Der Ur-Knall und Melitta

Der Ur-Knall und Melitta

Ernest Simharl


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 206
ISBN: 978-3-99048-487-6
Erscheinungsdatum: 22.03.2016

Leseprobe:

Lord David Stonborugh, Seniorchef eines der größten Industrie-Konglomerate des Commonwealth, hatte lange gezögert. Bruce Cartwright hatte gedrängt. Niemand könne vorhersagen, wie lange es Szepy gelingen würde, die geheimnisvollen Aufzeichnungen und die Geräte zu verbergen. In dem jahrelangen Bemühen, Investoren zu finden, habe er sich längst verdächtig gemacht. Sein Leben verdanke er nur dem Umstand, mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit und einer angeborenen Schlauheit das Geheimnis zu wahren.
Die besten Geheimdienste der Welt hatte man auf ihn angesetzt: die russische KPD, die amerikanische CIC, die deutsche GESTAPO.
Schon die GESTAPO unter Hitler und Himmler hatte versucht, ihn auszuquetschen. Denn sowohl SS-Chef Heinrich Himmler als auch Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess – ehe dieser den verhängnisvollen Flug nach England unternommen hatte - hatten die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen, die Erfindung des österreichischen Wissenschaftlers könnte doch realisierbar sein. Hitler hatte diese Chance ebenso verschlafen wie den Bau der Atombombe.
Ein verhängnisvoller Fehler. Er hatte Hitler den Kopf gekostet.
Die Familien von David Stonborugh und Bruce Cartwright waren einander seit Jahrzehnten verbunden. Noch ehe Bruce Cartwright zu Ernest Rutherford nach Montreal und danach zu Carl Schappeller gegangen war, hatten Bruce und David viele gemeinsame Stunden als Nachbarn verbracht. Später hatte Cartwright gelegentlich mit David über die Versuche des verrückten „Privat-Physikers“ gesprochen. Ohne wesentliche Erkenntnisse preiszugeben.
David hatte seine Zweifel geäußert. Er hatte gespöttelt, als er durch seine Verbindungen erfahren hatte, die englische Admiralität habe sich für diese „Experimente eines Psychopaten“ interessiert.
Cartwright ärgerte sich. Damit würde seine Fähigkeit als kritischer Wissenschaftler in Frage gestellt. Schon damals - es lag nun Jahrzehnte zurück -, als er sich der blutjungen Dorfschönheit Melitta in kompliziert-forscher Weise genähert hatte, war ihm manch bittere Bemerkung entschlüpft.
Das ungewöhnliche Liebespaar wurde in jenen Tagen umso mehr belächelt, als Cartwright auch in dieser Phase seiner Annäherungsversuche mit einer stoischen Gelassenheit darauf verzichtet hatte, das eisgraue Gewirr seiner Mähne zu pflegen; den abgewetzten Gehrock gegen eine einigermaßen zeitnahe Bekleidung zu tauschen. Ein zwar anerkannter Forscher. Letztlich ein verrückter, spleeniger Engländer.
Jene Leute, die intensiven Kontakt zu dem Wissenschaftler pflegten, wussten: Dahinter verbarg sich eine quicklebendige Persönlichkeit. Ein Mann, der nicht nur mit innovativen wissenschaftlichen Überraschungen aufwartete, sondern auch gegenüber den Freuden des täglichen Lebens sehr aufgeschlossen war. Dennoch ziemlich ungewöhnlich, dass er diese um Jahrzehnte jüngere Frau für sich gewonnen hatte.
Man sprach davon, Melitta hätte sich dem kauzigen Alten an den Hals geworfen, weil sie erfahren hätte, er stamme aus einer angesehenen, vermögenden englischen Familie.
Es gab ja in der Kleinstadt unendlich viele Gerüchte. Einmal um den sogenannten Privat-Physiker, der das imposante, wenn auch übel verfallene Schloss erworben hatte; die beiden englischen Wissenschaftler, schließlich diese rätselhafte Tochter Antschi.
Nach den verlorenen Weltkriegen hatte man die Kaiserhäuser in Deutschland und in Österreich gestürzt. Dennoch waren es vor allem die ehrgeizigen Frauen an der Seite des Habsburgers und des Hohenzollern, die den Sturz nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Sie suchten nach Mitteln und Wegen, ihre Macht zu erhalten. Also waren sie bereit, ungewöhnliche, selbst phantastische Projekte zu unterstützen. Wenn ein Mann das zu nützen wusste, konnte er reich werden.
Keinesfalls Überlegungen dieser Art hatten Bruce Cartwright bewogen, mit seinem Kollegen Pierre Noys an dem Projekt des Privat-Physikers zu arbeiten, sich damit abzufinden, in den modrigen Räumen des ruinösen Schlosses zu experimentieren und hin und wieder in das nahe gelegene Städtchen zu reisen, um sich ein wenig umzusehen.
Dabei war Bruce auf das Mädchen aufmerksam geworden. Ein blutjunges Ding. Kollege Noys hatte ungläubig beobachtet, wie Cartwright mit Witz und Charme um das Mädchen geworben hatte. Und Melitta hatte jedenfalls erkannt, der Mann war nicht so hoffnungslos konservativ, wie man aufgrund seines Äußeren schließen würde.
Nunmehr war Melitta in den besten Jahren einer Frau. Hatten sich ihre Träume erfüllt?
Manche meinten, sie wäre enttäuscht und wütend, wenngleich sie vom ersten Tag an, da sie Bruce aus der dörflichen Kleinstadt in die große Welt gefolgt war, alles unternommen hatte, neben dem vermögenden, angesehenen Mann eine gute Figur zu machen.
Nunmehr war Melitta eine attraktive, eindrucksvolle Frau. Sie hatte - insbesondere ab dem Zeitpunkt, in dem sie von Bruce seiner Familie vorgestellt worden war - mit dem Instinkt eines unverbildeten Kleinstadtmädchens begriffen, sie könnte sich nicht weiterhin so schrill gebärden, wie sie die Aufmerksamkeit des recht tollpatschigen Mannes auf sich gelenkt hatte.
Von der ersten Minute an, die sie in dem großen Haus der Familie der Cartwrights verbrachte, war ihr klar geworden, sie müsste etwas tun, um sich gesellschaftlich anzupassen.
Die Engländer waren der Exotin aus einer fernen österreichischen Provinz nonchalant begegnet. Das würde nicht anhalten. Selbst wenn sich Bruce mit der ihm eigenen Gelassenheit auch in dieser Umgebung amüsierte. Das würde nicht von Dauer sein.
Wie immer man die sehr junge Frau an der Seite des kauzigen Mannes einschätzte, durchschaute sie schnell und klar die Doppelmoral dieser vornehmen Gesellschaft. Sie beherrschte nach einigen Jahren nicht nur die englische Sprache perfekt, sondern begann, ihre körperlichen Vorzüge und die ihr angeborene Schlauheit erfolgreich einzusetzen. Und sie setzte sich hin und begann zu studieren.
Dieser Bildungseifer, dachte ihr Mann Bruce, würde nicht lange anhalten. Er täuschte sich.
Die nachbarliche Familie der Stonborughs verfügte über ein industrielles Imperium. Vater Elias hatte es im Übergang vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert aufgebaut. Die Erfordernisse der beiden Weltkriege hatte er erfolgreich genutzt, um Maschinen- und Waffenfabriken zu errichten, sie durch logische Synergien zu ergänzen und damit eines der größten Konglomerate im britischen Commonwealth zu schaffen.
Sein ältester Sohn Denis hatte die Leitung des Konzerns übernommen. Dessen Bruder David durfte sich der Wissenschaft zuwenden. Seine außerordentliche Begabung als Mathematiker und Physiker war schon in früher Kindheit erkannt worden.
Bruce Cartwright, der nunmehr alte Herr in seinem abgetragenen Gehrock, ging auf den Industriellen David zu, weil er nach Jahrzehnten mühsamen Forschens nach wie vor überzeugt war, das Ziel, die sogenannte Ur-Kraft, wäre zu verwirklichen.
Ein großer Teil der Dokumentation und der Apparaturen, die sie damals erarbeitet hatten, sollte existieren. Man müsste diesen wissenschaftlichen Schatz aktivieren, daran anknüpfen.
Bruce Cartwright hatte zu keiner Zeit einen Einblick in die finanziellen Verhältnisse von Schappeller, dem Chef, besessen. Er war beeindruckt von der Tatsache, dass der Schlossherr den riesigen, wenn auch höchst verwahrlosten Gebäudekomplex erworben und ihn unverzüglich, mit allem Nachdruck, hatte restaurieren lassen.
Der Schlossherr führte zudem ein aufwendiges Leben. Präsentierte sich mit einem sündteuren amerikanischen Studebaker, zeigte sich mit seiner Tochter Antschi in modischer Kleidung, beschäftigte nicht nur die kleine Gruppe der Forscher, sondern auch die des Personals, das den Forschern und den Mitarbeitern ein angenehmes Leben ermöglichte. Und das während jener Nachkriegsjahre, in denen in den Staaten, die den Krieg verloren hatten, brutale Armut herrschte.
Der Zusammenbruch kam nicht von einem Tag auf den anderen. Selbst der kleinen Gruppe der Forscher blieb nicht verborgen, dass sich die Schulden häuften, die Gläubiger ihre Forderungen mitunter auch lautstark stellten.
Bruce Cartwright dachte nunmehr, er habe, ebenso wenig wie Pierre Noys, lange nicht wahrhaben wollen, dass Schappeller gezwungen werden könnte, die Arbeit an dem Forschungsprojekt einzustellen.
Wir hatten uns keine Gedanken gemacht, was mit den von uns entwickelten Geräten, den Aufzeichnungen, den Protokollen, geschehen würde. Wir nahmen an, es könnte sich nur um eine Flaute handeln.
Wir wussten nicht, welche Ereignisse letztlich dazu geführt hatten, dass Schappeller seine gesamten Aktivitäten hatte abbrechen müssen.
Gab es schon damals Kräfte, die ihn dazu gezwungen hatten? War es der überraschende, unverständliche Tod seiner geliebten Tochter Antschi? Hatten die vermögenden Kreise sowohl um die Herrscherhäuser Hohenzollern als auch der Habsburger erkannt, selbst die Verwirklichung der grandiosen Idee der Ur-Kraft würde nie mehr dazu führen, in den beiden Ländern Monarchien installieren zu können?
Die Donau-Monarchie war unrettbar den nationalen Interessen der leidenschaftlich ringenden Völker zum Opfer gefallen. Vielleicht hätte Kaiserin Zita die Ungarn noch bewegen können. Doch in dem kleinen Restösterreich hatten längst die Sozialdemokraten und Kommunisten die Zügel in der Hand.
Und das Gleiche galt nicht minder für Deutschland. Kaiser Wilhelm sollte sich im holländischen Exil besser damit vergnügen, Holz zu hacken!
Einige führende Prälaten der katholischen Kirche hielten an der Illusion fest, die Ur-Kraft würde so umwälzende gesellschaftliche Bedingungen schaffen, dass mit der revolutionären physikalischen Grundlage ein neues Gottes-Weltreich zu verwirklichen wäre.
Zweifelte Rom an dieser großartigen Idee?
David Stonborugh empfing Bruce Cartwright im Salon des großen Hauses. Das benachbarte Gut der Cartwrights befand sich seit vielen Generationen im Eigentum der Familie. Die zutiefst mit Land und Leuten verbundenen Cartwrights hatten die „Neureichen“, die Stonborughs, zunächst misstrauisch aufgenommen. Man wusste - oder glaubte zu wissen - der alte Elias Stonborugh habe sein Vermögen mit dubiosen Spekulationen in den Kolonien Großbritanniens gemacht.
Man fand sich mit Gerüchten ab und verfolgte den Aufstieg des umtriebigen Ansiedlers, der die wirtschaftlichen Gegebenheiten richtig zu deuten verstand.
Die Kinder der Nachbarn begegneten einander ohne Vorbehalte.
Allzu viele Anlässe gab es nicht. Doch wenn man in der Grundschule und zu den vereinzelten Festlichkeiten Kontakt hatte, lief man unbekümmert aufeinander zu.
Da sich bei den Cartwrights Bruce für die Laufbahn eines Wissenschaftlers entschieden hatte und bei der nachbarlichen Familie David die in vielen technischen Bereichen engagierte Firmengruppe übernehmen würde, hatte sich nur während der Ferien der beiden Studenten Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch ergeben.
Ein Nebeneffekt der Nachbarschaft konnte nicht ausbleiben: Sie hatten wiederholt einer Dorfschönheit in jugendlichem Enthusiasmus den Hof gemacht.
Ungeachtet derartiger Rivalitäten und zunehmender Entfremdung in den folgenden Jahren, die vor allem durch die ständige Abwesenheit von Bruce bedingt war, gab es jetzt also diese Ereignisse in Genf: Bruce meinte, die Familie der Stonborughs, mit ihren weltweiten Verbindungen, ihren wirtschaftlichen Interessen, habe sich für die Sache engagiert.
Als die beiden Männer nun einander gegenübersaßen, tauschten sie - wie immer in derlei Situationen - amüsiert Begebenheiten aus ihrer Jugendzeit aus. Doch Bruce wollte sich nicht verlieren. Er musste auf den Gegenstand seines Besu-ches kommen.
„Schappeller?“, fragte Stonborugh, als Bruce erstmals den Namen erwähnte. „Carl Schappeller? Das liegt doch eine Ewigkeit zurück!“
Bruce Cartwright wühlte mit der Rechten in seinem Barthaar: „Es ist heute aktueller als je. Ich muss etwas ausholen: Du hast davon gehört, dass ich einige Jahre damit verbracht habe, die Vision dieses Mannes zu realisieren?“
David Stonborugh nickte. Er lehnte sich im Fauteuil zurück und beobachtete seinen Besucher. Ja, eine Ewigkeit, seitdem sie zusammen die knarrenden Bänke der Schule gedrückt hatten.
Jahrzehnte! David hatte Nancy geheiratet, die Amerikanerin. Und von Bruce hatte David erfahren, er habe ein blutjunges österreichisches Bauernmädchen geehelicht. Seine Familie habe es spät - und schockiert! - hinnehmen müssen.
Bruce Cartwright versuchte, so knapp wie möglich die schwer durchschaubare Persönlichkeit jenes Carl Schappeller zu erklären. Des Privat-Physikers, Erfinders. Des Genies! Das außergewöhnliche Umfeld, in dem er während jener Jahre gelebt, geforscht, gehofft hatte.
„Der Mann hatte eine Idee: Es müsste möglich sein, jene Ur-Kraft, die im All wirksam ist, auf einfache Weise auf der Erde zu nutzen.“
David Stonborugh konnte sich einen Einwand nicht verkneifen. „Ihr stelltet die Verbindung zur englischen Admiralität her. Unsere Admiräle waren von dem Gedanken besessen, die Meere zu durchkreuzen, ohne irgendwo einen Stützpunkt im Imperium anlaufen zu müssen!“
Bruce Cartwright lächelte. Seine klugen Augen blitzten. Er beugte sich nach vorne und sah seinen nachbarlichen Freund verschmitzt an: „Waren es nicht sehr oft jene verrückten Außenseiter, die im Keller ihres Häuschens zustande brachten, wonach wir vermeintlich klugen Leute mit großem Aufwand gesucht haben?“
Der Wissenschaftler erhob sich, strich den Gehrock glatt und trat an eines der Fenster. Er zögerte. Sichtlich verärgert ließ er sich wieder gegenüber dem Gastgeber nieder.
David Stonborugh war betroffen: „Ich wollte dir nicht zu nahe treten, Bruce. Du weißt, dass ich nicht einen Augenblick lang an deinen Fähigkeiten gezweifelt habe. Ich denke aber, dass jene anderen deiner Kollegen in den Staaten nicht in der Lage gewesen wären, die Atombombe zu bauen, hätten sie so wenig Unterstützung erfahren wie die Wissenschaftler in England und in Deutschland. Die Realität, so scheint es mir, erfordert den Einsatz gewaltiger Mittel, um derartige Projekte zu verwirklichen.“
Er machte eine kleine Pause: „Wir stehen an einem entscheidenden Wendepunkt, lieber Freund. Es sieht danach aus, als würden die Leute in Genf in der Lage sein, die wichtigste Frage zu lösen: Sind es diese endlos kleinen Bausteine der Materie? Sie krempeln die Welt der Physik um - und sind nahe dran!“
Bruce Cartwright schüttelte energisch den Kopf. Er sprang auf: „Das ist dieser fürchterliche Unfug, den sie mit Unterstützung gewisser Kreise der halben Welt - auch deiner, deiner Hilfe! - mit euren Milliarden treiben.“
Erregt sprach er auf den Industriellen ein: „Diese ungeheure Anlage ist das größte Verbrechen gegen die Existenz der Menschheit! Erarbeitet von mehr als dreitausend Wissenschaftlern unmittelbar in und um die verrückte Röhre. Die scheußlichste Koordination wissenschaftlicher Forschung.“
Er beugte sich zu Stonborugh hinab: „Verstehst du denn nicht, verehrter Freund, dass sie mit diesem Experiment fortsetzen, was damit begonnen wurde, Atome aufeinander zu jagen?“
David Stonborugh hob beschwichtigend beide Arme: „Du warst mit Rutherford an jenem Experiment beteiligt!“
Bruce Cartwright ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen. Es schien, als würden in dem alten Herrn jene Jahre lebendig, die er mit Rutherford in Kanada und neuerlich in London verbracht hatte. Und es stellte sich immer wieder die an ihn mehr als einmal gerichtete Frage: wofür, warum, wohin?
Der Vorwurf war nicht unberechtigt. Die ganze Welt wusste, wohin das Experiment geführt hatte.
Er machte eine Handbewegung gegen die Decke: „Der da ganz oben gibt mir noch eine Chance, die Irrtümer zu korrigieren. Ich kann nicht zusehen, wie sie den Crash auslösen. Und auch du kannst nicht bis zu diesem schrecklichen Augenblick warten. Wir dürfen nicht untätig bleiben, David! Ein irrer Ehrgeiz treibt sie voran zu versuchen, dem Herrgott einen Streich zu spielen!“
Der Hausherr blieb von den Worten seines Freundes, von seiner Erregung nicht unbeeindruckt.
Dennoch versuchte er, ihn zu beruhigen. „Es mag stimmen, dass es sie nicht kümmert, wenn die Erde dabei in Fetzen fliegt. Sie haben den Beweis erbracht, dass sie neue Elemente kreieren und alte zertrümmern können. Sogar wenn sie selbst - sie selbst! - dabei vor die Hunde gehen!“
Während er sich erhob, sagte er, um sich aus der Affäre zu ziehen: „Lass uns später darüber reden, Bruce. Es ist zum Abendessen angerichtet. Die Damen erwarten uns …“

***

Auf der desolaten Treppe kommt dem Journalisten Ulrich Szepy entgegen.
„Wir haben telefoniert?“
„Sie sind Carl Schappellers Sekretär?“
„Ulrich Szepy.“ Er reicht dem Journalisten die Hand.
„Tut mir sehr leid“, sagt Szepy. „Meister musste dringend weg. Überstürzt!“
Der Journalist Victor Cerny starrt den Sekretär an: „Soll das heißen, ich habe die Reise vergeblich gemacht?“
„Nicht doch. Kann alles erklären. Kommen, bitte, weiter!“
Mit einer Handbewegung fordert der Sekretär den Zeitungsmann auf, ihm zu folgen.
„Treppe ist in Zustand, wie Graf Arco das gesamte Gebäude hinterlassen hat. Arcos sind Geizhälse. Haben Schloss ausgeraubt!“
Der Sekretär öffnet die Tür zu einem kahlen, nur notdürftig eingerichteten Raum. Die Wände sind gekalkt, ein alter Schreibtisch, einige mit verblasstem Stoff bespannte Stühle. Auf einem dieser Stühle nimmt der Sekretär Platz und deutet dem Journalisten an, das Gleiche zu tun.
Victor Cerny zögert. „Was soll das? Ich habe die Reise in dieses abgelegene Nest unternommen, um Carl Schappeller zu sprechen. Nicht seinen Sekretär!“
Ulrich Szepy lächelt. „Sagte Ihnen doch: Meister musste wegfahren. Vielleicht er wird zurück sein, während wir beide führen Gespräch.“
Der Journalist schüttelt verärgert den Kopf: „Na gut. Sie sind in der Lage, meine Fragen zu beantworten?“
Ulrich Szepy zuckt mit den Schultern. „Kann ich anbieten Kaffee, Tee?“
Victor Cerny nickt und rückt einen Stuhl so zurecht, dass er dem Sekretär am Schreibtisch gegenübersitzt.
Dieser schiebt seinen Stuhl zurück und geht zu einer Tür, die jener gegenüberliegt, durch die sie den Raum betreten haben.
„Bestelle Kaffee. Haben etwas Geduld.“
Der Journalist stellt seine Tasche auf dem Bretterboden ab und entnimmt ihr einen Notizblock. Er ist verunsichert. Soll er den Raum verlassen? Will ihn dieser Sekretär zum Narren halten?
Ulrich Szepy kehrt an den Stuhl hinter dem Schreibtisch zurück.

„Nicht komfortabel. Aber Meister lässt restaurieren. Sie werden fragen: Warum Schloss kaufen, experimentieren - Suche nach Ur-Kraft? Lange Geschichte.“
„Und was antworten Sie den Leuten? Welche Antwort gibt Schappeller?“
„Warum hat Graf von der Wahl gebaut hier Schloss? Gottverlassene Gegend. Kennen Meister das Geheimnis ebenso wie Graf von der Wahl?“
Ein Mädchen kommt durch die Tür, zelebriert einen Knicks vor den beiden Männern und stellt das Tablett mit den Kaffeetassen auf dem Schreibtisch ab.
„Danke, Evelyne, danke!“ Und zu dem Journalisten gewandt: „Warum hat hoher Beamter des bayerischen Kurfürsten - Graf von der Wahl - großartiges Schloss hier errichten lassen? Warum hier? Öde Gegend. Entfernt von Residenzstadt München?“

Lord David Stonborugh, Seniorchef eines der größten Industrie-Konglomerate des Commonwealth, hatte lange gezögert. Bruce Cartwright hatte gedrängt. Niemand könne vorhersagen, wie lange es Szepy gelingen würde, die geheimnisvollen Aufzeichnungen und die Geräte zu verbergen. In dem jahrelangen Bemühen, Investoren zu finden, habe er sich längst verdächtig gemacht. Sein Leben verdanke er nur dem Umstand, mit ungewöhnlicher Hartnäckigkeit und einer angeborenen Schlauheit das Geheimnis zu wahren.
Die besten Geheimdienste der Welt hatte man auf ihn angesetzt: die russische KPD, die amerikanische CIC, die deutsche GESTAPO.
Schon die GESTAPO unter Hitler und Himmler hatte versucht, ihn auszuquetschen. Denn sowohl SS-Chef Heinrich Himmler als auch Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess – ehe dieser den verhängnisvollen Flug nach England unternommen hatte - hatten die Möglichkeit nicht außer Acht gelassen, die Erfindung des österreichischen Wissenschaftlers könnte doch realisierbar sein. Hitler hatte diese Chance ebenso verschlafen wie den Bau der Atombombe.
Ein verhängnisvoller Fehler. Er hatte Hitler den Kopf gekostet.
Die Familien von David Stonborugh und Bruce Cartwright waren einander seit Jahrzehnten verbunden. Noch ehe Bruce Cartwright zu Ernest Rutherford nach Montreal und danach zu Carl Schappeller gegangen war, hatten Bruce und David viele gemeinsame Stunden als Nachbarn verbracht. Später hatte Cartwright gelegentlich mit David über die Versuche des verrückten „Privat-Physikers“ gesprochen. Ohne wesentliche Erkenntnisse preiszugeben.
David hatte seine Zweifel geäußert. Er hatte gespöttelt, als er durch seine Verbindungen erfahren hatte, die englische Admiralität habe sich für diese „Experimente eines Psychopaten“ interessiert.
Cartwright ärgerte sich. Damit würde seine Fähigkeit als kritischer Wissenschaftler in Frage gestellt. Schon damals - es lag nun Jahrzehnte zurück -, als er sich der blutjungen Dorfschönheit Melitta in kompliziert-forscher Weise genähert hatte, war ihm manch bittere Bemerkung entschlüpft.
Das ungewöhnliche Liebespaar wurde in jenen Tagen umso mehr belächelt, als Cartwright auch in dieser Phase seiner Annäherungsversuche mit einer stoischen Gelassenheit darauf verzichtet hatte, das eisgraue Gewirr seiner Mähne zu pflegen; den abgewetzten Gehrock gegen eine einigermaßen zeitnahe Bekleidung zu tauschen. Ein zwar anerkannter Forscher. Letztlich ein verrückter, spleeniger Engländer.
Jene Leute, die intensiven Kontakt zu dem Wissenschaftler pflegten, wussten: Dahinter verbarg sich eine quicklebendige Persönlichkeit. Ein Mann, der nicht nur mit innovativen wissenschaftlichen Überraschungen aufwartete, sondern auch gegenüber den Freuden des täglichen Lebens sehr aufgeschlossen war. Dennoch ziemlich ungewöhnlich, dass er diese um Jahrzehnte jüngere Frau für sich gewonnen hatte.
Man sprach davon, Melitta hätte sich dem kauzigen Alten an den Hals geworfen, weil sie erfahren hätte, er stamme aus einer angesehenen, vermögenden englischen Familie.
Es gab ja in der Kleinstadt unendlich viele Gerüchte. Einmal um den sogenannten Privat-Physiker, der das imposante, wenn auch übel verfallene Schloss erworben hatte; die beiden englischen Wissenschaftler, schließlich diese rätselhafte Tochter Antschi.
Nach den verlorenen Weltkriegen hatte man die Kaiserhäuser in Deutschland und in Österreich gestürzt. Dennoch waren es vor allem die ehrgeizigen Frauen an der Seite des Habsburgers und des Hohenzollern, die den Sturz nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Sie suchten nach Mitteln und Wegen, ihre Macht zu erhalten. Also waren sie bereit, ungewöhnliche, selbst phantastische Projekte zu unterstützen. Wenn ein Mann das zu nützen wusste, konnte er reich werden.
Keinesfalls Überlegungen dieser Art hatten Bruce Cartwright bewogen, mit seinem Kollegen Pierre Noys an dem Projekt des Privat-Physikers zu arbeiten, sich damit abzufinden, in den modrigen Räumen des ruinösen Schlosses zu experimentieren und hin und wieder in das nahe gelegene Städtchen zu reisen, um sich ein wenig umzusehen.
Dabei war Bruce auf das Mädchen aufmerksam geworden. Ein blutjunges Ding. Kollege Noys hatte ungläubig beobachtet, wie Cartwright mit Witz und Charme um das Mädchen geworben hatte. Und Melitta hatte jedenfalls erkannt, der Mann war nicht so hoffnungslos konservativ, wie man aufgrund seines Äußeren schließen würde.
Nunmehr war Melitta in den besten Jahren einer Frau. Hatten sich ihre Träume erfüllt?
Manche meinten, sie wäre enttäuscht und wütend, wenngleich sie vom ersten Tag an, da sie Bruce aus der dörflichen Kleinstadt in die große Welt gefolgt war, alles unternommen hatte, neben dem vermögenden, angesehenen Mann eine gute Figur zu machen.
Nunmehr war Melitta eine attraktive, eindrucksvolle Frau. Sie hatte - insbesondere ab dem Zeitpunkt, in dem sie von Bruce seiner Familie vorgestellt worden war - mit dem Instinkt eines unverbildeten Kleinstadtmädchens begriffen, sie könnte sich nicht weiterhin so schrill gebärden, wie sie die Aufmerksamkeit des recht tollpatschigen Mannes auf sich gelenkt hatte.
Von der ersten Minute an, die sie in dem großen Haus der Familie der Cartwrights verbrachte, war ihr klar geworden, sie müsste etwas tun, um sich gesellschaftlich anzupassen.
Die Engländer waren der Exotin aus einer fernen österreichischen Provinz nonchalant begegnet. Das würde nicht anhalten. Selbst wenn sich Bruce mit der ihm eigenen Gelassenheit auch in dieser Umgebung amüsierte. Das würde nicht von Dauer sein.
Wie immer man die sehr junge Frau an der Seite des kauzigen Mannes einschätzte, durchschaute sie schnell und klar die Doppelmoral dieser vornehmen Gesellschaft. Sie beherrschte nach einigen Jahren nicht nur die englische Sprache perfekt, sondern begann, ihre körperlichen Vorzüge und die ihr angeborene Schlauheit erfolgreich einzusetzen. Und sie setzte sich hin und begann zu studieren.
Dieser Bildungseifer, dachte ihr Mann Bruce, würde nicht lange anhalten. Er täuschte sich.
Die nachbarliche Familie der Stonborughs verfügte über ein industrielles Imperium. Vater Elias hatte es im Übergang vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert aufgebaut. Die Erfordernisse der beiden Weltkriege hatte er erfolgreich genutzt, um Maschinen- und Waffenfabriken zu errichten, sie durch logische Synergien zu ergänzen und damit eines der größten Konglomerate im britischen Commonwealth zu schaffen.
Sein ältester Sohn Denis hatte die Leitung des Konzerns übernommen. Dessen Bruder David durfte sich der Wissenschaft zuwenden. Seine außerordentliche Begabung als Mathematiker und Physiker war schon in früher Kindheit erkannt worden.
Bruce Cartwright, der nunmehr alte Herr in seinem abgetragenen Gehrock, ging auf den Industriellen David zu, weil er nach Jahrzehnten mühsamen Forschens nach wie vor überzeugt war, das Ziel, die sogenannte Ur-Kraft, wäre zu verwirklichen.
Ein großer Teil der Dokumentation und der Apparaturen, die sie damals erarbeitet hatten, sollte existieren. Man müsste diesen wissenschaftlichen Schatz aktivieren, daran anknüpfen.
Bruce Cartwright hatte zu keiner Zeit einen Einblick in die finanziellen Verhältnisse von Schappeller, dem Chef, besessen. Er war beeindruckt von der Tatsache, dass der Schlossherr den riesigen, wenn auch höchst verwahrlosten Gebäudekomplex erworben und ihn unverzüglich, mit allem Nachdruck, hatte restaurieren lassen.
Der Schlossherr führte zudem ein aufwendiges Leben. Präsentierte sich mit einem sündteuren amerikanischen Studebaker, zeigte sich mit seiner Tochter Antschi in modischer Kleidung, beschäftigte nicht nur die kleine Gruppe der Forscher, sondern auch die des Personals, das den Forschern und den Mitarbeitern ein angenehmes Leben ermöglichte. Und das während jener Nachkriegsjahre, in denen in den Staaten, die den Krieg verloren hatten, brutale Armut herrschte.
Der Zusammenbruch kam nicht von einem Tag auf den anderen. Selbst der kleinen Gruppe der Forscher blieb nicht verborgen, dass sich die Schulden häuften, die Gläubiger ihre Forderungen mitunter auch lautstark stellten.
Bruce Cartwright dachte nunmehr, er habe, ebenso wenig wie Pierre Noys, lange nicht wahrhaben wollen, dass Schappeller gezwungen werden könnte, die Arbeit an dem Forschungsprojekt einzustellen.
Wir hatten uns keine Gedanken gemacht, was mit den von uns entwickelten Geräten, den Aufzeichnungen, den Protokollen, geschehen würde. Wir nahmen an, es könnte sich nur um eine Flaute handeln.
Wir wussten nicht, welche Ereignisse letztlich dazu geführt hatten, dass Schappeller seine gesamten Aktivitäten hatte abbrechen müssen.
Gab es schon damals Kräfte, die ihn dazu gezwungen hatten? War es der überraschende, unverständliche Tod seiner geliebten Tochter Antschi? Hatten die vermögenden Kreise sowohl um die Herrscherhäuser Hohenzollern als auch der Habsburger erkannt, selbst die Verwirklichung der grandiosen Idee der Ur-Kraft würde nie mehr dazu führen, in den beiden Ländern Monarchien installieren zu können?
Die Donau-Monarchie war unrettbar den nationalen Interessen der leidenschaftlich ringenden Völker zum Opfer gefallen. Vielleicht hätte Kaiserin Zita die Ungarn noch bewegen können. Doch in dem kleinen Restösterreich hatten längst die Sozialdemokraten und Kommunisten die Zügel in der Hand.
Und das Gleiche galt nicht minder für Deutschland. Kaiser Wilhelm sollte sich im holländischen Exil besser damit vergnügen, Holz zu hacken!
Einige führende Prälaten der katholischen Kirche hielten an der Illusion fest, die Ur-Kraft würde so umwälzende gesellschaftliche Bedingungen schaffen, dass mit der revolutionären physikalischen Grundlage ein neues Gottes-Weltreich zu verwirklichen wäre.
Zweifelte Rom an dieser großartigen Idee?
David Stonborugh empfing Bruce Cartwright im Salon des großen Hauses. Das benachbarte Gut der Cartwrights befand sich seit vielen Generationen im Eigentum der Familie. Die zutiefst mit Land und Leuten verbundenen Cartwrights hatten die „Neureichen“, die Stonborughs, zunächst misstrauisch aufgenommen. Man wusste - oder glaubte zu wissen - der alte Elias Stonborugh habe sein Vermögen mit dubiosen Spekulationen in den Kolonien Großbritanniens gemacht.
Man fand sich mit Gerüchten ab und verfolgte den Aufstieg des umtriebigen Ansiedlers, der die wirtschaftlichen Gegebenheiten richtig zu deuten verstand.
Die Kinder der Nachbarn begegneten einander ohne Vorbehalte.
Allzu viele Anlässe gab es nicht. Doch wenn man in der Grundschule und zu den vereinzelten Festlichkeiten Kontakt hatte, lief man unbekümmert aufeinander zu.
Da sich bei den Cartwrights Bruce für die Laufbahn eines Wissenschaftlers entschieden hatte und bei der nachbarlichen Familie David die in vielen technischen Bereichen engagierte Firmengruppe übernehmen würde, hatte sich nur während der Ferien der beiden Studenten Gelegenheit zu einem Gedankenaustausch ergeben.
Ein Nebeneffekt der Nachbarschaft konnte nicht ausbleiben: Sie hatten wiederholt einer Dorfschönheit in jugendlichem Enthusiasmus den Hof gemacht.
Ungeachtet derartiger Rivalitäten und zunehmender Entfremdung in den folgenden Jahren, die vor allem durch die ständige Abwesenheit von Bruce bedingt war, gab es jetzt also diese Ereignisse in Genf: Bruce meinte, die Familie der Stonborughs, mit ihren weltweiten Verbindungen, ihren wirtschaftlichen Interessen, habe sich für die Sache engagiert.
Als die beiden Männer nun einander gegenübersaßen, tauschten sie - wie immer in derlei Situationen - amüsiert Begebenheiten aus ihrer Jugendzeit aus. Doch Bruce wollte sich nicht verlieren. Er musste auf den Gegenstand seines Besu-ches kommen.
„Schappeller?“, fragte Stonborugh, als Bruce erstmals den Namen erwähnte. „Carl Schappeller? Das liegt doch eine Ewigkeit zurück!“
Bruce Cartwright wühlte mit der Rechten in seinem Barthaar: „Es ist heute aktueller als je. Ich muss etwas ausholen: Du hast davon gehört, dass ich einige Jahre damit verbracht habe, die Vision dieses Mannes zu realisieren?“
David Stonborugh nickte. Er lehnte sich im Fauteuil zurück und beobachtete seinen Besucher. Ja, eine Ewigkeit, seitdem sie zusammen die knarrenden Bänke der Schule gedrückt hatten.
Jahrzehnte! David hatte Nancy geheiratet, die Amerikanerin. Und von Bruce hatte David erfahren, er habe ein blutjunges österreichisches Bauernmädchen geehelicht. Seine Familie habe es spät - und schockiert! - hinnehmen müssen.
Bruce Cartwright versuchte, so knapp wie möglich die schwer durchschaubare Persönlichkeit jenes Carl Schappeller zu erklären. Des Privat-Physikers, Erfinders. Des Genies! Das außergewöhnliche Umfeld, in dem er während jener Jahre gelebt, geforscht, gehofft hatte.
„Der Mann hatte eine Idee: Es müsste möglich sein, jene Ur-Kraft, die im All wirksam ist, auf einfache Weise auf der Erde zu nutzen.“
David Stonborugh konnte sich einen Einwand nicht verkneifen. „Ihr stelltet die Verbindung zur englischen Admiralität her. Unsere Admiräle waren von dem Gedanken besessen, die Meere zu durchkreuzen, ohne irgendwo einen Stützpunkt im Imperium anlaufen zu müssen!“
Bruce Cartwright lächelte. Seine klugen Augen blitzten. Er beugte sich nach vorne und sah seinen nachbarlichen Freund verschmitzt an: „Waren es nicht sehr oft jene verrückten Außenseiter, die im Keller ihres Häuschens zustande brachten, wonach wir vermeintlich klugen Leute mit großem Aufwand gesucht haben?“
Der Wissenschaftler erhob sich, strich den Gehrock glatt und trat an eines der Fenster. Er zögerte. Sichtlich verärgert ließ er sich wieder gegenüber dem Gastgeber nieder.
David Stonborugh war betroffen: „Ich wollte dir nicht zu nahe treten, Bruce. Du weißt, dass ich nicht einen Augenblick lang an deinen Fähigkeiten gezweifelt habe. Ich denke aber, dass jene anderen deiner Kollegen in den Staaten nicht in der Lage gewesen wären, die Atombombe zu bauen, hätten sie so wenig Unterstützung erfahren wie die Wissenschaftler in England und in Deutschland. Die Realität, so scheint es mir, erfordert den Einsatz gewaltiger Mittel, um derartige Projekte zu verwirklichen.“
Er machte eine kleine Pause: „Wir stehen an einem entscheidenden Wendepunkt, lieber Freund. Es sieht danach aus, als würden die Leute in Genf in der Lage sein, die wichtigste Frage zu lösen: Sind es diese endlos kleinen Bausteine der Materie? Sie krempeln die Welt der Physik um - und sind nahe dran!“
Bruce Cartwright schüttelte energisch den Kopf. Er sprang auf: „Das ist dieser fürchterliche Unfug, den sie mit Unterstützung gewisser Kreise der halben Welt - auch deiner, deiner Hilfe! - mit euren Milliarden treiben.“
Erregt sprach er auf den Industriellen ein: „Diese ungeheure Anlage ist das größte Verbrechen gegen die Existenz der Menschheit! Erarbeitet von mehr als dreitausend Wissenschaftlern unmittelbar in und um die verrückte Röhre. Die scheußlichste Koordination wissenschaftlicher Forschung.“
Er beugte sich zu Stonborugh hinab: „Verstehst du denn nicht, verehrter Freund, dass sie mit diesem Experiment fortsetzen, was damit begonnen wurde, Atome aufeinander zu jagen?“
David Stonborugh hob beschwichtigend beide Arme: „Du warst mit Rutherford an jenem Experiment beteiligt!“
Bruce Cartwright ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen. Es schien, als würden in dem alten Herrn jene Jahre lebendig, die er mit Rutherford in Kanada und neuerlich in London verbracht hatte. Und es stellte sich immer wieder die an ihn mehr als einmal gerichtete Frage: wofür, warum, wohin?
Der Vorwurf war nicht unberechtigt. Die ganze Welt wusste, wohin das Experiment geführt hatte.
Er machte eine Handbewegung gegen die Decke: „Der da ganz oben gibt mir noch eine Chance, die Irrtümer zu korrigieren. Ich kann nicht zusehen, wie sie den Crash auslösen. Und auch du kannst nicht bis zu diesem schrecklichen Augenblick warten. Wir dürfen nicht untätig bleiben, David! Ein irrer Ehrgeiz treibt sie voran zu versuchen, dem Herrgott einen Streich zu spielen!“
Der Hausherr blieb von den Worten seines Freundes, von seiner Erregung nicht unbeeindruckt.
Dennoch versuchte er, ihn zu beruhigen. „Es mag stimmen, dass es sie nicht kümmert, wenn die Erde dabei in Fetzen fliegt. Sie haben den Beweis erbracht, dass sie neue Elemente kreieren und alte zertrümmern können. Sogar wenn sie selbst - sie selbst! - dabei vor die Hunde gehen!“
Während er sich erhob, sagte er, um sich aus der Affäre zu ziehen: „Lass uns später darüber reden, Bruce. Es ist zum Abendessen angerichtet. Die Damen erwarten uns …“

***

Auf der desolaten Treppe kommt dem Journalisten Ulrich Szepy entgegen.
„Wir haben telefoniert?“
„Sie sind Carl Schappellers Sekretär?“
„Ulrich Szepy.“ Er reicht dem Journalisten die Hand.
„Tut mir sehr leid“, sagt Szepy. „Meister musste dringend weg. Überstürzt!“
Der Journalist Victor Cerny starrt den Sekretär an: „Soll das heißen, ich habe die Reise vergeblich gemacht?“
„Nicht doch. Kann alles erklären. Kommen, bitte, weiter!“
Mit einer Handbewegung fordert der Sekretär den Zeitungsmann auf, ihm zu folgen.
„Treppe ist in Zustand, wie Graf Arco das gesamte Gebäude hinterlassen hat. Arcos sind Geizhälse. Haben Schloss ausgeraubt!“
Der Sekretär öffnet die Tür zu einem kahlen, nur notdürftig eingerichteten Raum. Die Wände sind gekalkt, ein alter Schreibtisch, einige mit verblasstem Stoff bespannte Stühle. Auf einem dieser Stühle nimmt der Sekretär Platz und deutet dem Journalisten an, das Gleiche zu tun.
Victor Cerny zögert. „Was soll das? Ich habe die Reise in dieses abgelegene Nest unternommen, um Carl Schappeller zu sprechen. Nicht seinen Sekretär!“
Ulrich Szepy lächelt. „Sagte Ihnen doch: Meister musste wegfahren. Vielleicht er wird zurück sein, während wir beide führen Gespräch.“
Der Journalist schüttelt verärgert den Kopf: „Na gut. Sie sind in der Lage, meine Fragen zu beantworten?“
Ulrich Szepy zuckt mit den Schultern. „Kann ich anbieten Kaffee, Tee?“
Victor Cerny nickt und rückt einen Stuhl so zurecht, dass er dem Sekretär am Schreibtisch gegenübersitzt.
Dieser schiebt seinen Stuhl zurück und geht zu einer Tür, die jener gegenüberliegt, durch die sie den Raum betreten haben.
„Bestelle Kaffee. Haben etwas Geduld.“
Der Journalist stellt seine Tasche auf dem Bretterboden ab und entnimmt ihr einen Notizblock. Er ist verunsichert. Soll er den Raum verlassen? Will ihn dieser Sekretär zum Narren halten?
Ulrich Szepy kehrt an den Stuhl hinter dem Schreibtisch zurück.

„Nicht komfortabel. Aber Meister lässt restaurieren. Sie werden fragen: Warum Schloss kaufen, experimentieren - Suche nach Ur-Kraft? Lange Geschichte.“
„Und was antworten Sie den Leuten? Welche Antwort gibt Schappeller?“
„Warum hat Graf von der Wahl gebaut hier Schloss? Gottverlassene Gegend. Kennen Meister das Geheimnis ebenso wie Graf von der Wahl?“
Ein Mädchen kommt durch die Tür, zelebriert einen Knicks vor den beiden Männern und stellt das Tablett mit den Kaffeetassen auf dem Schreibtisch ab.
„Danke, Evelyne, danke!“ Und zu dem Journalisten gewandt: „Warum hat hoher Beamter des bayerischen Kurfürsten - Graf von der Wahl - großartiges Schloss hier errichten lassen? Warum hier? Öde Gegend. Entfernt von Residenzstadt München?“

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