Er nannte sie Kuschelraupe

Er nannte sie Kuschelraupe

Gabriele Aichberger & Peter Kurzmann


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 104
ISBN: 978-3-99048-466-1
Erscheinungsdatum: 22.03.2016
Gibt es sie wirklich, die eine, die wahre große Liebe? Corinna glaubt: Nein. Doch dann findet sie auf dem Dachboden ihrer Mutter eine Schachtel mit wunderschönen Liebesbriefen und sie macht sich auf, um diese Liebenden wieder zusammenzubringen …
Prolog

Als meine Schwester vor 40 Jahren ihre Abschlussaufführung an der Schule hatte, saß ich als ihr größter Fan in der ersten Reihe. Sie spielte das personifizierte Glück. Das hat mich damals so beeindruckt, dass ich mich noch immer gerne an diesen Auftritt erinnere:
Nun habt ihr lange Jahrzehnte gelebt. Habt all die Zeit nur nach mir gestrebt. Habt oft mich besessen und oft mich vermisst, mit Gewalt mich gehalten und manchmal mit List. Habt sicher mich dann zu besitzen geglaubt, doch plötzlich, da war ich euch wieder geraubt, denn wisset, das Glück ist ein täuschender Gast bei dem, der mit hastigen Händen es fasst. Und wer mich nur sucht im Glanz der Welt, der hält mich nicht lange, denn der Glanz zerfällt. Drum sucht mich nicht außen, in euch bin ich nur, in eurem Herzen, da sucht meine Spur. Ich gebe euch Jugend und Aufbruch zurück, nun sucht mich mit Recht, sucht das wahrhaftige Glück.
Den Titel des Originalstücks weiß meine Schwester nicht mehr. Diese paar Zeilen haben damals wie heute nichts an Gültigkeit verloren. Die Menschen sind ständig auf der Suche nach Glück, und wenn sie es einmal in ihren Händen halten, gehen sie oftmals sehr leichtfertig damit um.
Das Glück liegt im Erschaffen des eigenen Lebens, in der Reise zum wahren Ich. (Sergio Bambaren)

Gabriele Aichberger

***

Sind Sie glücklich? Haben Sie die wahre Liebe gefunden? Genießen Sie ein unbeschwertes Leben, frei von Selbstzweifeln und psychischer Überbelastung? Dann dürfen Sie sich zu Recht als „glücklich“ bezeichnen. Aber wer von uns kann schon sagen, dass er alle diese Fragen mit Ja beantworten kann? Nun, um alle diese Fragen wirklich beantworten zu können, bedarf es einer gewissen Lebenserfahrung und eines Rückblickes auf die vergangenen Zeiten. Lassen Sie mich, der nun auch schon eine gewisse Zahl an Jahren auf der Lebensuhr aufzuweisen hat, diese Fragen aus meiner Sicht beantworten:
Ich persönlich war in meiner Kindheit der Inbegriff des Glücks. Meine Mama sagte immer „Sonnenschein“ zu mir und nichts und niemand konnte meinem Lachen entgehen. Damals begriff ich das selbstverständlich noch nicht, aber rückblickend betrachtet, war ich damals wirklich glücklich und durfte ein unbeschwertes Leben führen. Auch die Schulzeit war weitestgehend unbeschwert, jedoch waren die Glücksmomente schon um einiges seltener vertreten. Und während der universitären Ausbildung gab es Momente, wo das Glück in so weiter Ferne zu sein schien.
Durch meine Lebenserfahrung traue ich mich zu behaupten, dass Glück untrennbar mit einem unbeschwerten Leben verbunden ist, und in glücklichen Phasen stehen die Selbstzweifel hinten an und auch die psychische Belastung wird geduldig ertragen beziehungsweise eventuell gar nicht als so störend empfunden. Alles scheint reibungslos zu funktionieren und nichts kann einen aus der Bahn werfen. Und wenn einem in solchen Phasen dann auch noch ein Mensch, der Mensch, den man wirklich liebt, an der Seite steht, könnte man platzen vor Energie. Fehlt dieser eine besondere Mensch allerdings oder wird er aus unserer Mitte gerissen, gerät man unweigerlich wieder in Selbstzweifel und der Glückspegel sinkt.
Man weiß selten, was Glück ist, aber man weiß meistens, was Glück war. (Francoise Sagan)

Peter Kurzmann


Erster Teil – Januar 2015
Corinna

Erbarmungslos klingelte das Handy. Sie zog die Bettdecke über ihr Gesicht. Sie wollte jetzt nicht telefonieren. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Am Klingelton erkannte sie, dass es ihre Mutter war. Sie quälte sich aus dem Bett. Das Läuten war vorüber. Aber wie lange? Ihre Mutter konnte hartnäckig sein, nein, besser gesagt fordernd. Seit sie aus Amerika zurückgekehrt war, hatte ihre Mutter das Bedürfnis, sie ständig anzurufen und zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Natürlich war alles und nichts in Ordnung. Sie hatte bei ihrem Auslandsaufenthalt die große Liebe kennengelernt (glaubte sie jedenfalls). Die große Liebe! Gab es sie überhaupt? Waren dies alles nur leere Worte?
Erneut klingelte es. Sie wusste, sie konnte ihrer Mutter nicht entkommen. Sie hob ab. „Guten Morgen Schatz, ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Aber es ist sehr wichtig. Ich brauche deine Hilfe. Nächste Woche kommt die Behörde zu mir ins Haus. Sie wollen eine Feuerbeschau durchführen, daher gehört der Dachboden von allen brennbaren Materialien gesäubert. Du weißt ja, was sich dort oben alles angesammelt hat. Alleine schaffe ich das nicht. Du wirst mir doch sicher helfen?“ Jetzt würde gleich der berühmte Nachsatz kommen. Und da war er auch schon. „Schließlich hast du ja genügend Zeit!“ Sie zögerte ein wenig: „Natürlich helfe ich dir, Mutter. Ich komme vormittags vorbei.“ Sie legte rasch auf, wollte keine weiteren Anordnungen, Vorschläge oder Vorwürfe hören und schleppte sich ins Bad. Aus dem Spiegel sah ihr ein hübsches, herzförmiges, mit Sommersprossen übersätes Gesicht entgegen. Aber über ihre sonst so lustigen grünen Augen hatte das Leben einen Schleier der Traurigkeit gelegt. Sie rieb sich wütend ihre blassen Wangen, zog mit den Fingern ihre Mundwinkel nach oben. Es half nichts. Das traurige Spiegelbild blieb. Mit hängenden Schultern kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf dem kleinen schäbigen Sofa, an dem sie so hing, nieder. Wie so oft am Tag begann sie zu träumen. Vor ihren Augen lief die kurze, aber intensive Beziehung mit ihrer „großen Liebe“ ab. Wie konnte sie nur so dumm sein? Offensichtlich machte Liebe wirklich blind. Sie hatte ihm jedes Wort geglaubt. Heute wusste sie, dass alles nur leere Phrasen gewesen waren. Die wahre Liebe schien es nicht zu geben.

„Hallo Mutter, da bin ich.“ „Wieso kommst du so spät? Ich dachte …“ Sie unterbrach ihren Redeschwall. „Wenn es dir nicht passt, kann ich auch wieder gehen.“ „Mein Gott, Corinna, du bist so empfindlich geworden, seit du zurückgekommen bist. Das eine Jahr im Ausland hat dich irgendwie verändert. Du wirkst so lustlos. Was ist eigentlich in Amerika geschehen? Du kannst mir alles erzählen. Ich bin doch deine Mutter.“ „Es ist alles in Ordnung, Mama. Ich muss erst wieder richtig landen. Ich werde jetzt gleich auf den Dachboden gehen und mir einen Überblick verschaffen.“ Hastig rannte sie nach oben, schnappte sich den Haken und zog die Dachbodentreppe nach unten. Sie wollte sich auf keine weiteren Diskussionen einlassen. „Soll ich mit hinaufkommen?“ „Nein, ist nicht nötig, wenn ich dich brauche, rufe ich dich.“ Sie schloss die Luke, hörte nur noch wie aus weiter Ferne das Gemurmel ihrer Mutter.
Der Dachboden war voll mit unzähligen Kisten, Möbeln, Krimskrams. Wo sollte sie da bloß anfangen? Sie schlenderte durch das Chaos und begann mit der Suche nach Brennbarem. Sie brauchte einen Plan. Aber den hatte sie seit ihrer Rückkehr in keiner Situation. Corinna begann, in die verstaubten Schachteln hineinzusehen. Da waren jede Menge alte Zeitschriften, Schulsachen und Bücher. Sie schmunzelte, als sie ihre alten Hefte entdeckte. Das waren schöne Zeiten gewesen. Was sollte das? Wieso dachte sie an die „alten schönen Zeiten“? Sie war gerade mal 24 Jahre, hatte das Leben noch vor sich. Solche Gedanken hatten ältere Generationen, oder nicht? Während sie darüber nachdachte, ob man so etwas denken durfte, fiel ihr Blick auf einen Schuhkarton, der regelrecht zwischen einem alten Hocker und einer morschen Kredenz eingezwängt worden war, auf eine Art, die Corinna sagte, dass dieser Karton nicht gefunden werden sollte. Neugierig kämpfte sie sich bis zur Kommode vor. Nur mit größter Mühe schaffte sie es, die kleine Schachtel hervorzuziehen. „Au, verdammt!“ Sie hatte sich an einem rostigen Nagel verletzt und blutete. Die Schachtel entglitt ihr und der Inhalt verteilte sich auf den verstaubten Brettern. Ihr Blick fiel auf Fotos, sehr innige Fotos, persönliche Fotos. Sie hob sie auf und sah sie sich an. Zwei Menschen, die sich innig umarmten und küssten. Jedes Bild drückte tiefe Zuneigung aus, Glück und Freude. Behutsam, fast ehrfürchtig durchforschte sie den weiteren Inhalt und fand einen Brief. Sie zögerte. Hatte sie das Recht, einen fremden Brief zu lesen? Wenn sie es tat, war sie nicht besser als ihre Mutter, die früher ständig alles zensurierte. War das der Grund gewesen, warum Papa sie verlassen hatte? Das Verlangen, den Brief zu lesen, siegte über ihr schlechtes Gewissen. Zögernd öffnete sie ihn:

Mein geliebter Kuschelbär!
Wenn du diese Zeilen liest, werden wir uns für unbestimmte Zeit getrennt haben, vielleicht sind es nur ein paar Tage, vielleicht Wochen, Monate oder Jahre. Aber ich spüre es tief in meinem Herzen: Eines Tages werden wir zusammen sein, für immer, und nichts und niemand kann uns dann mehr trennen …

Corinnas Augen füllten sich mit Tränen. Bereits die ersten paar Zeilen hatten ihr Herz zutiefst berührt. Gab es sie doch, die wahre Liebe? Corinna fühlte, dass die beiden auf den Fotos dieses Gefühl gekannt haben mussten. Nein, wenn es so gewesen ist, dann lieben sich die zwei noch immer, dachte sie. Leben vielleicht glücklich und harmonisch zusammen. Aber wer waren diese Frau und dieser Mann? Corinna grübelte nach, konnte sie aber nicht zuordnen. Sie las den Brief nicht zu Ende, faltete ihn sorgfältig zusammen, legte alles in die Schachtel zurück und beschloss, ihre Mutter zu fragen, wem diese gehörte.
„Du bist schon wieder fertig?“, schallten Corinna die Worte vorwurfsvoll entgegen. „Nein Mama, ich habe mich bloß einmal zu orientieren versucht und dabei bin ich auf diesen Karton mit Bildern und Briefen gestoßen.“ Sie hob den Deckel ab und hielt ihr ein Foto hin. Kennst du die beiden? Die Mutter betrachtete das Bild nur kurz. „Er hat für ein paar Monate bei mir gewohnt, während du in Amerika warst. Wir haben uns auf der Arbeit kennengelernt. Ich war nach der Trennung von deinem Vater sehr einsam und er war es auch, obwohl er damals noch in einer Art Fernbeziehung lebte. Es dauerte nicht lange, und er zog mehr oder weniger bei mir ein. Wir verstanden uns sehr gut, redeten viel über unseren Beruf. Es herrschte eine sehr angenehme Atmosphäre zwischen uns. Aber die ganze Zeit spürte ich, dass er nicht wirklich voll und ganz bei mir war, dass sein Herz bei der anderen Frau war. Schließlich bat ich ihn um die Trennung. Ich wollte nicht im Schatten einer anderen leben. Er akzeptierte es sofort, war natürlich traurig, denn wir hatten schon einigermaßen zusammengefunden.“ „Wie heißt der Mann?“ „Gabriel, Gabriel Präuber.“ „Warst du in ihn verliebt?“ „Liebe, was ist schon Liebe? Nur ein Gefühl, das bald verfliegt. Dann zählen andere Dinge.“ „Nein Mama, wenn man wirklich von Anfang an liebt, dann wächst diese Liebe stetig, sie hört niemals auf zu wachsen. Alles andere hat mit Liebe nichts zu tun, dient nur rein dem Zweck, einfach nicht alleine zu sein. Hat er dir von der Frau auf dem Bild erzählt?“ „Nein, nicht viel, er wollte das nicht, für ihn war die Beziehung zu dieser Frau etwas Besonderes, beinahe heilig, das konnte ich deutlich spüren, deshalb bohrte ich auch nicht nach. Manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen, weil Wissen oftmals zerstörend wirken kann. Aber einmal hat er sich versprochen, ich glaube, er nannte sie Kuschelraupe.“
Die Mutter wollte sich auch die anderen Fotos anschauen, aber Corinna gab sie ihr nicht. Auch die Briefe verheimlichte sie ihrer Mutter. Irgendetwas hatte dieser Fund bei ihr ausgelöst. Sie fühlte sich plötzlich wieder so richtig lebendig. Seit Wochen war dies nicht mehr der Fall gewesen. Sie beschloss, den Mann ausfindig zu machen. Die Schachtel enthielt Zeugnisse einer wahrhaft großen Verbundenheit. Er und nur er sollte wieder in den Besitz der Fotos und Briefe kommen. Ein anderer Grund war: Sie wollte die beiden unbedingt kennenlernen, Menschen, die in tiefster Zuneigung zueinander standen. Corinna wusste nun, es gab sie, es gab sie, die große Liebe. Irgendwo.


Zweiter Teil – 2010–2014
Hanna

Hanna saß einfach nur da, ihre langen braunen Haare achtlos zu einem Knoten zusammengefasst. Ihre dunklen Augen, die sonst so neugierig in die Welt blickten, hielt sie geschlossen. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Vor ihr lag die aufgeschlagene Projektmappe, bereit zur Ausarbeitung. In der rechten Hand hielt sie einen Stift, in der linken ein Geodreieck. Verzweifelt versuchte sie, ihre Aufmerksamkeit auf die Arbeit zu richten, ihre Gedanken zu sammeln. Unmöglich. Was war nur los mit ihr? In den letzten Monaten passierte das immer wieder. Dieses Gefühl der Traurigkeit, Motivationslosigkeit. Warum nur? Sie hatte doch allen Grund, glücklich zu sein: einen Ehemann, der sie über alles liebte, drei wunderbare Kinder, ein schönes Heim, einen Beruf, der ihr Spaß machte, keine finanziellen Sorgen, Freundinnen, auf die sie sich verlassen konnte. Steckte sie mit 45 Jahren in einer Art Lebenskrise? Lag es daran, dass die Kinder erwachsen waren und ihr Mann sich oft monatelang beruflich im Ausland aufhielt? Die große Liebe zu ihrem Mann: War sie über die Jahre zwischen Arbeit und Schaffen von materieller Sicherheit auf der Strecke geblieben? Wo war sie hingekommen, die Liebe? Ging es anderen ebenso? Ist das normal nach so vielen Ehejahren? Wie auch immer. Hanna hörte in sich hinein. Sie empfand nur Leere. Ein furchtbares Gefühl. Sie wurde geliebt und gebraucht. Also, wo lag das Problem? Ihre Schwester hatte gemeint, sie sei nach außen hin ein Verstandesmensch, habe immer alles im Griff, immer einen Plan. Die Realität sehe anders aus. Sie verberge etwas, sei immer auf der Flucht. Hatte ihre Schwester recht? Der Kontakt zu ihr war in den letzten Jahren sehr oberflächlich gewesen. Zu sehr war Hanna mit ihrem Leben beschäftigt. Sie wollte die perfekte Ehefrau, Mutter, Sozialpädagogin sein. Wenn sie andere glücklich machte, war sie auch glücklich (dachte sie zumindest). Sie bemerkte gar nicht, wie fremdbestimmt ihr Leben geworden war. Sie hatte keine Zeit, auf ihre Gefühle zu achten. Und nun? Nun war der Zeitpunkt gekommen, wo sie schmerzlich erkennen musste, dass es so nicht weitergehen konnte. Körperliche Beschwerden machten sich bemerkbar. Hinzu kam dieser ständige Druck im Herzen. Die Seele hatte einen kleinen Riss bekommen, der sehr langsam, aber stetig blutete. Hanna war nicht alleine, aber trotzdem sehr einsam. Was sollte sie tun? Den Rat ihrer Schwester befolgen und sich einen virtuellen Freund suchen, der in einer ähnlichen Lage war wie sie? Menschen, die sich genauso fühlten, die nicht alleine lebten, dennoch einsam waren? War das nicht gefährlich? Man hörte und las so vieles über die Gefahren des Internets. Noch dazu war das ein Medium, das sie nur mit Widerwillen benutzte und wenn, dann nur beruflich. Hanna war der Typ, der gerne in Bibliotheken seine Freizeit verbrachte, in Büchern herumstöberte und dort recherchierte. Sie starrte auf die Mappe, schlug sie zu, eilte ins Büro, fuhr den Computer hoch und tippte die Internetadresse ein, die ihr ihre Schwester empfohlen hatte. Bereits auf der ersten Seite wurden sehr persönliche Fragen gestellt, die Hanna mit mulmigem Gefühl versuchte zu beantworten. Schließlich ließ sie sich registrieren. Nun hieß es geduldig sein – was Hanna immer schon schwer gefallen war – und abwarten.

Hanna fand keinen Schlaf. Unruhig wälzte sie sich hin und her. Immer wieder musste sie daran denken, was sie getan hatte. War es richtig gewesen? Neugierde mischte sich unter das schlechte Gewissen. Sie sprang aus dem Bett und lief ins Büro. Sie setzte sich vor den Bildschirm und begann mit zittrigen Fingern, die Seite zu öffnen. Sie las die Einträge sorgfältig durch. Ihr Blick blieb an einem Profil hängen: naturverbunden, ehrlich, einsam, auf der Suche nach Liebe und Geborgenheit. Hanna konnte es sich nicht erklären, aber eine Welle der Wärme durchströmte ihren Körper. Was war das? Sie wusste doch gar nichts über diesen Mann. Ein Fremder. Hanna nahm all ihren Mut zusammen und schrieb ihm ein paar Zeilen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Sie hatte sein Interesse geweckt. Der Unbekannte bat um ein Foto. Hanna schickte ihm eines aus dem letzten Urlaub. Seine Reaktion: „Wow!“ Hanna musste schmunzeln, es gefiel ihr immer mehr, sich mit Gabriel zu unterhalten. Beide waren aber offensichtlich mit dieser Art der Kommunikation nicht zufrieden und Hanna bat Gabriel um seine Telefonnummer. Sie wollte seine Stimme hören. Ein Teil in ihr warnte sie vor diesem nächsten Schritt. Es war ein Spiel mit dem Feuer. Sie glaubte, besonders schlau zu sein und unterdrückte ihre Nummer, als sie ihn das erste Mal anrief (später musste er immer wieder darüber lachen, denn er hatte ihre Unsicherheit sofort durchschaut).
Hanna und Gabriel schrieben sich jeden Tag in der Früh und sie telefonierten auch täglich. Es waren lange Telefonate. Zum ersten Mal empfand Hanna die ständige Abwesenheit ihres Mannes als Erleichterung. Sie sprachen über Gott und die Welt, als würden sie sich schon ewig kennen. Es war klar: Sie hatten sich ineinander verliebt, ohne sich je getroffen zu haben. Unglaublich! Eine Vertrautheit lag zwischen ihnen, die manche nach Jahren des Zusammenseins nicht hatten. Nach neun Tagen hielten es die beiden nicht mehr aus. Sie beschlossen, ein Wochenende an einem kleinen See zu verbringen. Hanna dauerte das aber zu lange (obwohl es nur noch vier Tage bis dahin gewesen wären). Sie rief ihn an und wollte ihn noch am selben Tag treffen. Nur wo? Sie hatte keinen Plan. Auf dem Parkplatz einer Tankstelle, bei McDonald’s? Sie entschlossen sich für ein kleines Landgasthaus. Hanna bat Gabriel, ein Zimmer zu reservieren. Was hatte sie getan? Einen Fremden aufgefordert, ein Zimmer zu buchen? War sie völlig verrückt geworden? Sie war noch verheiratet. Sie suchte doch keine Affäre. Diese Gedanken kamen zu spät. Sie wusste, dass sie das, was sich schon längst angebahnt hatte, nicht mehr aufhalten konnte.

Ständig blickte sie auf die Uhr. Irgendjemand musste die Zeiger gestohlen haben. Die Stunden bis zur Abfahrt zogen sich in die Länge. Hanna überlegte, was sie anziehen sollte. Im Schrank herrschte das Chaos. Sie hatte den Eindruck, überhaupt das personifizierte Chaos zu sein. Na, das konnte ja heiter werden!

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