Avanti, zurück ins Leben!

Avanti, zurück ins Leben!

Philippe Hasler


EUR 18,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 368
ISBN: 978-3-99064-631-1
Erscheinungsdatum: 03.06.2019
Der junge Schweizer Maurizio greift in einer Phase von Hoffnungslosigkeit zu Alkohol und Drogen. Schon sein Vater neigt zu Alkohol und häuslicher Gewalt. Endlich bricht Maurizios Mutter das Schweigen und lässt sich scheiden. Die Karten werden neu gemischt …
Prolog 1

Leben

Der Mensch wird geboren
als der, der er ist.
Der Mensch wird geformt
durch das, was ihn berührt.
Der Mensch lebt und wird -
beeinflusst und entschieden
von außen und von innen -
zu dem, der er ist in der Welt.
Es ist die Entscheidung des Individuums,
sich zu entwickeln und zu lernen,
oder zu verharren und zu leiden.










Höllenfahrt (Teil A)
Vorboten



Am Horizont bauen sich dunkle Wolkentürme auf

Dienstagmorgen, sechs Uhr fünfunddreißig

Ein heftiger Wind rüttelt an den verschlossenen Rollladen, Regentropfen pochen gegen die Plastiklamellen, das Quietschen der Straßenbahn mischt sich unter das Brummen der Autos, die vor der Ampel warten, und unter das Aufheulen der Motoren, wenn das Signal auf Grün wechselt. Stimmen durchdringen das leise Rauschen des Regens, man hört das Trippeln von Schritten auf dem Asphalt. - Ein ganz gewöhnlicher Morgen in einem nassgrauen, kühlen und trüben Monat Mai.
Die Stadt erwacht.


Dienstagmorgen, sechs Uhr achtunddreißig

„Biip - biip“, leise klingelt er noch, der Wecker, doch immer penetranter beginnt er zu piepen.
„Verdammter Scheißwecker!“ Mit einem Faustschlag wird er zum Verstummen gebracht, worauf er aus dem Gleichgewicht gerät und klappernd über den Parkettboden in die nächste Ecke kullert.
Nachdem er ihn kurz hochgewuchtet hat, lässt Maurizio seinen schweren Kopf wieder ins Kissen fallen, die Schädeldecke fühlt sich an, als ob sie nächstens abheben wollte, wie er seine Baseballmütze am Abend von seinem Haupt löst. Es hämmert und dröhnt in seinem Gehirn, und es ist ihm, als ob siebenhundert Zwerglein sich um einen einzigen Stuhl balgen würden, auf den sich jedes gern setzen möchte. „Scheiße! Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

Dienstagmorgen, sechs Uhr dreiundvierzig

„Biip - biip“, der Wecker, schon wieder! - Unerbittlich setzt er erneut an, leise noch, doch schon beginnt sich der durchdringende Ton zu steigern: „Biiip, biiip!“ Maurizio weiß, eigentlich gibt es kein Ausweichen. ‚Faule Sau, klemm dich in Arsch!‘ - Bleischwer bleibt der Körper in der Matratze versenkt. Ein verzweifelter Versuch, den Rumpf allen Widerständen zum Trotz in die Vertikale zu heben, scheitert in Anfang einer eruptiven Bewegung in der Magengegend: Säure steigt die Speiseröhre empor, es brennt bis in den Hals hoch! Ätzend!
Die Horde Zwerglein unter der Schädeldecke scheint sich für einen Moment in einen Schwarm wild gewordener Hornissen verwandelt zu haben. Absolut ätzend!


Dienstagmorgen, sechs Uhr achtundvierzig

„Biip - biip“, das Piepen wird lauter, penetranter. „Scheißwecker, verfluchtes, verdammtes Scheißding!“ Die Hand, mit einem Anflug von Wut in die Höhe gewuchtet, knallt mehr schlaff als wuchtig auf die Holzplatte des Nachttischchens, auf dem das unschuldige Ding aus schwarzem Kunststoff vor wenigen Augenblicken noch stand.
„Scheiße, Scheiße!“, röchelt eine heisere Stimme aus dem Kopfkissen.
Das Piepsen schwillt zu einem ohrenbetäubenden, markdurchdringenden Alarm an! „Verdammtes, verrecktes Scheißding, wo liegst du nur? Verflucht noch mal!“, tobt Maurizio. In einem Anflug von Verzweiflung rollt er sich aus der Matratze auf den Fußboden, gleitet in die Richtung, aus der der elektronische Ruf schallt, und packt das arme Ding, als ob er es zerquetschen müsste.
„Biip.“
Dann Stille, durchbrochen nur von einem Stöhnen und Keuchen von jemandem, dem der Rest Lebenskraft aus dem Körper zu weichen scheint und der sich nun wie leblos hindrapiert, dem Fußboden hingibt. Wie gebannt richtet sich sein Blick auf dieses kleine Ding vor ihm, welches durch ein leises „Tack-Tack-Tack“ unaufhaltsam und unbarmherzig den Fortgang der Zeit kundtut.


Dienstagmorgen, sechs Uhr dreiundfünfzig

Zum vierten Mal setzt der Piepston ein, zögernd erst, fragend, beinahe bittend. Maurizio weiß aus Erfahrung, dass es nur Sekunden dauern wird, bis er wieder die Frequenz erreicht haben wird, die ihn zum Folterinstrument werden lässt. „Verfluchtes, verdammtes Scheißding!“
Der Energieausbruch war Überforderung pur, schwer knallt der Kopf auf den Parkettboden nieder, die Körperspannung löst sich. Maurizio röchelt, als würde er leibhaftig am Kreuz hängen und nur auf den erlösenden Todesstoß warten!
Urplötzlich strömt wieder Leben in sein Gesicht! Mehr lallend als sprechend scheint er sich bei seinem Wecker entschuldigen zu wollen: „Eigentlich kannst du ja nichts dafür! Eigentlich.“ Und dabei denkt er sich: ‚Eigentlich sollte ich jetzt wirklich aufstehen - schon wieder zu spät kommen ist nicht drin: am Mittwoch krank, am Freitag Benzin ausgegangen, gestern einen Platten … Nicht schon wieder so was! Lange kann ich dieses Spiel nicht mehr spielen, sonst geht es wieder so, wie schon oft: Herr Salvelli, wir gedenken in Zukunft auf Ihre Dienste zu verzichten! Dieses herablassende Getue des Chefs! - Scheiß-chef! - Eigentlich soll …‘
Der Geist ist schwach, und das Fleisch folgt ihm willig! Abermals zieht sich die rechte Hand zusammen, als halte sie eine Zitrone darin, die es vollständig auszudrücken gilt. Stille breitet sich im Raum aus! Nur das „Tack-Tack-Tack“ erinnert daran, dass der Tag unaufhaltsam älter wird.
Das schwarze Loch hat über Maurizio gesiegt. Die Gedanken schweigen, sie wollen nicht gedacht werden, so nicht, jetzt nicht!


Dienstagmorgen, sechs Uhr achtundfünfzig

„Biip - biiip - biiip - biiiiipp - biiiiipp - biiiiiiiiiipppp.“
„Scheißding, kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen?!? Verflucht noch mal!“, schimpft Maurizio. Mit wem eigentlich?
‚Komm schon, mach dir nichts vor: Der Wecker ist nicht wirklich der Grund! Eigentlich ist ihm klar: Es sind der Scheißschnaps, die Scheißkollegen, der Scheißmagen, die Scheißkopfschmerzen, das Scheiß-eigentlich-alles!‘
Und der Scheißkopf fällt erneut auf den harten Scheißboden. Und noch mal geben die Gedanken für ein paar Augenblicke Ruhe. Erlösende Ruhe? Ruhe vor dem Sturm? - Ruhe, einfach Ruhe!
Aber bald rumort es wieder in den Hirnwindungen: ‚Was soll das Ganze eigentlich? Lass doch diese blöden Spiele! Wo ist schon wieder das Alka-Seltzer?‘ Und es folgt ein Schub dieser alles andere als erbaulichen Lebensweisheiten, die anscheinend nur danach trachten, einen im unpassendsten Moment auf dem falschen Fuß zu erwischen, um einen noch tiefer ins Elend zu pressen: ‚Wer saufen kann, kann auch aufstehen! - Ein Indianer kennt keinen Schmerz! - Du kannst es schon, du musst nur wollen!‘
Maurizio schreit sein Elend in den Raum: „Neiiin! Jetzt hör einfach auf damit, du Scheißvater, du! Schenk dir deinen Rat, und schau nur, wohin du es gebracht hast, mit deinem ‚Man muss nur hart genug sein, dann …‘ Alle und alles hast du damit ins Elend geritten, alle, du verfluchtes Arschloch, du!“
Vom nahen Kirchturm erklingen vier doppelte Glockenschläge, hell und leicht. Danach dröhnt es sieben Mal dunkel und dumpf.
‚Wenn du dich jetzt aufraffst, schaffst du es gerade noch!‘ In einem Anflug von Energie hievt Maurizio seinen geschundenen Körper vom Fußboden hoch und bewegt sich im Versuch einer Synthese von Torkeln und zielgerichtetem Gang Richtung Badezimmer. Gerade noch rechtzeitig erreicht er die Kloschüssel, um die Reste seines Mageninhaltes auf direktem Weg dem Kanalisationssystem seines Quartiers zu übergeben. ‚Wenigstens du gibst jetzt endlich Ruhe!‘
‚Hier, Alka-Seltzer, endlich! - Leer!‘
Und er legt sich erneut ins Zeug: „Scheiße noch mal!“










Nachtmeerfahrt (Teil A)
Das Schiff nimmt Kurs auf das Festland
In der Ferne ist ein Leuchtturm in Sicht



„Guten Tag, Frau …“ Rechtsanwalt Helfenstein macht eine bedeutungsvolle Pause und blickt seiner Klientin fragend in die Augen.
„Grüezi, Herr Helfenstein“, erwidert die Angesprochene, „sagen Sie schon mal Künzi zu mir, das ist im Moment besser, wenn auch noch nicht ganz legal.“
Der grau-melierte Herr mit dem sportlich-eleganten beigen Leinenanzug reicht der Dame die Hand und zieht mit der anderen einen Stuhl unter dem Besprechungstischchen hervor: „Legal oder illegal, das ist doch jetzt egal, Frau Künzi. Bitte nehmen Sie Platz!“
Nachdem sie sich hingesetzt hat, kramt sie in ihrer Handtasche nach dem Brillenetui und der Zigarettenschachtel, um dann beides sorgfältig vor sich auf dem Tischchen zu platzieren. Unterdessen schreitet der Anwalt zu seinem Schreibtisch. Dort durchwühlt er einen Stapel Papiere, der ziemlich ungeordnet aussieht. Mit einer Geste, die dem Akt Bedeutsamkeit verleihen soll, zieht er alsdann ein Dossier hervor und wedelt damit in der Luft. Während er sich in die Besprechungsecke zurückbegibt, schiebt er sich mit der anderen Hand eine Lesebrille auf die Nase.
Bei der Klientin angekommen, schlägt er das Deckblatt auf und bohrt seine Augen in das erste Papier. Umgehend hebt er den Kopf wieder an und schaut über den Rand der Brille weg auf seine Mandantin. Die Frau hält ihren unsicheren, leeren Blick auf die braune Tischfläche fixiert.
„Der Prozess findet, wie ich Ihnen am Telefon angekündigt habe, übernächsten Donnerstag statt, 15 Uhr, Bezirksgericht Kreis 5!“, spricht der Anwalt mit ruhiger Stimme.
Die Frau zuckt zusammen: „Ja …, plötzlich … so rasch?“
Nervös tasten ihre Finger nach der Zigarettenschachtel. Die Box entgleitet ihr im ersten Anlauf, erst im zweiten Versuch gelingt es ihr, den Deckel aufzuklappen. Als sie jetzt versucht, eine Zigarette herauszuklopfen, purzeln gleich vier oder fünf auf den Tisch. Sie rafft die Dinger hastig zusammen. Dies alles vollzieht sie in einer enormen körperlichen Anspannung. Ihr zierliches Gesicht verhärtet sich dabei zusehends. Es erfolgt ein heftiger Ausatem: Der Körper sackt urplötzlich in dem schwarzen Ledersessel in sich selbst zusammen.
„Neiiin!“ Begleitet von einem unterdrückten Schrei beginnt die Frau zu weinen. Beide Hände pressen sich seitlich gegen den Kopf, als drohte dieser sonst zu explodieren. Der Klageton verwandelt sich in ein allmählich anschwellendes Schluchzen: Die Tränen, die sie seit Monaten zurückgehalten hat, sind nicht mehr zu bremsen. Sie lässt ihnen freien Lauf.
Immer wieder hat sie sich im Lauf der letzten Monate eingeredet: ‚Stark sein! Du musst stark sein, da musst du jetzt endlich mal ganz durch!‘ Und wenn die Resignation wieder einsetzte, begann sie wie in einem Gebet zu sich zu sprechen: ‚Nicht schwach werden, nicht aufgeben. Du darfst keine Zweifel aufkommen lassen. Augen zu und durch.‘ - Mehrfach schon in ihrem Leben war sie an dem Punkt gewesen, auszusteigen aus dem höllischen Spiel. Immer wieder war sie dann jedoch der Illusion erlegen, es werde alles gut. Wie oft hatte sie voller Hoffnung einen neuen Anlauf genommen, um dann nach wenigen Wochen erneut feststellen zu müssen, dass alles wieder beim Alten war, ja, gar noch schlimmer wurde?
‚Und jetzt?‘
Der Anwalt scheint für solche Situationen eine gewisse Routine entwickelt zu haben. Gelassen legt er das Dossier auf das Tischchen. Dezent Distanz haltend, zückt er aus seinem Jackett eine Packung Papiertaschentücher und drückt der Frau eines in die Hand. Dann bleibt er stehen. Er sieht, wie der zerbrechlich wirkende Körper seiner Klientin zusammenzuckt und wie er bei jedem Schluchzer geschüttelt wird. Ruhig und bestimmt legt er seine rechte Hand auf die Schulter seiner Mandantin und wartet. Es dauert einige Minuten, bis sich die Frau zu fassen beginnt.
Unvermittelt hört sie auf zu weinen und richtet sich auf. Sie wagt es nicht, ihre Augen anzuheben. Was mag dieser fremde Mann von ihr denken? … Wieso hat sie sich dermaßen gehen lassen müssen? - Einen kleinen Moment lang hadert sie innerlich mit sich selber.
Noch mal gibt sie sich einen Ruck und blickt scheu zu ihrem Anwalt hoch: „Entschuldigen Sie, Herr Helfenstein, es tut mir … sooo …“
Weiter schafft sie es nicht. Abermals sackt sie in sich zusammen. Erneut heult sie Rotz und Wasser. Wie in einem Film ziehen Szenen aus den letzten Jahren über eine Leinwand hinter ihrer Stirn, scheinbar zusammenhanglos laufen sie vorbei: Fragmente aus dem Leben der Ruth Künzi. Es sind fast ausschließlich düstere Bilder, schwer ist das Klima, in das sie eingebettet sind, sehr, sehr schwer. Frau Künzi hat vergessen, dass sie in einem fremden Raum sitzt. Sie hat vergessen, dass die Hand eines ihr nicht vertrauten Mannes ihre Schulter berührt. Bilder rauschen vorbei, Tränen fließen herunter, Gedanken strömen durch den Kopf, Emotionen steigen auf und vergehen wieder. Sie hat sämtliches Gefühl für Raum und Zeit verloren.
Nach einer Ewigkeit von einigen Minuten beginnt sich ihr Körper zu beruhigen, die inneren Bewegungen verebben. Noch mit geschlossenen Augen atmet sie zwei, drei Mal tief durch.
Jetzt erst nimmt sie die Hand dieses unbekannten Mannes auf ihrer Schulter wahr. Die Berührung ist fremd und doch irgendwie nahe, und wohltuend ruhig. Sie gibt ihr Kraft und Zuversicht. Frau Künzi spürt ein tiefes Vertrauen zu diesem Menschen, wie es ihr so bisher noch nicht begegnet ist: Da ist jemand einfach da! Da gibt es eine Berührung, die nichts von ihr will. Da sagt eine Hand zu ihr: ‚Du darfst.‘
Wieder blickt sie dem Anwalt ins Gesicht. Dieser schaut dezent auf den Fußboden. Einen Moment später hebt auch er vorsichtig seinen Blick. Ihre Augen begegnen sich für einen Augenblick. Das ist schon wieder zu viel für die völlig aufgeweichte Frau: Alles geht ihr zu nahe, fährt ihr ungefiltert unter die Haut! Noch mal durchfährt ein Beben ihren Körper, noch mal entladen sich in einer weiteren Eruption jahrelang unterdrückter Schmerz und weggesperrte Trauer.
Dieser letzte Ausbruch ist von kürzerer Dauer. Als er nachlässt, hebt der Anwalt behutsam seine Hand von der Schulter der Frau und schreitet um das Tischchen herum zu seinem Stuhl. Dort setzt er sich hin und öffnet ruhig das Dossier.
Frau Künzi kamen die letzten Minuten vor wie Stunden. Wie soll sie diesem Mann nun ins Gesicht sehen, ohne erneut in Tränen auszubrechen? Sie versucht es mit Härte: ‚Komm, stell dich nicht so an, Heulsuse! Reiß dich zusammen!‘ - Doch das klappt nicht, ihre alten Strategien versagen: Sie spürt erneut Tränen aufsteigen. Und sie fühlt sich völlig hilflos.
Da fällt ihr eine Situation als kleines Mädchen ein: In der ersten oder zweiten Klasse sitzt die klein Ruth völlig hilflos vor einer Rechenaufgabe. Sie wird durchgeschüttelt und bricht in Tränen aus. Wie ein rettender Engel erscheint auf einmal ihre Klassenlehrerin und rät ihr, mit dem Atem immer wieder bis zehn zu zählen, bis sie sich ganz beruhigt habe. Also versucht sie auch jetzt, tief durchzuatmen, um so innere Klarheit zu gewinnen. In diesem Moment der Stille hat sie mit einem Mal das Gefühl, einen gewaltigen Ballast loslassen zu können. Gleichzeitig spürt sie eine tiefe Dankbarkeit für diesen Menschen, der ihr den Raum gelassen hat, das zu tun, was sie sich seit der Zeit als Primarschülerin verboten hat: schwach zu sein und zu weinen.
Immer hatte sie die Starke sein müssen! Als kleines Mädchen schon, als ihre Mutter nach der Geburt ihres jüngeren Bruders monatelang im Spital verbringen musste: „Du darfst nicht weinen, sonst tut es mir noch mehr weh!“, sagte die Mutter immer, wenn sich der Vater mit ihr, der kaum Dreijährigen, nach dem Besuch auf den Heimweg machte. - Und: „Hilf dem Vater, er hat sonst keine Frau im Haus!“
Oder später, als der Vater unter seinem Lungenkrebs zu leiden begann: Weil sie ja gerade eine kaufmännische Lehre machte, musste sie das Büro des kleinen Baugeschäftes führen. Und dies am Abend oder am Wochenende.
„Du bist stark, Ruthli, das schaffst du schon!“, redete die Mutter ihr ein. - Und: „Es muss halt sein, jemand muss es richten. Wie sonst soll ich eure drei hungrigen Münder vollkriegen?“
Es war eine schwere Zeit gewesen! Ihre Kameradinnen durften in die Disco gehen, hatten ihre ersten Freunde. Für diese begann das richtige Leben, während Ruth zu Hause eingespannt blieb, bis der Vater dank verschiedensten Therapien und Kuren nach über zwei Jahren den Betrieb endlich wieder ganz übernehmen konnte.
Es folgten zwei Jahre, während derer sie sich einfach nur müde fühlte. Mit Müh und Not schaffte sie die Lehrabschlussprüfung und brachte auch die Arbeit an der Lehrstelle mehr recht als schlecht zum Abschluss.
… und genau an dem Tag, als die ganze Mühsal vorbei war, trat ihr zukünftiger Mann in ihr Leben! Francesco war Polier im Geschäft ihres Vaters. Da Ruths älterer Bruder just in dieser Zeit den väterlichen Betrieb verließ und auszog, wurde dem quasi neuen zweiten Mann in der Firma die Mansarde im Dachgeschoss ihres Elternhauses angeboten. Er zog umgehend dort ein. Franco, wie er genannt wurde, stammte aus Süditalien. Er war mittelgroß und kräftig gebaut. Auffallend waren sein schwarzes, lockiges Haar, die großen dunkelbraunen Augen und die blitzend weiße Zähne, durch welche sein strahlendes Lächeln unter dem dichten schwarzen Schnurrbart noch mehr zur Geltung kam. Kurz, er war ein Traum von einem Mann!
Da Ruth sich bisher nicht um Verhütung und dergleichen gekümmert hatte und sie in ihrer Unerfahrenheit dem Drängen dieses Casanovas nichts entgegenzusetzen wusste, war sie schwanger, bevor ihr Leben richtig begonnen hatte. Die Hochzeit, der Bezug einer eigenen Wohnung und die Geburt ihrer Tochter folgten Schlag auf Schlag. Bald darauf war Ruth zum zweiten Mal schwanger. Es folgten die Geburt ihres Sohnes, der Umzug in eine größere Wohnung, die Einschulung der Kinder … Es ging alles sehr schnell - heute würde sie sagen viel zu schnell!
Jetzt ist ihr sonnenklar: Immer hatte sie das getan, was ihr von außen auferlegt worden war, immer hatte sie sich für das entschieden, was getan werden musste. Nie hatte sie sich gefragt, was SIE wollte! Sie war nie danach gefragt worden und hatte sich diese Frage auch selber nie gestellt! Erst über die Ereignisse der letzten Wochen und Monate hatte sie festgestellt, was sie nicht (mehr) wollte. Über diesen Umweg hatte sie gelernt, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und sich vermehrt daran zu orientieren.
Der Anwalt räuspert sich dezent, um sie merken zu lassen, dass sie nicht allein im Raum ist. Verlegen blickt sie den Mann an: „Entschuldigen Sie bitte, … tut, … tut mir leid, ich lag bis gestern mit einer Darmgrippe im Bett, und, … und bin noch nicht ganz auf dem Damm.“
Sie schämt sich dermaßen für ihre Gefühlsausbrüche, dass sie am liebsten im Erdboden versinken würde. Aber sie weiß, wieso sie hier ist, und das gilt es nun durchzuziehen! Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie bereit, etwas für sich zu tun. Und das fühlt sich gut an.
„Jetzt bin ich wieder da“, sagt sie schon etwas bestimmter, wischt sich mit dem Taschentuch die letzten Tränen aus den Augen und haucht: „Danke vielmals!“
„Nichts zu danken“, erwidert der Mann. Seine Stimme ist so warm und freundlich, dass sich Ruth voll aufgehoben fühlt.
Dies gibt ihr den Mut, sich ihm anzuvertrauen: „Mir ist einfach meine ganze Geschichte hochgekommen. Es war bis heute einfach keine Zeit, das alles zu verarbeiten.“
„Das kann ich mir gut vorstellen“, erwidert Herr Helfenstein, „man strebt ja auch nicht grundlos eine Scheidung an.“
Nach einer kurzen Pause nimmt er das Gespräch wieder auf: „Sollen wir nun zum Geschäftlichen übergehen?“
Sie nickt.
Er erklärt ihr den genauen Ablauf. Er empfiehlt ihr, vor dem Richter direkt nichts zu sagen. Sie solle einfach ihn reden lassen.
„Das Gericht ist nicht der richtige Ort, um schmutzige Wäsche zu waschen oder sich die Wunden zu lecken. Lassen Sie mich das Rechtliche erledigen, das ist mein Job. Ob und wie Sie später mit ihm verkehren wollen und was Sie für sich selber zu verarbeiten haben, das ist dann Ihr Job, und das tun Sie wohlweislich andernorts“, erläutert er seine Sicht der Dinge.
So fühlt sie sich sicher. Und mit dem Letzteren will sie sich Zeit lassen, das ist ihr klar. Zu oft hat sie sich von ihrem Franco drängen lassen, zu oft hat sie genau dann falsch gehandelt. Damit soll nun ein für alle Mal Schluss sein. - ‚Finito!‘
„Ist denn zu befürchten, dass das Gericht die Scheidung nicht annimmt, weil sich mein Mann so dagegen wehrt?“, fragt sie den Anwalt ängstlich.
„Davon ist nicht auszugehen. Die gesetzliche Trennungszeit ist längst abgelaufen, und da neben Ihren Aussagen mehrere Polizeiprotokolle über häusliche Gewalt vorliegen …“
Herr Helfenstein unterbricht sich selbst. Er hat bemerkt, dass die Frau urplötzlich ganz steif geworden ist. Ihre Augen sind weit geöffnet, wie bei einem Menschen, der unter Schock steht, sie wirkt total abwesend. Wie das Mäuschen vor der Schlange hält sie den Atem an.
Das Wort Gewalt hat wieder einen Schwall an Erinnerungen wachgerufen: Bilder, die sie bisher mühsam unter einem Deckel gehalten hat. - Es geht nicht mehr! Die Erlebnisse kommen mit einer solchen Wucht hoch, dass sie kapitulieren muss. Erneut gewinnen die Tränen Oberhand.
Ach, wie kurz waren die glücklichen Tage mit ihrem Franco gewesen: Die ersten drei Jahre schwebte sie auf einer rosaroten Wolke! Lustig waren die gemeinsamen Stunden mit den beiden Kindern und die Familienpicknicks an den Wochenenden. Da sie mittlerweile wusste, dass Sexualität nicht zwangsläufig zu einer Schwangerschaft führen musste, konnten sie diese auch zunehmend genießen: Sie hatten öfters wilde Liebesnächte.
Auch sonst schien alles ideal zu laufen. Franco war zum Bauführer aufgestiegen, ihr Vater schenkte ihm viel Vertrauen. Die Arbeit machte ihm Spaß. Abends kam er müde nach Hause, zusammen aßen sie dann Abendbrot, und er setzte sich vor den Fernseher, während sie die Kleinen zu Bett brachte. Oft genossen sie dann faulenzend den Abend. Franco trank beim Fernsehen immer seine zwei, drei Bier und wirkte damit gemütlich und zufrieden.
5 Sterne
Lieblingsbuch - 16.07.2019
L.Niedermann

Viel Fachwissen aus langer Erfahrung, ansprechend geschrieben, in einem spannenden Roman verpackt. Für mich mehr als lesenswert..

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