Die Chroniken des Zaubersteins

Die Chroniken des Zaubersteins

Die Prüfung

Rinanka Kos


EUR 20,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 504
ISBN: 978-3-95840-086-3
Erscheinungsdatum: 09.03.2016
Eine Gruppe aus Elfen, Zwergen, Halbriesen und andere Lebewesen soll den verschwundenen Stein der Zauberer finden. Doch ein geheimnisvoller Fremder erschwert ihre Suche und unzählige Abenteuer warten. Lass dich entführen in eine Welt voller Magie und Zauberei!
Kapitel 1 – Das Beben

„Lauft, lauft, beeilt euch!“, rief Tors. „Wir sind gleich da, ich sehe schon das Tageslicht.“
Ganz in der Ferne, am Ausgang des bebenden Tunnels, funkelte ein Sonnenstrahl direkt in den Tunnel hinein und hüllte ihn für einen kurzen Moment in verschiedene Farben ein, was aber den Laufenden entging.
„Es kann nicht mehr lange dauern, kommt, lauft doch!“ Am liebsten hätte Tors alle auf den Arm genommen, um sicher aus dem Tunnel herauszukommen. Mit seinen langen Beinen konnte er mit Sicherheit am schnellsten laufen.
Daya guckte nach vorne, um zu sehen, ob Tors recht hatte, und für den Bruchteil einer Sekunde meinte sie im Lichtstrahl etwas zu sehen, was aber gleich darauf auch schon wieder verschwunden war. Der Tunnel schwankte und die Erde bebte immer stärker und stärker. Überall stürzten Steine herunter und Staub wurde aufgewirbelt und verschlechterte die Sicht.
Daya konnte kaum etwas sehen und dann musste sie auch noch husten. Der Tunnel würde nicht mehr lange halten. Er konnte jeden Moment zusammenstürzen. Große Risse erschwerten die Flucht erheblich, und wenn sie und die anderen es nicht schafften, herauszukommen, dann konnte niemand mehr die Suche nach dem Stein der Zauberer weiterführen.
Dann passierte es, Daya strauchelte, ihre Fußspitze verhakte sich in einem Riss und Daya konnte sich nicht mehr länger auf den Beinen halten, sie fiel vornüber auf die Knie. Tränen traten ihr in die Augen. Eine leichte Panik stieg in ihr hoch, schnell schluckte sie ihren Schmerz hinunter, schaute hoch und machte Anstalten, wieder aufzustehen.
In diesem Moment war Tors schon da, er kam ihr gleich aus Höflichkeit zu Hilfe. Jeder vom Westvolk würde das tun, ohne darüber nachzudenken, aber auch weil er direkt hinter ihr war und sonst nicht an ihr vorbeigekommen wäre. Er warf Daya so schnell, wie es ging, über seine Schulter und lief, so rasch er konnte, weiter. Für Tors war das keine besondere Anstrengung, weil Daya für ihn nicht viel mehr wog als eine Feder.
Tors vom Westvolk ist ein Halbriese und die Halbriesen sind ein Volk, das handelt und nicht erst erklärt.
Die beiden anderen, zwei Zwerge, Ramun und Nelfin, hatten das Ende des Tunnels schon fast erreicht, als sie das erste Mal den Schrei hörten. Er ging durch Mark und Bein.
Plötzlich blieben alle stehen. In diesem Moment erklang der Schrei ein zweites Mal, dieses Mal klang er voller Verzweiflung, gleichzeitig bebte die Erde noch heftiger, als würde der Schrei die Ursache des Bebens sein. Ringsumher fielen immer mehr Steinbrocken herunter, sie mussten höllisch aufpassen, um nichts abzubekommen. Die Erde bebte so heftig, dass sie sich nur noch schwer auf den Beinen halten konnten. Und weiterhin fielen Steinbrocken herunter, die immer größer wurden. Noch mehr Staub wirbelte hoch und verursachte bei den Zwergen einen Niesreiz.
Eingeschüchtert durch die Schreie blickten sie zu Tors. Der Schrei klang beim zweiten Mal nicht nur verzweifelt und ängstlich, sondern irgendwie auch hoffnungslos. „Wa-wa-was in, in a-a-aller W-W-Welt war d-das?“, stotterte Ramun und seine Stimme zitterte vor Entsetzen.
Tors brüllte über den Lärm von herabfallenden Steinbrocken und das Beben der Erde den anderen zu: „Lauft, lauft doch, wir müssen es schaffen!“ Dann setzte er sich wieder in Bewegung, dabei schubste er die Zwerge kurz an, damit sie nicht länger stehen blieben, sondern sofort weiterliefen. Er trug dabei immer noch Daya über seiner Schulter, ohne auf ihre Gegenwehr zu achten, und die war nicht gering für eine Elfe.
Sie schlug Tors mit beiden Fäusten auf den Rücken und versuchte ihn zu treten, wo sie nur konnte, damit er sie wieder hinunterließ. Aber Tors reagierte überhaupt nicht, das machte Daya richtig wütend und sie begann zu schimpfen, ganze Tiraden. Ihr Wortschatz an Schimpfwörtern war lang, sogar einen Drachen hätte sie damit beeindruckt, nur Tors nicht.
Ramun und Nelfin rannten, so gut es ging, weiter auf den Ausgang zu. Dass es der Ausgang war, das konnten sie jetzt auch trotz des Erdbebenlärms hören, weil da draußen ein riesengroßer Wasserfall den Hang hinuntertoste.
Endlich am Ausgang angekommen, wo sie plötzlich stehen bleiben mussten, weil vor ihnen nur noch ein kleiner schmaler Sims war, konnte die kleine Gruppe ein wenig zu Atem kommen, obwohl die Gefahr noch lange nicht gebannt war. Sie konnten zwar nicht mehr begraben werden, aber durch das ständige Beben immer noch herunterfallen, und das wäre genauso schlimm.
Was keiner sehen konnte oder auch nur ahnen konnte, über ihnen stand eine große Gestalt in einem schwarzen Umhang und schaute sehr verärgert aus, so als ob sie es jammerschade fand, dass die vier es aus dem Tunnel geschafft hatten. Sie war gerade dabei, einen Zauber auszusprechen, als sie geblendet wurde und selbst fast den Halt verlor. Die Gestalt gab für diesen Moment auf, aber sie würde zurückkehren, das hatte sie sich geschworen. Das Erdbeben hatte immer noch nicht aufgehört und sie standen jetzt auf einem schmalen Sims, der gerade genug Platz zum Stehen ließ. Leider war der Sims durch das Beben sehr instabil geworden. Er zeigte schon gefährliche Risse, ab und zu fielen kleinere Steinchen herunter. Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis die Steinchen den Boden erreichten. Keiner traute sich zu nah an den Rand heran, um zu schauen, wie tief die Steinchen hinunterfielen. Der Lärm war gewaltig und das Tosen des Wasserfalls dröhnte den vieren in den Ohren.
Hier waren sie also auch nicht in Sicherheit. Sie mussten so schnell wie möglich einen Ausweg finden und den Sims verlassen. Im ersten Augenblick schien es schier unmöglich. War ihre Suche schon so schnell zu Ende, kaum dass sie begonnen hatte? Nein, das durfte nicht sein.
Auf der linken Seite, von wo auch der schreckliche Lärm herkam, war der riesengroße Wasserfall. Hier ging der Weg bestimmt nicht weiter.
„Was tun wir jetzt?“, schrie Ramun über das Tosen des Wasserfalls hinweg Tors vom Westvolk zu.
Tors hatte die Leitung der kleinen Gruppe übernommen, seit sie auf ungewöhnliche Weise zusammengekommen waren. Er setzte, während er überlegte, die immer noch strampelnde und wütend schimpfende Daya behutsam auf dem Sims ab und entschuldigte sich für die Unbequemlichkeit.
Fast wäre Daya heruntergefallen. Sie war so schrecklich wütend auf Tors, schließlich konnte sie selber laufen. Sie hätte am liebsten einen großen Abstand, und zwar so groß wie möglich, zwischen sich und ihn gelegt. Daya war so verärgert, dass sie einen unkontrollierten Schritt zum Rand hin machte. Zum Glück stand Nelfin noch vor ihr und verhinderte so, dass die wütende Daya hinunterpurzelte. Nelfin war einer vom Nordvolk, also ein Zwerg genau wie Ramun. Die beiden sind Brüder, nicht einfach nur Brüder, sondern Zwillingsbrüder. Zwerge sind für ihre Standhaftigkeit bekannt, sie sind zwar nicht so groß, aber dafür sehr breit und klobig. Und eine Elfe wie Daya prallte einfach von einem Zwerg wie Nelfin ab.
Sie schaute erschrocken hinunter und ihr wurde ganz flau im Magen. Sie dachte: Was ein Glück, dass ich keine Höhenangst habe. Daya war eine vom Südvolk, dunkelhäutig und sehr zierlich. Sie ist eine Elfe und die Elfen sind ein Volk, welches sehr neugierig und sehr impulsiv ist. Manchmal können sie auch ziemlich aufbrausend sein.
Erneut bebte die Erde, sie bebte immer stärker und stärker, der Sims begann schon gefährlich zu wackeln, er bekam immer mehr Risse. Sie spürten, wie kleine Steinchen unter ihren Füßen in den Abgrund rieselten. Ramun schrie auf und umklammerte aus Angst seinen Bruder.
„Wir müssen uns beeilen, um von hier runterzukommen, jetzt macht schon!“, drängelte Ramun. Prompt fielen die ersten großen Brocken vom Sims herunter. „Wenn wir jetzt nicht losgehen, stürzen wir in die Tiefe!“, schrie Ramun in Panik und schaute sich verzweifelt um, dabei hielt er immer noch seinen Bruder umklammert.
Nelfin hatte sich sofort umgeschaut, als sie den Tunnel verlassen hatten, und einen sehr schmalen Weg oder besser gesagt einen Wildpfad gefunden, er hatte diesen Pfad nur entdeckt, weil er meinte einen kleinen Lichtblitz gesehen zu haben, deshalb hatte er dort hingeschaut und den Weg erblickt.
„Tors!“, rief Nelfin, „hier ist ein steiler Wildpfad, direkt unter dem Sims, was meinst du, können wir hier herunterklettern oder ist er zu schmal für uns? Du bist der Größte von uns und kannst es probieren. Wenn du es schaffst, kannst du uns anschließend helfen herunterzukommen, oder?“
Tors schaute herunter und meinte: „Könnte klappen.“ Sofort probierte Tors herunterzuklettern und hatte es fast geschafft, da bebte die Erde erneut sehr heftig und nur mit viel Glück und Geschick gelang es Tors, heil anzukommen. Er ließ den Sims im richtigen Moment los und sprang das letzte Stück hinunter.
„So, jetzt ihr!“, rief Tors, „schwingt die Beine rüber, dann werde ich sie greifen, stützen und euch vorsichtig herunterlassen.“
Daya war die Erste der drei, die sich traute und sich auf Tors verließ, obwohl sie noch sehr wütend auf ihn war. Als sie auf dem Wildpfad stand, versuchte sie weiterhin den Abstand zwischen sich und Tors so groß wie möglich zu halten, dabei blickte sie ihn boshaft an. Jetzt waren die Zwillinge dran, aber Ramun wollte Nelfin nicht loslassen. „Nun hör mal gut zu, Bruderherz, wir müssen runter, es gibt keine andere Möglichkeit, reiß dich zusammen, sonst stürzen wir beide in die Tiefe, wenn der Sims zu instabil wird. Außerdem müssen wir zusammenbleiben, das hat der Hohe Rat gesagt, du kannst also gar nicht hierbleiben oder zurücklaufen.“
Murrend ließ Ramun los und Nelfin half ihn über den Rand des Sims zu klettern, wo Tors schon bereitstand ihm zu helfen. Ohne große Probleme gelang es Tors, Ramun auf dem Wildpfad abzusetzen. Als Letzter schlug Nelfin seine Beine über den Rand des Simses und eben in diesem Moment bebte die Erde so heftig, dass Nelfin anfing zu rutschen. Er konnte sich nicht mehr festhalten, er schrie: „Hilfe! Ich rutsche weg!“ Wäre Tors nicht so alert gewesen, wäre Nelfin abgestürzt, so konnte er aber das Schlimmste verhindern und Nelfin erlitt nur ein paar Schürfwunden an den Händen, bevor auch er sicher auf dem Wildpfad stand. Sehr langsam und vorsichtig machten sich die vier auf den Weg nach unten. Der Wildpfad war wirklich kaum geeignet für die vier, aber wie gesagt eine andere Möglichkeit gab es nicht und das Abenteuer ging weiter.
Daya ging vorneweg und nach ihr kam Nelfin, sein Bruder Ramun folgte ihm auf den Fersen, als Letzter ging Tors, weil er sie beschützen wollte, falls doch noch etwas hinter ihnen herkommen sollte, er hatte so ein Gefühl gehabt, als wäre noch irgendjemand in der Nähe des Tunnels.
Gerade als der Letzte sich in Bewegung setzte, bebte die Erde erneut so heftig, dass der Sims mit lautem Krachen abbrach, gleichzeitig stürzte ein Teil des Tunnels in sich zusammen. Für einen Moment sah es aus, als wäre die Hölle ausgebrochen. Ein Riesenlärm und Staub hüllten die kleine Gruppe ein.
Rundherum donnerten Felsbrocken herunter, alle drückten sich so fest wie möglich an die Wand, damit sie nicht allzu hart getroffen werden konnten. Da, wo sie vor ein paar Sekunden noch gestanden hatten, war jetzt nichts mehr da, der komplette Sims war weg.
Hustend, prustend und festgeklammert warteten sie darauf, dass es ruhiger wurde. Als es so weit war, setzten die vier sich wieder in Bewegung, oft mussten sie eine kurze Pause halten, als weitere Erdstöße auftraten. Sich dann festzuhalten war nicht einfach. Wenn die Sonne nicht ab und zu an der richtigen Stelle geschienen hätte, hätten sie bestimmt manchen Halt nicht rechtzeitig gesehen.
Wieder hatten sie ein Riesenglück, dass nichts weiter mit ihnen geschah, es war, als ob jemand eine schützende Hand über sie hielt.
Nach und nach schien es, als ließe die Kraft des Bebens nach, je weiter sie hinabstiegen. Die vier hatten das Gefühl, als ob der Abstand zwischen den einzelnen Erdstößen länger wurde. Obwohl die ganze Sache gar nicht so lange gedauert hatte, nur wenige Minuten kam es ihnen vor, als ob Stunden vergangen wären. Ständig rollten Steinbrocken herunter, manchmal wurden sie auch getroffen, aber die Steine waren zum Glück nicht mehr allzu groß. Keiner wurde ernsthaft verletzt. Das große Beben schien vorbei zu sein und langsam konnten sie ihren Weg ins Tal fortsetzen, stets darauf bedacht, dass das Beben wieder einsetzte. Doch nur noch ab und zu bebte die Erde und lang nicht mehr so heftig wie am Anfang. Trotzdem reichte es immer noch aus, den Weg nach unten zu erschweren.
Sie folgten dem Weg langsam talwärts, Nelfin und Ramun gingen nun vorneweg. Allmählich wurden die Abstände zwischen den Beben größer, bis sie gänzlich aufhörten.
Sie waren bis zur Hälfte gelangt und hatten den schwierigsten Teil hinter sich, als Daya auf einmal stehen blieb.
Tors, der hinter ihr herlief, konnte sich gerade noch bremsen, sonst wäre er mit Daya zusammengestoßen und sie wären alle den Rest des Weges hinuntergerollt. Zum Glück war der Weg nicht mehr so steil wie am Anfang, trotzdem hätten sie sich schwer verletzen können. Tors konnte sein Gleichgewicht gerade noch halten.
„Was ist denn los?“, fragte Tors in barschem Ton und ziemlich laut. Er war verärgert. Tors hatte sich nicht auf den Weg konzentriert, weil er mit seinen Gedanken immer noch bei den eventuellen Verfolgern war. Er glaubte immer noch ab und zu etwas zu hören, als wären sie nicht allein.
Inzwischen waren auch Nelfin und Ramun zurückgekommen. Sie hatten nicht direkt mitbekommen, dass die beiden anderen stehen geblieben waren, sie blickten fragend zu Daya hoch.
„Hört ihr das?“, wollte Daya wissen.
Nelfin und Ramun guckten sich gegenseitig an und schüttelten beide den Kopf. „Sie hat sie nicht mehr alle“, raunte Ramun zu Nelfin, welcher sagte: „Wir hören gar nichts, außer den Wasserfall!“
„Genau das ist es“, bestätigte Daya. „Es hat aufgehört.“
Nun bemerkten es auch die anderen, es war irgendwie unheimlich, als wäre das Erdbeben abgestellt worden, nun war es totenstill. So schien es, natürlich war es nicht totenstill, weil der Wasserfall immer noch einen Riesenlärm machte.
Nelfin, Ramun und Daya fingen gleichzeitig an zu reden. Sie waren so aufgeregt und froh, dass die Gefahr nun endlich vorbei schien.
„Wow, das war ein Abenteuer“, meinte Daya. „Wer hätte gedacht, dass wir heil aus dem Tunnel kommen.“
„Genau, ich dachte, das schaffen wir nie“, gestand Nelfin.
„Tja, wir haben es aber geschafft, und das ohne große Verletzungen, nur ein paar kleine Kratzer“, sagte Ramun nicht ohne Stolz.
Sie hatten sogar die schrecklichen Schreie von vorhin total vergessen. Nur Tors schien immer noch auf der Hut zu sein, er traute dem Frieden nicht. Er konnte nicht sagen, woher das Gefühl kam, also sagte er den dreien nichts von seinen Befürchtungen. Er dachte noch mal an den letzten Schrei und war sehr beunruhigt. Wer hat da geschrien? Kam dieser Schrei aus dem Tunnel oder wo kam er her? Alles Fragen, auf die er keine Antwort wusste. Vielleicht sollte er doch über seine Befürchtungen reden, hatte nicht der Hohe Rat ausdrücklich gesagt, sie sollten zusammenbleiben und zusammen über jedes Problem reden, auch wenn dieses Problem vielleicht gar keines war.
„Seid jetzt mal alle still!“, befahl Tors, als die drei immer weiterplapperten und dabei dem Wasserfall Konkurrenz machten.
Einen Moment lang sagte keiner etwas, nur der Wasserfall war zu hören.
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Ramun vorsichtig.
Alle drei blickten Tors angespannt an.
„Nein, nein, es ist alles okay, aber ich möchte auf alles gefasst sein, ich meinte nur ab und zu etwas zu hören, als würde uns jemand verfolgen. Gerade eben habe ich wieder etwas gehört, es klang, als würde etwas hier herumschleichen. Und wenn ihr drei da so herumschnattert wie die Enten im Teich, kann ich ungewöhnliche Geräusche aus der Umgebung nicht mehr wahrnehmen.“
„Du meinst das gefährliche Brüllen oder Knurren von einem Berglupscher“, verdeutlichte Nelfin. Sein Bruder schaute sich schnell nach allen Seiten um, vielleicht lag sogar ein Berglupscher auf der Lauer, jederzeit bereit sie anzugreifen.
Der Berglupscher war sehr gefährlich und schlich sich meistens von hinten an, um dann geräuschlos anzugreifen. Mit seinen scharfen Krallen, so groß wie die Finger der Halbriesen, und mit seinen spitzen Zähnen griff er gnadenlos zu und ließ nicht mehr los. Er konnte sogar einem Halbriesen das Genick brechen, ohne irgendwelche Mühe. Weil er sich fast geräuschlos bewegen konnte, brauchte er keine Tarnfarben. Sein Fell war knallorange mit schwarzen Punkten. Seine Ohren, die grellgelb waren, standen seitlich auf seinem Kopf und sie konnten sich in alle Richtungen drehen. Eigentlich lebte er hoch in den Bergen, wo auf den Gipfeln immer Schnee lag, dort fühlte sich der Berglupscher am wohlsten.
„Nun ja“, sagte Daya, „im Moment hören wir sowieso nicht viel, außer den Wasserfall. Der Berglupscher könnte neben uns stehen und knurren und wir würden es nicht hören. Kommt, lasst uns weitergehen bis zum Tal, ich möchte gerne einen trockenen Platz zum Übernachten finden. Wenn wir unten angekommen sind, ist es immer noch lang genug hell, um einen geeigneten Platz zu suchen. Na, kommt ihr mit? Ich bleibe auf keinen Fall hier, es ist mir zu laut und zu feucht.“ Daya ging voraus und die anderen folgten ihr auf dem Fuß.

***

Jetzt, da das Beben aufgehört hatte, war es nicht mehr so schwierig, herunterzuklettern, und die Angst hatte auch schon nachgelassen.
Ramun dachte: Es ist bestimmt kein Berglupscher hier in der Nähe, sonst hätte er uns schon längst gefressen.
Mit ein wenig mehr Selbstvertrauen verfolgten sie ihren Weg, vor allem Daya, sie hatte die Neugierde gepackt, sie wollte wissen, wo der Hohe Rat sie hingeschickt hatte. Sauer war sie auch nicht mehr, Tors war nur hilfsbereit gewesen, mehr nicht und Daya fand es sogar niedlich von ihm, ihr geholfen zu haben.
Für den restlichen Abstieg benötigten sie nur noch wenige Minuten. Alle hatten es geschafft und so wie Daya gesagt hatte, stand die Sonne noch nicht so tief und sie hatten noch genug Zeit einen guten Rastplatz auszusuchen.
Unten angekommen wollten Ramun und Nelfin geradeaus weitermarschieren, als Tors sie stoppte: „Wo wollt ihr denn hingehen?“
„Geradeaus natürlich“, gab ihm Nelfin zur Antwort.
„Wenn ihr euch mal richtig umguckt, werdet ihr feststellen, dass man da nicht weit kommen kann. Etwas weiter vorne ist der nächste Berg und den möchte ich nicht besteigen, weil er mir viel zu steil ist. Wie ihr wisst, haben wir keine Kletterausrüstung mitgebracht. Ich würde vorschlagen uns rechts zu halten, weg vom Wasserfall, weil der Wasserfall immer noch sehr laut ist und obendrein ist die Luft hier viel zu feucht. Wir brauchen nicht nur einen ruhigen Platz zum Übernachten, sondern auch einen trockenen. Man kann nie wissen.“
Bevor die drei sich weiterstreiten konnten, welcher Weg nun der bessere war, hörten sie Daya rufen.
„He, kommt schnell hierher, ich habe etwas gefunden!“ Daya war inzwischen dem Wildpfad weiter gefolgt, der natürlich der bessere Weg war. Sie war um eine Ecke verschwunden und der Anblick, der sich ihr bot, war überwältigend.
Es war so wunderschön, dass sie keine Worte finden konnte, um diesen Platz zu beschreiben, und was so bemerkenswert war, der Wasserfall war nur noch gedämpft zu hören. Ramun, Nelfin und Tors kamen angerannt, als sie um die Ecke schossen, waren sie ebenso sprachlos.
Während sie oben auf dem Sims standen, hatten sie überhaupt keine Zeit gehabt, sich die Gegend anzuschauen. Außerdem hätten sie dieses Tal sowieso nicht sehen können, weil es ein wenig versteckt lag.
Der Himmel war azurblau, ohne dass auch nur eine Wolke zu sehen war. Die Sonne strahlte über das Tal und der flaue Wind fühlte sich angenehm auf der Haut an. Man konnte große, bunte Vögel in der Luft sehen, wunderschöne Schmetterlinge flatterten überall herum. Insekten hörte man summen und Waldtiere tummelten sich auf einer kleinen Lichtung, die man von hier oben gut einsehen konnte. Sie bewegten sich so frei und ohne Angst, als könnte ihnen nichts Böses passieren.
Die Geräusche, die zu hören waren, klangen einem wie Musik in den Ohren. Der Wald glitzerte in allen erdenklichen Grüntönen, die man sich nur vorstellen konnte.

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