen, gutmütigen Seminaristen, gelang das erst nach vielen Übungen. So stellte sich Mutsch, wie Herr Indermühle genannt wurde, vor den ergeben neben dem Klavier stehenden Schüler und sang, immer im gleichen Ton, dem A: „Versuchen Sie, meinen Ton abzunehmen, aaaaaa…aaaaa.“ Walter holte tief Atem und hauchte mit zitternder Stimme ein B.“ „Noch einmal, bleiben Sie ganz ruhig, atmen sie fest aus, wenig ein, fühlen Sie meinen Ton, aaaa!“ Diesmal plärrte Walter ein Fis. Unser Singlehrer hatte entdeckt, dass ich das absolute Gehör besaß. Ich wusste nicht, dass dies eine besondere Fähigkeit war. Ich wusste nur, dass ich jeden beliebigen Ton summen konnte und jedes Lied mit dem richtigen Ton anstimmte. Herr Indermühle prüfte mich mit vielen Tönen, die er sagte. Ich summte sie und er wiederholte den Ton auf dem Klavier. Es stimmte immer. Jetzt sagte er: „In welchem Zimmer wohnen Sie?“ Erstaunt antwortete ich: „In der Nummer Sieben.“ „Und Herr Günthard?“ „In der Sechs.“ „Gut, dann sind Sie ja Nachbarn. Gehen Sie jeden Tag hinüber und üben mit Ihrem Kollegen, zuerst auf A und dann auch auf anderen Tönen. Vielleicht können Sie ihm helfen. Als zukünftiger Primarlehrer sollte er mit seiner Klasse auch ein paar Lieder singen können.“ Meine Besuche und Übungen wurden für die acht Zimmergenossen von Walter rasch eine willkommene Abwechslung vom langweiligen Lernen. Mein Zögling ließ sich von der munteren Stimmung anstecken und näherte sich dem vorgesummten Ton immer mehr. Die Kameraden erfanden ein neues Spiel: Sie machten eine Bemerkung, wie etwa „Charly, schließe das Fenster“, oder „Kann mir einer diese Gleichung erklären.“ Statt im normalen Sprechton sangen sie den Satz, aber immer nur auf einem Ton. Ohne Aufforderung sang Walter den Satz nach und wurde gelobt, wenn er nicht zu weit daneben lag. Ernst, der Katholik war, sagte, er wähne sich fast in der Messe. Als Walter zum ersten Mal den vorgesungenen Ton des Singlehrers traf, strahlte dieser so, als hätte er soeben erfolgreich dem Seminarchor Schuberts „Heilig ist der Herr“ dirigiert. Unser Kamerad durfte seinen Schülern nur wenige Jahre lang Lieder beibringen, weil er früh schon sterben musste.
Auch den Geigenlehrer Erich Füri sehe ich vor mir, wie er vor seinen drei Zöglingen in einer engen Klavierzelle steht und die Lektion mit einem wundervoll gespielten Ausschnitt aus einem seiner klassischen Konzerte beginnt. Meine Mitspieler Alois und Bernhard waren Anfänger. Sie waren zuerst an der Reihe und kratzten mühsam ihre „Alle meine Entelein …“ und „Ringe Ringe Reihe, sind der Kinder dreie …“ Herr Füri begleitete die heiseren Töne mit Grimassen und rief mit letzter Kraft: „Genug! Gehen Sie jeder in eine Zelle und üben Sie. Hoffentlich gibt es hier im Dachstock keine Mäuse. Die armen Viecher müssten schnell eine neue Heimat suchen. Und - Alois, wiegen Sie sich nicht wie ein Eisbär hinter dem Gitter hin und her. Los jetzt!“ Er öffnete die Dachluke, atmete tief ein und klagte: „Die zwei werden es nie lernen. Wir beginnen mit den Etüden und dann arbeiten wir weiter an unserem Mozart.“ Ich nahm Vaters Geige aus dem Kasten und machte mich bereit.
Im zweiten Hofwilerjahr ließ uns ein Ereignis alle Sorgen mit Noten und Lehrern vergessen. Im alten Seminargebäude summte es wie in einem Bienenhaus. In den Schlafsälen, vor den Lektionen im Klassenzimmer, gedämpfter beim Essen, überall steckten die Zöglinge die Köpfe zusammen und plauderten aufgeregt oder tuschelten mit glänzenden Augen. Aber es stand kein Zeugnis bevor und auch kein Turntag. Das kommende Ereignis galt nicht nur dem Geist oder den Muskeln. Es ging viel tiefer, mitten ins Herz, denn ein Treffen mit den gleichaltrigen Seminaristinnen des Seminars Marzili stand bevor. Fragen flogen hin und her: Was zieht ihr an? Könnt ihr tanzen? Müssen wir ein Geschenk mitbringen? Was sagt man einem Mädchen, das einem gefällt? Nachts wurde eifrig geflüstert: Kann man sie küssen? Wie macht man das? Muss man sie dabei festhalten? Werner aus der B, schon ein Mann, er war ja einige Jahre älter als wir, rief eine Schülerversammlung ein. An der Tafel stand das Programm: Seminargebäude Marzili 14 bis 17Uhr, Tanz, Unterhaltung und Imbiss. Werner hielt eine kleine Ansprache: „Wir kleiden uns sonntäglich. Als Geschenk bringt jeder eine Tafel Schokolade mit. Diese legen wir auf einem Tischchen aus und die Mädchen können sich bedienen. Sie verlangen eine Namenliste. Ich werde eine erstellen und sie schicken. Unser Schülerorchester bringt ein Ständchen dar. Jörg wird mit euch ein Stück auswählen und üben. Jeder von uns wird mit einem Zweizeiler vorgestellt. Ich mache es für unsere Klasse. Wer macht es für die A?“ „Der Freudiger!“, riefen einige. „Gewählt“, nickte Werner und ohne weitere Namen abzuwarten, hielt es der Präsident in seinem Schreibblock fest. In unserem Zimmer wurde der schmale Gang zwischen den Schreibtischen und den Betten zum Ballsaal erhoben. Stets gesichert durch einen Spion vor der Tür, wurde geübt. Die Sitzenden gaben durch gedämpftes Klatschen den Takt an und die Paare stampften dazu einen unbeholfenen Reigen. „Wie hält man die Frau?“, hieß es, und „Wie weiß man, in welcher Richtung man sich drehen muss?“ Paul, der zwei ältere Schwestern hatte, wirkte als Tanzlehrer. Wenn der Aufpasser hereinstürzte, rannte man an seinen Platz und beugte sich über die Bücher und Hefte. Meistens erschien dann Herr Lindgren. „Ich habe ein Geklatsche gehört. Gräub, geben Sie Auskunft!“ „Ja, das war so“, berichtete Gräub mit sorgenvollem Gesicht, „ich habe Freudiger eine Mathematikaufgabe gestellt und er hat die Lösung gefunden. Darauf haben alle geklatscht.“ „Da hätte ich auch mitgeholfen“, bekannte der Lehrer, „machen Sie weiter, aber ohne Beifall.“ Es bedrückte mich, dass ich nicht tanzen konnte. Ich hatte ja nur als Knabe mit Johanna vor der Alphütte getanzt und die in unserem Zimmer vorgeführten Tänze waren mir fremd. Aber noch vielmehr beschäftigte mich das Vorstellen von 24 Seminaristen mit je zwei Zeilen, die sich reimten. Deshalb saß ich am Samstag nach der Versammlung schon nach dem Mittagessen in der Kanzel am Moossee, ein Übungsheft mit Bleistift vor mir auf der Brüstung der Luke und begann: Aebi Ulrich. Was wusste ich über ihn? Er war ein ruhiger, unauffälliger Schüler. Halt! Im Handball griff er als bulliger Verteidiger die anrennenden Stürmer wie ein wild gewordener Büffel an und wurde vom Turnlehrer ermahnt. Ich begann zu schreiben: „Im Handball isch der Ueli e Büffu.
Der Miggu git em drum e Rüffu.“
Weiter zu René Aeschlimann. Er startete in der Saison jeden Sonntag an einem Orientierungslauf und heimste schon erste Siege ein. Also:
„Der René isch im Wald es Ass,
will im OL ne füehrt der Recta-Kompass.“
Noch etwas holprig wirkten die Verse, aber ich würde sie noch ausfeilen.
Und jetzt René Ammann. Trotz allem Nachdenken fiel mir noch nichts ein. Unauffällig tat er seine Pflicht und wir waren alle erstaunt, als es nach einigen Jahren hieß, er sei jetzt erfolgreicher Psychologe. Und unauffällig blieb er bis zum Tag, als man von seinem frühen Tod hörte. Also vorläufig weiter zu Hanspeter Baumer. Hier musste ich nicht suchen, weil er die Liste der Strafarbeit mit großem Abstand anführte. Die meisten Strafstunden wurden ihm wegen des verbotenen Fußballs aufgebrummt. Die Buchhaltung ging so: Wer eine reine Weste besaß, war Soldat. Die erste Strafstunde beförderte ihn zum Korporal und die nächste zum Wachtmeister. So stieg der Sträfling weiter auf bis zum General. Baumer war gegenwärtig Adjutant zweiten Grades, weil er nach der Ernennung zum General wegen weiterer Missetaten wieder als Soldat begonnen hatte. Unter mir glitt ein prächtiger Stockentenerpel in seiner Paradeuniform über den glänzenden Seespiegel, scheu gefolgt vom Weibchen in seinem schlichten Kleid. Ich schrieb:
„Em Baumer sys Strofkonto isch genial:
Scho gly isch är Zwöistärngeneral.“
Und jetzt unser Bernhard Bigler, Star im Sport und eifriger Besucher von Theater und Konzerten. Auf ein Gesuch hin erhielt man vom Direktor die Erlaubnis für den Besuch eines kulturellen Anlasses. Bernhard und unsere Musiker Jörg Ewald und Hans-Heinz nutzten diese Gelegenheit am fleißigsten. Aber während die Musiker Beethovens neunter Sinfonie oder Figaros Hochzeit lauschten, saß Bernhard in der Revolverküche, wie man das Kino Forum nannte, das vor allem Westernfilme vorführte. Bernhard fühlte sich hier wie im Wilden Westen. Als Lehrer hielt er sich später ein Pferd und galt als treffsicherer Pistolenschütze. Trotzdem wusste er Bescheid über das kulturelle Geschehen in der Bundesstadt. Er musste dem Direktor manchmal einen Bericht erstatten vom Besuch des Schwanensees oder des Othello, und um gewappnet zu sein, studierte er die Zeitungsberichte über diese Aufführungen. Ohne mich zu besinnen schrieb ich:
„Der Cowboy Bigler gieng em beschte,
go wyterstudiere im Wilde Weschte.“
Auch bei Gerhard Bracher brauchte man nicht zu suchen. Er war immer der Letzte, sei es auf dem Bahnsteig vor Abfahrt des Zuges, beim Antreten zum Essen oder zu Beginn der Lektionen. Ganz von selbst schrieb der Bleistift die Worte:
„E Sekunde bevor der Lehrer seit ‚Setze!‘
Chunt no üse Geru z’hetze.“
Als die Schatten der Eschen das Wasser verdunkelten, packte ich zusammen. Noch fehlten einige Zweizeiler. Beim Aufstieg durch die Wiesen zum Seminar begann sich der Reim über Alois Heller zu formen:
„Der Löisu luegt zu allne guet,
wie d Gluggere zu ihrer Bruet.“
Als unser Promotionspräsident betreut uns Lois bis heute. Er organisiert Zusammenkünfte und zieht den beschlossenen Beitrag ein. Seine schwierigste Aufgabe ist das Aufbieten zum Begräbnis eines Kameraden. Die weiteren Verse fielen mir ein bei Soll und Haben in der Buchhaltungsstunde, bei der Schilderung von Intrigen am Hofe Ludwigs XVII., am Esstisch mitten im Geschwätz, vor dem Einschlafen und auf dem WC. Weil ich am Ball die Verse selber vortragen musste, stieg ich am folgenden Samstag wieder auf die Kanzel und rief den Enten und Seerosen meine Verse zu. Dabei verdiente das Bauwerk seinen Namen „Kanzel“ endgültig.
Der große Tag kam. Nach einem endlosen Vormittag mit Französisch, Deutsch, Planimetrie und Biologie und einem Mittagessen mit einer Rede von Herrn Lindgren, wo er uns für den Anlass zu einem ritterlichen Benehmen aufrief, stürmten wir in die Zimmer und verwandelten uns mit viel Gelächter und lustigen Ratschlägen in junge Herren. Weil ich mich gestreckt hatte, rückten die Ärmel den Ellenbogen näher und die Hosenstöße den Waden. „Hosenklammern zum Radfahren brauchst du nicht mehr“, meinte Ruedi lachend. Paul band mir einen großen Krawattenknopf und Kurt schob mir ein weißes Nastuch so in die obere Rocktasche, dass nur die Spitze herausguckte. Während eine frohe Schar dem Bahnhof zuwanderte, packte ich meine Geige in den Rucksack. Gemütlich radelte ich dann mit Bernhard der Stadt zu. Hoch über der grünen Aare näherten wir uns dem Gewirr von Dächern und Türmen. Am Bahnhof vorbei, mitten durch Scharen von Menschen und ganzen Kolonnen von Autos, erreichten wir den Bubenbergplatz. Auf seinem Sockel begrüßte uns der Ritter, Schultheiss und Kriegsheld Adrian von Bubenberg, die linke Hand leicht gehoben, die rechte fest am Knauf eines gewaltigen Schwertes. Ich sah unseren Geschichtslehrer vor uns, wie er mit vor Erregung zitternden Lippen das Losungswort des Helden von Murten rief: „Solange in uns eine Ader lebt, gibt keiner nach.“ Gewandt meisterten wir die Abfahrt ins Marzili. Je näher das Seminargebäude kam, umso banger wurde mir.

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