Flügelschlag eines Engels

Flügelschlag eines Engels

Annette Spillner-Kucharz


EUR 13,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 78
ISBN: 978-3-99003-183-4
Erscheinungsdatum: 23.09.2010
Die Suche nach sich selbst und dem Sinn des Lebens führt eine junge Frau in eine alte Villa, in der sich einst Unglaubliches zugetragen hat ...Mit ihrem Erstlingsroman beleuchtet die Autorin unter anderem religiöse Ereignisse und beschreibt die Menschen in ihrem Hochmut und mitsamt ihren Ängsten in einem sensibel verfassten seelisch tiefgehenden Roman.
1.
„Hast du gewusst, dass die Lotosblüte rot ist?“, fragt Daniel. „Nein, ich habe noch nie eine gesehen.“ „Ich auch nicht, aber meine Lotosblüte ist rot.“ Daniel neigt leicht seinen Kopf und schaut mich an. Es ist dieser seltsame Blick, nicht hier und doch da. Er fühlt meine Anwesenheit, aber seine Wahrnehmung geht weiter, er ist unterwegs.
Zeit vergeht, ich spüre, dass sie verrinnt, aber ich schwimme nicht mit. Die Zeit ist ein Teil von mir, aber ich bin mehr, ich umarme sie wie ein kleines Kind, sie kann in mir umherhüpfen, total aufdrehen, aber ich sitze ruhig da und breite meine Flügel über ihr aus – Ewigkeit. Was kümmert mich der Stress, die kleinen Sorgen, das sogenannte Leben? Ich bin da, einfach da.
Ich schaue hinüber aufs andere Ufer: Häuser, Berge, Lichter. Warmer Sommerwind kommt herüber und streift mich. Ich atme ihn ein und spüre seine Zartheit – Flügelschlag eines Engels.
Es wird langsam dunkel und ich hole ein Teelicht hervor. Das Streichholz ist noch gar nicht ganz entbrannt, da verlischt die Flamme auch schon wieder. Selbst dem leichten Windhauch, der über den See herüberweht, hält sie nicht stand. Ein zartes Geschöpf.
„Kennst du die Geschichte von dem jungen Mann, der wissen will, wie lange er noch lebt? Er wird zu seiner Lebenskerze geführt, die nur noch ganz kurz ist und im nächsten Augenblick verlischt sie.“ „Ja, ich kenne die Geschichte.“ Nach einigen neuen Versuchen gelingt es mir endlich, das Teelicht zum Brennen zu bringen. Daniel hält seine Hände schützend um die Flamme. Ich grabe ein Loch in den steinigen Strand und er stellt die Kerze hinein. Trotzdem flackert sie so, als könnte sie jeden Moment ausgehen. Ich fange an, Steine um das Loch zu bauen, so dass das Teelicht wie am Boden eines Brunnens steht. Endlich steht die Flamme still und verbreitet ruhig ihr Licht. Ewige Sekunden lasse ich mich in diese Stimmung ziehen.
Daniel hat die ganze Zeit lächelnd zugeschaut und nun sitzen wir beide da und sehen aufs Wasser. Als ich für einen Moment die Augen schließe, habe ich das Gefühl, dass er ganz dicht neben mir sitzt, ich spüre seinen Oberarm an meinem, Wärme strahlt herüber. Ein Blick neben mich zeigt, dass ich mich getäuscht habe und er unverändert einen Meter entfernt von mir sitzt. Dass ich mich getäuscht habe? Hat mein Blick mich getäuscht oder mein Gefühl? Daniel schaut mich an, als wüsste er, was in mir vorgeht. Langsam steht er auf und setzt sich neben mich, Oberarm an Oberarm. Aber es fühlt sich ganz anders an, es ist nicht dasselbe, und unwillkürlich rutsche ich ein Stück weg. So weit weg, bis ich seine Nähe wieder spüren kann. Ich schließe die Augen und er ist wieder da.
„Hast du Frieda mal wieder gesehen?“, fragt Daniel nach unzähligen Momenten. „Nein, das ist schon lange her. Sie hat mir einen Abschiedsbrief geschrieben, damals. Ich sei immer noch der König und hätte das Sagen.“ „Das stimmt.“ Ich schaue Daniel fragend an. „Jeder von uns hat einen König, dem er gehorcht. Aber nur derjenige, den wir als König anerkennen, wird uns dienen. Da sind wir frei.“ Diese Worte klingen in mir nach und ich denke an damals. Ein großes liebevolles Gefühl erfüllt mich und alles ist gut.
In diesem Moment beginnt ein Feuerwerk auf der anderen Seite des Sees. Unwirklich, keiner von uns hat damit gerechnet. Staunend wie die Kinder schauen wir hinüber, minutenlang. Die Schweizer begehen im August ihren Nationalfeiertag, habe ich irgendwann später erfahren. Langsam ebben die Feuerspiele ab, noch einmal und noch einmal – dann ist Stille. Rauch liegt über den Lichtern.
Ich lege mich auf den Rücken und bette meinen Kopf auf die Arme. Der Blick nach oben geht ins Endlose. Es wird kälter und ich bin froh, dass ich meine Jacke angezogen habe. Sternenklar, unendlich viele Lichter am andern Ufer dort oben. Auf einmal ein Schweif. Eine Sternschnuppe? Während ich darüber nachdenke, noch eine und noch eine. Gespannt schaue ich auf der Jagd nach der nächsten. Fantastisch! Ein Feuerwerk der anderen Art. Mir kommt in den Sinn, dass man sich ja etwas wünschen kann, da fällt erneut eine Sternschnuppe. Was soll ich mir denn wünschen? Mir geht so vieles durch den Kopf, doch im nächsten Augenblick erscheint es mir schon unwichtig. So hangle ich mich von Wunsch zu Wunsch, bis ich schließlich wieder in meiner Gegenwart angelangt bin. Leere. Was füllt mich? Ich schaue hinüber. „Daniel?“

2.
Die S-Bahn, Menschen, Gesichter. Wo bin ich? Ich schaue aus dem Fenster. Die Sonne geht auf. Nein, so früh bin ich nicht unterwegs. Aber der Berg dort drüben ist hoch genug, dass nur ein paar Strahlen hinübergelangen, bis sich Sekunden später das volle Licht gegen mich ergießt. Blindheit für ein paar Augenblicke.
„Jesus liebt Dich.“ „Jesus ist für Dich gestorben.“ Irgendjemand hat diese Schilder drucken lassen und gut sichtbar neben den Gleisen aufgestellt. Warum? Wie können sie sich ihrer Sache so sicher sein? Steht das irgendwo, hat es ihnen jemand gepredigt? Sie stellen ihn hier einfach zur Schau, machen ihn zum Gespött. „Komm doch herunter, wenn du kannst!“, höre ich die Leute sagen. Sie lieben ihn nicht, sie wären auch nicht für ihn gestorben. Das ist zu laut, zu billig. Geiz ist geil. Ich meine, wer kann schon einen Werbespruch von einer Weisheit unterscheiden? Woran können wir uns festhalten bei diesem Ausverkauf an Worten? Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Dass Silber so wertlos geworden ist. Die nächste Haltestelle, der Sekundenzeiger springt und springt und … schon vorbei.
„Du kannst doch mit uns fahren!“, hatten sie mir angeboten. „Ich möchte mit der Bahn fahren.“, war meine Antwort. Ihr Blick zeigt mir: wieder mal ins Schwarze getroffen. „Mir ist es egal, musst du selber wissen.“ Ja klar, natürlich. Wer gesteht einem schon die Freiheit zu, einfach nicht mitzufahren? Erklärungsnot, Begründungen müssen her. Minderwertigkeitskomplexe lassen nicht locker, vielleicht haben sie was Falsches gesagt und ich fahre deshalb nicht mit. Schweigen. Es geht mir so auf die Nerven. „Also, bis später!“, habe ich gesagt und bin gegangen. Was geht mich das alles an? Nichts mehr.

3.
Das sind die Momente, in denen ich mich frei fühle. Ich weiß nicht, was kommt und lasse mich einfach führen. Nichts ist vorgedacht, die Zügel locker. Ich falle in mich selbst hinein und schaue von innen durch meine Augen. Leonardo da Vinci hatte Recht, die Augen sind die Fenster der Seele. Meine liebe gute Seele. Wann immer ich mir ihrer bewusst werde, durchströmt mich eine wohlige Wärme, eine tiefe Liebe zu allem, auch zu den Menschen. Warum tun sie das, was sie tun, warum tu ich das, was ich tue? Blöde Frage. Weil es grade sein muss, weil es irgendeinen Sinn hat. Aber hat es auch einen Sinn, immer dasselbe zu tun, sich im Kreis zu drehen?
Hast du schon einmal der Stille zugehört? Wenn du sie vernimmst, während du inmitten vom Trubel läufst, tauchst du tief ins Weltgeschehen ein, fühlst Schicksale an dir vorbeiziehen, siehst Menschen in die Augen, aber Vorsicht, denn alles kann passieren.
Wir versuchen die Liebe, jeder auf seine Art – der Mörder wie die Ärztin, der Pfarrer wie die Terroristin – Wahnsinn.
Lebkuchenherzen im September. Alles ist in Ordnung – solange ich der Stille zuhöre.
Der Wahnsinn des Normalen. Wer ist nur auf die Idee gekommen, eine Norm für Menschen und ihr Verhalten aufzustellen? Überall in der Wissenschaft misst man die Realitäten an einem Durchschnitt, der der unwahrscheinlichste Fall ist, jedenfalls nicht wahrscheinlicher als jeder andere auch. Habe ich eine Gruppe von Menschen, in der nur Hyperaktive und extreme Phlegmatiker sind, kann man sich einen normaleren Durchschnitt nicht wünschen. Alles ist in Ordnung – solange ich der Stille zuhöre.
Die Summe wird schon stimmen. Wenn irgendwo auf der Welt ein einsames Plätzchen zu finden ist, wird irgendwann eine hyperaktive Zivilisation darüber herfallen. Es ist nur eine Frage der Zeit. Summa summarum – Durchschnitt der normalen Mitte.
Oh, du Tag der Freude. Wie ein Adler schwebe ich am Himmel. Es beginnt sich zu ordnen, alles beginnt sich zu ordnen. Was für einen Anteil habe ich daran? Ich meine, habe ich jemals anders gekonnt, als so zu handeln, wie ich es getan habe? Und wenn ja, ist es auch egal, denn es gab immer nur eine Entscheidung: die, die ich getroffen habe.
Manchmal habe ich das Gefühl – wenn ich Rückschau halte oder nur für einen Moment in mich gehe – dass ich unglaublich alt bin. Wenn ich dann aber Menschen sehe in ihrem seelischen Korsett, in zur Gewohnheit gewordenen Verhaltensmustern, unfähig, in neuen Bahnen zu denken, dann schwebe ich im Raum. Ich nehme sie wahr wie Säulen und Mauern um mich herum und suche die Freiheit, das Leben. Ich gleite tief in mich hinab wie Marie, die in den Brunnen sprang und in einer anderen Welt auf einer blühenden Wiese erwachte. Da bin ich zu Haus, da ist meine Quelle sprudelnden Lebens. Aber, oh weh, immer wieder muss ich auftauchen in die sogenannte Welt, die doch nur ein Schatten jener eigentlichen ist. Sie wird auch nicht realer, wenn man nur lange genug daran gewöhnt wird.

Eine Bank. Ich setze mich. Die Blätter der Linde über mir rascheln. Ein warmer Hauch streift mich. Ich schließe die Augen, atme den Wind. Da ist er wieder, ich spüre seinen Oberarm an meinem und öffne die Augen – niemand. Langsam drehe ich meinen Kopf und schaue, nehme wahr durch meine inneren Augen. Daniel?
Ich habe ihn nicht mehr gesehen seit damals, am Ufer ist er spurlos verschwunden, genauso plötzlich, wie er kam. Aber macht es einen Unterschied, ob er jetzt hier ist oder nicht? Ich schließe die Augen, da ist er wieder. Ich spüre ihn hinter mir, sanft legt er seine Hände auf meine Schultern, Wärme durchströmt mich. Ich lehne meinen Kopf nach hinten und öffne die Augen. Da durchzuckt es mich gewaltig, ich schaue in tiefe Augen: Daniel! Ich drehe mich zu ihm um und will gerade … da legt er den Finger an seinen Mund. Still. Ich weiß, wenn ich auch nur ein Wort sage, ist er verschwunden. Daniel, denke ich. Er lächelt.


4.
Blaulicht, Menschenmasse, Gemurmel. Was ist passiert? Sie tragen ihn fort, in den Rettungswagen. Zu weit weg, um Genaues zu sehen, emsiges Hantieren um ihn herum. Die S-Bahn steht da, als hätte sie eben nur mal angehalten. Die Polizei spricht mit dem Fahrer, beschaut die Schienen. Ein Schicksal. Wird er durchkommen? Hat er Familie?
Ich schaue hinüber zu der Linde. Die Bank steht leer. Was ist passiert? „Kennen Sie den Mann?“, werde ich gefragt. Ich schaue um mich, nur noch eine Hand voll Leute steht da und schaut der Polizei zu. „Nein, ich habe ihn gar nicht richtig gesehen. Kann ich gehen?“ „Ja, natürlich.“
Loslassen, weitergehen und bei mir bleiben. Ich meine, ich könnte ja auch die Verbindung zu ihm herstellen, mich in seine Lage versetzen oder mir vorstellen, einem mir sehr nahe stehenden Menschen wäre das passiert. Ich könnte Ängste aufkommen lassen, von jetzt auf nachher alles auf den Kopf stellen, aber wozu? Nein, es ist ein wunderbares Gefühl, die Nabelschnur durchzuschneiden, ich will frei sein, mein Schicksal ist ein anderes, jedenfalls hier und jetzt.
Ich tauche ein in mein Gefühl von heute Morgen. Wie die Leere füllen? Der Tag wird doch nicht deshalb sinnvoller oder besser, weil ich ihn mit Aktivität fülle. Geduld, runterfahren, entspannen, auftanken. Der nächste Impuls kommt bestimmt. Langsam wie das Kribbeln, nachdem einem der Arm eingeschlafen ist, spült die Energie in den Körper, den Geist, die Seele. Hell und heller geht die Sonne auf. Im Meer des Lebens angekommen. Aufwachen, lustvoll aufstehen, ein Traum. Es ist so schön, in die Welt einzutauchen, wenn niemand etwas von einem will. Hören, sehen, fühlen – bis man Lust bekommt, ordnend, gestaltend, erkundend oder sonst irgendwie in die Welt einzugreifen. Und dann, nach getaner Arbeit, ein schönes Ritual: Kaffeepause. Für ein paar Minuten raus aus dem „Ich muss noch …!“ Ich will ja auch, aber die Freiheit, nichts zu tun, ist wohl die größte, die man auf Erden empfinden kann. Und vielleicht erwächst ja erst aus diesem Gefühl der stärkste und göttlichste Entschluss zum Handeln. Die Freiheit, nichts zu tun, ist ein Loslassen, das ein kleines Sterben bedeutet. Sterben, um aufzuerstehen wie Phönix aus der Asche.


5.
„Daniel, was ist anders zwischen uns?“, höre ich mich sagen. „Dass wir nicht abhängig voneinander sind.“, klingt die Antwort. Ist es seine Stimme, ist es meine? Ich weiß es nicht. Irgendwie scheint sie von ganz tief in mir zu kommen. „Aber warum begegnen wir uns?“ „Weil wir es wollen.“ „Willst du mir begegnen?“, frage ich. „Willst du mir begegnen?“, kommt die Antwort. Ja, denke ich. „Siehst du, und nur das zählt.“
Ich öffne meine Augen. An der S-Bahn deutet nichts mehr auf einen Unfall hin. Es ist so, als wäre nichts gewesen. Gerade fährt die nächste an mir vorbei. Als wäre nichts gewesen? Nein, ganz so ist es nicht, weil ich da bin. In mir ist es da, nur die Zeit ist anders. Ich sehe noch mal das Bild von vorhin. Sie tragen ihn fort in den Rettungswagen. Ja, ich bin wieder dort, ein Zeitsprung. Ich spüre Gedanken in mir aufkommen. Er wird jetzt im Krankenhaus sein. Ist er im OP? Ist er schon verloren? Wer weiß. Immer noch stehe ich da und schaue auf die Unfallstelle. Doch Angst? Nein, ich habe etwas anderes vor, die Linde. Ich laufe über die Straße und sehe schon von Weitem, dass Lindenblätter auf die Bank gefallen sind. Wie hingelegt sehen sie aus. Ich komme näher und denke, sie liegen wie ein großes „D“. Ich lächle.
In mir fährt ein Fahrstuhl, von einer Ebene zur anderen. Wo soll er halten, an welchem Tag, an welchem Ort? Heute, ja. Ich knüpfe an, wohin wollte ich? So muss sich ein Kind öfter fühlen, wenn es gedankenversunken dasteht und ein Erwachsener mahnt: „Komm jetzt, wir wollten doch noch …!“ Was wollte ich denn, welcher Erwachsene spricht jetzt zu mir: „Du wolltest doch …!“ Mein Plan nimmt mich an der Hand. Ich gehe weiter, minutenlang. Der Fußweg führt hier dicht an einer schnell befahrenen Straße entlang. Autos rauschen im Zentimeterabstand vorüber. Eigentlich müsste ich spontan zur Seite springen. Gewohnheit? Abgestumpftheit?

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