Die blaue Flamme

Die blaue Flamme

Der Tempel von Irot

Martina Koska


EUR 18,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 272
ISBN: 978-3-903067-23-3
Erscheinungsdatum: 14.09.2015

Leseprobe:

Tochtersorgen

Nira schwebte irgendwo zwischen Schlafen und Wachen. In ihrem Alkoven an der Rückseite des Küchenkamins war es herrlich warm und das Stroh ihrer Matratze knisterte leise. Etwas zupfte sie am Haar. Unwillig und schlaftrunken führte sie eine Hand zu ihrem Kopf. Ihr Zopf hing fest. Sie öffnete die Augen und schielte über ihre Schulter. Die Haare hatten sich an den rauen Brettern der Rückwand verfangen. Seufzend richtet sie sich auf und löste den Zopf. Am Ansatz sah ihr Haar schon wieder eigentümlich blau aus, fast wie der Himmel an einem Sommerabend. Sie würde bald zur alten Warusch gehen müssen. Die färbte ihr das Haar mit Walnussschalen schwarz. Nira hatte nie gefragt weshalb. Sie wusste, dass man es im Dorf nicht leicht hatte, wenn man irgendwie anders war. Wer besonders groß war, wie Teresse, der Schmied oder ein bisschen dicker, wie Gran, der Wirt, der wurde gehänselt. Es war vielleicht gar nicht mal böse gemeint, aber man war immer der Gegenstand gutmütigen Spotts und alberner Scherze. Blaues Haar, das war schon sehr anders. Die Dörfler waren braun oder blond, selten schwarz, die Alten grau, weiß oder kahl, aber blauhaarig war niemand. Nira wollte um keinen Preis auffallen. Sie hatte so schon genug Probleme.
Sie befestigte den fertig geflochtenen Zopf wieder mit dem Band und lauschte in die Küche hinaus.
Ein paar Füße schlurften schwerfällig über den Steinfußboden. Ein Eimer klapperte… die Köchin war allein. Sicher war Ruti, die Magd, im Gemüsegarten. Alle anderen waren wohl schon bei der Arbeit.
Sie hatte verschlafen. Die Köchin hatte sie schlafen lassen. Sie fand Nira zu klein, zu dünn und zu blass und war sich sicher, sie bräuchte mehr Schlaf und müsste mehr essen. Nira wollte nichts essen! Sie wollte jetzt schnell und unbemerkt zum Pferch, um die Schafe auf die Weide zu führen. Wenn ihr Vater bemerken würde, dass die Tiere noch immer auf dem Hof waren, würde es heftigen Ärger geben.
Sie konnte nur hoffen, dass er auf einem möglichst weit entfernten Feld bei der Arbeit war, dann würde er erst zum Abendessen wieder auf den Hof kommen.
Die Pantinen der Köchin schlurften über die hohe Schwelle zum Hof. Sie ging Wasser holen.
Nira klappte vorsichtig einen Türflügel des Alkovens auf, rutschte von ihrer Matratze, sprang in ihren Rock, streifte sich Leibchen und Jacke über und nahm ihre Pantinen in die Hand. Mit der anderen Hand griff sie sich im Vorbeigehen einen Apfel und einen Wecken und konnte unbemerkt die Küche verlassen. Sie ging nicht auf den Hof hinaus, sondern durch die Küchentür in der Seitenwand in die Diele des Hauses. Hier roch es nach dem Öl, mit dem die rohen Dielen gepflegt wurden. Es war sehr still. Nur die große Uhr erfüllte den Raum mit dem Gleichmaß ihres Tickens. Nira knöpfte hastig Leibchen und Jacke zu und schlüpfte in ihre Pantinen. Von den Wänden schauten mit strengem Blick sechs ihrer Vorfahren auf sie herab. Männer und Frauen, denen man den wachsenden Wohlstand ansah, gekleidet in gutes Tuch, wohlgenährt und die Frauen mit dem einen oder anderen goldenen Schmuckstück. Ein Mann in den besten Jahren mit auffällig geröteten Wangen hielt sogar einen mit Gold verzierten Glaspokal in die Höhe, der Vater ihres Vaters, Niras Großvater. Nira war noch nicht geboren, als er beim Holzschlagen unter einen unglücklich fallenden Baum geraten und ihm der Brustkorb zerquetscht worden war. Mit 16 Jahren musste ihr Vater die Verantwortung für den Hof übernehmen. Er war allein. Seine Mutter war schon vor Jahren im Kindbett geblieben. Auch der kleine Bruder, den sie geboren hatte, hatte ohne sie nicht überlebt. Ihr Vater hatte die Aufgabe geschultert und war, wie die Generationen vor ihm ein tüchtiger Bauer und Hofherr geworden und hatte auch in dieser Generation den Wohlstand vermehrt, den Hof vergrößert und weiteres, gutes Land erworben. Nira wusste, dass ihr Hof jetzt der größte des Dorfes mit dem meisten Land und dem größten Viehbestand war. Und wenn es nach dem Willen ihres Vaters ging, sollte es so weitergehen. Nira war jetzt 13. Unglücklicherweise sah es so aus, als wäre sie völlig ungeeignet, die Verantwortung für so einen großen Hof und die Menschen, die auf ihm lebten und arbeiteten, zu übernehmen. Sie vergaß vieles, ständig ging bei ihr etwas kaputt oder verloren und oft war sie verschwunden und wer sie fand, fand sie tief in Träume versunken.
Ihre einzige Möglichkeit wäre es, einen tüchtigen Mann zu heiraten, meinte der Vater. Aber welcher tüchtige, strebsame Mann wollte eine solch unnütze Frau an seiner Seite?
Nira befreite sich aus den unangenehmen Grübeleien, die die Reihe der alten Porträts in ihr ausgelöst hatten, öffnete einen Flügel der großen Haustür zum Hof und spähte vorsichtig hinaus. Der Hof war leer. Die Köchin musste mit dem Wasser schon wieder in die Küche zurückgekehrt sein. Nira huschte über den Hof, durchquerte den Kuhstall und rannte bis zum Pferch der Schafe. Sie blökten schon unruhig. Der Hütehund kam ihr freudig entgegengerannt und sprang an ihr hoch. Nira öffnete das Gatter und die Masse wolliger Leiber quoll heraus. Jetzt musste sie den Hof überqueren, aber die Herde war ein guter Grund, sich nicht aufhalten zu lassen.
Nira hatte Glück. Niemand zeigte sich, als die vielen kleinen Hufe über das Pflaster des Hofes trappelten.
Es war ein schöner Morgen. Der Nebel hing nur noch dünn auf den Wiesen und Feldern und die Sonne würde ihn bald vertrieben haben. Die Linde am Hoftor ließ einzelne Blätter, goldgelb wie Dukaten, zu Boden segeln.
Nira trieb die Schafe durch das Tor. Der Hund umsprang die Herde. Er würde ihr helfen. Sie würde wachsam sein und keines der Tiere verlieren. Noch schmerzte ihre Kehrseite von der letzten Tracht Prügel, die sie erhalten hatte, weil sie das Gatter an der Kuhkoppel offengelassen hatte. Die Strafe steckte sie weg, aber die Demütigung war ihr verhasst. Ihr Vater sagte es ihr immer wieder, auf sie war kein Verlass. Sie war die Dumme, die Ungeschickte, die, die alles vergaß. Jeder im Dorf wusste das. Sie wollte alles richtig machen. Aber irgendwie ging immer irgendetwas schief. Sie konnte das niemandem erklären. Sie war sich sicher, niemand hätte es verstanden. Sie verstand es ja selbst nicht.
Aufmerksam musterte sie den Waldrand. Nichts durfte die Schafe so erschrecken, dass sie panisch davonrannten. War die Herde erst mal auf der Flucht, war sie nur schwer zusammenzuhalten und zu stoppen. Es konnte Stunden dauern, alle Tiere wiederzufinden.
Aber heute würde ihr nicht schon wieder so ein Missgeschick passieren. Doch Niras Hoffnung war vergeblich. Hinter dicken Eichenstämmen sprangen zwei halbwüchsige Jungen hervor, rannten in die Herde hinein, schwenkten ihre Hemden in der Luft, vollführten wilde Bocksprünge und schrien schrill und laut. Die Schafe stürzten voller Panik davon, der Hund jagte den Schafen nach und Nira stand ihren Peinigern allein gegenüber. Sie wollte sich umdrehen und den Tieren folgen. Hatte man sie erst aus den Augen verloren, waren sie nur noch schwer zu finden. „Na, da hast du wohl wieder Mist gebaut, du kleiner Hohlkopf.“ Torok, der Sohn des Webers, weidete sich an ihrer Verzweiflung, die sie vergeblich hinter einer hochmütigen Miene zu verbergen versuchte. „Alle Schafe weg, das wird wohl wieder Prügel geben, was?“, sagte er und griff nach ihrem Gesäß. Nira versuchte zur Seite auszuweichen, geriet aber nur in die Fänge seines kleineren Bruders Torall. Er zog ihr die Arme auf den Rücken und zwinkerte seinem Bruder aufmunternd zu. Der trat näher und begann ihre kleinen Brüste zu befingern. Nira versuchte zurückzuweichen und trat Torall vors Schienbein. Aber der lachte nur. Sie war ihm körperlich weit unterlegen. „Dich dumme Kuh heiratet sowieso keiner, also stell dich nicht so an und lass meinen Bruder machen.“ Als Torok sich bückte, um ihren Rocksaum zu heben, trat sie ihm ins Gesicht. Er taumelte zurück und hielt sich die blutende Nase. „Du Miststück, das wagst du? Na warte! Das zahl ich dir doppelt und dreifach heim!“
Sie wollten sie zu Boden drücken. Als sie strampelnd auf dem Boden lag, kam der Hund zurück. Er zögerte keinen Moment und sprang Torok ins Genick. Knurrend grub er ihm seine Zähne ins Fleisch. Der Junge schrie und sprang auf, in der Hoffnung, seinen Peiniger abzuschütteln. Torall verschwand bereits eilig zwischen den Bäumen. Der Hund ließ Torok frei, verfolgte ihn aber bellend, bis auch er nicht mehr zu sehen war. Nira setzte sich auf. Ihre rechte Hüfte schmerzte. Sie umschlang ihren Körper mit den Armen und rieb sich die Oberarme. Langsam kehrte das Gefühl für ihren Körper zurück. Die Haut an ihren Armen brannte von Toralls groben Händen. Nira versuchte wieder zu Atem zu kommen. Der erste tiefe Atemzug wurde ein Schluchzer, der ihren ganzen Körper erschütterte, aber es kamen keine Tränen. Ihr Herz hämmerte. Sie stand auf und bemühte sich, den Schmutz von ihrem Rock zu klopfen, der Rocksaum war eingerissen. Sie hörte schon die Stimme von Ruti, der Magd: „Wie schaffst du es immer, alles zu zerreißen? Ständig muss ich dir helfen, deine Sachen zu flicken“, und diese Litanei würde dann noch endlos so weitergehen. Nira konnte es nicht ändern. Sie rappelte sich auf und schaute sich um. Von den Schafen war keines zu entdecken. Sie folgte den Spuren eine Anhöhe hinauf. Das Feld hier war bereits abgeerntet. Die Erde war feucht und klebte an ihren Holzpantinen fest. Mit jedem Schritt wurden sie schwerer. Die Stoppeln stachen in ihre Knöchel, aber Nira stapfte zügig bergauf. Schließlich gab die Landschaft den Blick in eine Senke frei und hier fand sie die ganze Herde. Friedlich grasend standen sie da, vom Hund brav wieder zusammengetrieben. Niras Beine zitterten und mit der Erleichterung kamen auch die Tränen. Als der Hund zu ihr kam, fiel sie vor ihm auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in seinem Fell.
Nach einer Weile stand sie auf, ging zu einer Erle hinüber, setzte sich an den Fuß des Baumstamms und genoss nach dem anstrengenden Marsch die Kühle des Schattens. Der Wind bewegte die Blätter und tupfte ihren Rock mit umherhuschenden Sonnenflecken. Die Schafe verströmten ihren tröstlichen Geruch nach Wolle und rupften in beruhigender Monotonie Gras. Nira war erschöpft. Sie lehnte sich gegen die raue Rinde der Erle und blickte auf in die Krone flatternder Blätter. Ganz von selbst löste sich ihr Geist wie so oft von der Gegenwart. Wie ein Schmetterling schwang er sich empor in die helle Weite. Das Moor und die Schafe verschwanden. Ruhe und Zufriedenheit begannen Nira zu erfüllen. Vor ihr erschien das Gesicht einer Frau. Sie hatte hellblaues, fast weißes Haar. Einige wenige Strähnen waren noch kräftig blau, andere glänzten in reinem Silber. Ihre Augen waren strahlend blau und voller Freundlichkeit. Blassblaue Augenbrauen schwangen sich über den Augen in einem eleganten Bogen empor wie Falkenflügel. Die Nase war kurz und gerade, der Mund vielleicht ein bisschen groß. Nira war sich sicher, dass diese Frau sehr alt war, aber ihre Haut war glatt und ihr Gesicht strahlte Willensstärke und Tatkraft aus. Ihre Erscheinung erfüllte Nira mit Freude, erlöste diese Gegenwart sie doch aus ihrer Einsamkeit und Verzweiflung. „Sei mir gegrüßt.“ Die Stimme war kraftvoll und klar, aber voller Freundlichkeit und Wärme für das Mädchen, an das sich die Worte richteten. „Ich bin froh, dich gesund und unversehrt zu finden. Höre nun genau zu, Kind. Ich muss dich warnen. Folge mir und du wirst sehen.“ Nira war beglückt. Die weise Frau war besorgt um sie und wollte ihr etwas anvertrauen. Nira blickte aufmerksam auf das sich wandelnde Bild.
Sie sah einen schwächlich wirkenden, kleinen Mann, der einen schimmernden Brustharnisch trug und auf dem Helm eine große goldene Krone. Fast wirkte ihre Größe lächerlich im Verhältnis zu seiner geringen Körpergröße. Neben ihm stand ein kahlköpfiger, feister Mann in einer schwarzen Robe.
Saum, Kragen und Ärmel waren üppig mit Gold und Silberfäden bestickt. Doch die Schönheit des Gewandes konnte nicht davon ablenken, dass dieser Mann einen schwammigen, formlosen Körper hatte und seine gelblich schimmernde Haut ölig glänzte.
Fast glaubte Nira einen fauligen Geruch wahrzunehmen, der von dem Mann auszugehen schien. Der Kahlköpfige schien den Kleinen zu beherrschen. Nira konnte nicht verstehen, was sie sprachen, aber sie führten eine heftige Diskussion und der Gekrönte schien sich zu fügen.
Vor beiden war aus schwarzem Pulver ein großer Kreis auf den Boden gestreut worden. Vielleicht Kohlenstaub. Zwei Diener schleppten einen Soldaten in voller Rüstung vor die beiden. Er schien betäubt. Seine Augen rollten und seine Lippen bewegten sich.
Der Mann wurde vorsichtig in den Kreis gelegt und ihm die Hand- an die Fußgelenke gefesselt. Die Diener schienen sehr bemüht, den Ring aus schwarzem Staub nicht zu berühren. Sie verließen den Raum und kehrten mit einem jungen Bären zurück. Er war mit den Pfoten an eine Stange gebunden, die sie auf ihren Schultern trugen. Das Maul des Tieres stand offen und Speichel tropfte auf den Boden. Sie legten das Tier neben den Mann in den Kreis und waren schnell verschwunden. Der Kahlköpfige lächelte sehr zufrieden. Dann wies er mit einer erstaunlich eleganten Handbewegung auf eine Truhe. Der Gekrönte folgte seiner Aufforderung, schlug den gewölbten Deckel hoch und fuhr panisch zurück, wobei er fast über die Sporen an seinen Stiefeln stolperte.
Der Kahle kippte die Truhe mit einem lässigen Fußtritt um. Auf den Boden fiel ein Wolf. Der größte Wolf, den Nira je gesehen hatte und in ihrer Heimat gab es jeden Winter Wölfe zu sehen. Das Tier hatte gelbe Augen und sein graues Fell glänzte seidig wie der Stamm einer Buche. Das Tier war nicht betäubt. Es war wütend und sein Körper kämpfte und zuckte, aber es war in ein Netz eingeschnürt worden und hatte keine Chance.
Widerstrebend fasste der Kleine mit an und gemeinsam legten die Männer den Wolf auf den Mann und den Bären in den Kreis. Eine hilflose, zuckende Masse gequälter Kreaturen. Der Mann in der schwarzen Robe hob eine Schale und schien Verse zu sprechen.
Als er ein gelbes Pulver aus der Schale über Mann und Tiere streute, flammte der Ring mit großer Kraft auf, meterhoch standen die Flammen im Raum. Nira wurde übel. Der Mann, der Bär und der Wolf wurden lebendig verbrannt! Der Gekrönte und der Kahle betrachteten das Toben der Flammen gänzlich unbewegt.
Dann begann der Kahle den Kreis zu umschreiten, und als er ihn umrundet hatte, fielen die Flammen in sich zusammen. Nira hatte erwartet, im Inneren des Kreises nur noch ein Häufchen Asche zu sehen, umso erstaunter war sie, als dort eine große Gestalt aufragte, größer und breiter als jeder Mensch, aber doch mit menschenähnlicher Gestalt.
Das Geschöpf drehte sich um und zeigte eine Schnauze voller fingerlanger Reißzähne unter kleinen, schwarzen Bärenaugen. Der Blick dieser Augen ließ Niras Atem stocken. Sie war froh, als das Bild verschwand und wieder das vertraute Gesicht der fremden, ihr aber doch so lieben Frau auftauchte.
„Kind, was du dort gesehen hast, ist ein Urgal. Man nennt sie auch die Schergen König Elags. Wir beide, du und ich, wir sind von gleicher Art und wir haben einen gefährlichen Feind.
Unser Leben wurde geschaffen, alles Lebende zu schützen und zu erhalten, ihr Leben wurde nur geschaffen, um uns zu töten. Sei darauf gefasst, dass sie versuchen werden, auch dich zu töten. Du bist jetzt alt genug, sodass sie dich wahrnehmen können. Für sie bist du eine neue Bedrohung. Verbirg dich und versuche nicht aufzufallen. Wenn sie dich finden, musst du fliehen. Suche Schutz, wo immer es geht. Mein Geist wird dich begleiten. Ich werde dir beibringen, wie du mich rufen kannst und welche…“
Das Bild wurde blass und verschwamm, die Stimme verstummte.
Nira fröstelte. Der Wind hatte ihr Erlenzapfen und Blätter auf die Kleider geweht. Kräftige Böen ließen die Zweige rauschen. Der Hund stupste sie mit der Nase an.
Die Sonne stand im Südwesten. Es war bereits später Nachmittag. Nira sah keines der Schafe mehr, sprang hastig auf und brach in die Knie. Das lange Sitzen hatte ihre Beine gefühllos werden lassen. Sie strampelte und wackelte mit den Beinen um die Durchblutung in Schwung zu bringen und humpelte dann hektisch vorwärts. Mit einer Handbewegung schickte sie den Hund voraus, um die Tiere zu suchen. Das Land senkte sich hier in Stufen immer weiter ab und an seinem tiefsten Punkt begann das Pandagar-Moor. Vor langer Zeit, in einem der großen Kriege soll hier ein ganzes Heer der Pandagar versunken sein. Sie kamen aus dem Süden und wussten nichts von der Gefahr. So hat das Moor das Dorf von Gamar und seine Menschen vor einem Überfall und der sicheren Zerstörung bewahrt. Die Alten erzählten abends am Feuer diese Geschichte immer wieder gern. Jetzt machte das Moor Nira Angst.
In der Ferne grollte ein Donner. Schafe waren ängstliche Tiere und leicht zu erschrecken. Nira sah sie schon kopflos vor Blitz und Donner davonrennen und in Moorlöchern versinken. Sie beschleunigte ihren Schritt, sprang durch Pfützen und über Riedgrasbüschel, rutschte aus und rappelte sich wieder auf. Der Wind riss Haarsträhnen aus ihrem Zopf und peitschte sie ihr ins Gesicht. Eine Holzpantine blieb im Schlamm stecken. Als sie sich bückte, um den Schuh herauszuziehen, kam der Hund angesprungen und leckte ihr begeistert über das Wiedersehen das Gesicht. Nira holte gerade Luft, um mit ihm zu schimpfen, als sie hinter ihm die ganze Herde stehen sah. Er hatte sie geholt. Sie standen ruhig beieinander und keines fehlte. Nira seufzte vor Erleichterung.
Sie nickte dem Hund zu und er begann die Herde zu treiben.
Sie machten sich auf den Heimweg.
Es war kein Donner mehr zu hören. Das Unwetter hatte sie verschont.
Ob auch die Bedrohung aus dem Traum sie verschonen würde? Gewiss, es war nur einer ihrer Träume und wie sagte ihr Vater immer, „deine Hirngespinste interessieren niemanden. Es sind Hirngespinste, die dich davon abhalten, deine Arbeit ordentlich zu machen. Du tust gut daran, sie nicht zu beachten und niemandem weiter davon zu erzählen. Du giltst jetzt schon als wunderlich.“
Sicher gab es keine bärenartigen Zauberwesen. Und warum sollte jemand sie, Nira, als Bedrohung empfinden? Die Idee war wirklich lächerlich. Aber ein Gedanke war schön: „Du und ich sind von derselben Art.“ Auch, wenn es nur Hirngespinste waren, Nira fühlte sich nicht mehr ganz so allein.



Vatersorgen

Die beiden Männer saßen neben der Tür des alten Bauernhauses, das die Mitte des dreiseitigen Hofes bildete, auf einer geschnitzten Bank. Die Fenster des Ostflügels glänzten in der Abendsonne. Aus dem Küchenkamin stieg Rauch wie eine Säule in den Abendhimmel.
Der Abend war mild, kein Lüftchen regte sich. Aus der Krone der Linde, die den Hofeingang beschirmte, klang der Gesang einer Drossel.
„Ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Kind tun soll, Gran. Ich habe es ihr erklärt, ich habe sie verprügelt, ich habe sie eingesperrt. Nichts. Es scheint gar nicht zu ihr durchzudringen. Sie schaut mich nur an und sagt kein Wort. Sie hat keine Erklärung, sie versucht nicht sich zu verteidigen, nichts! Vorgestern hat sie das Gatter am Wald offengelassen und die Kühe sind mir ins Feld gelaufen und haben die halbe Ernte gefressen oder zertrampelt. Es kann nicht sein, dass wir alle auf dem Hof im Frühjahr hungern müssen, weil sie einen Teil der Ernte auf dem Gewissen hat. Alle verdienen sich ihren Platz auf dem Hof durch gute Arbeit, jeder Knecht und jede Magd, nur meine Tochter nicht!“ Der Redner sprang auf und lief auf und ab. „Ich würde sie als Magd auf einen anderen Hof schicken, wenn ich nicht Angst vor den Folgen hätte. Ich müsste die Schäden ersetzen, die sie anrichtet, und“, er hielt inne und strich sich das sonnengebleichte Haar aus der Stirn, „ich hätte Angst, dass andere sie halb zu Tode prügeln würden, bei dem was sie sich zuschulden kommen lässt.“ Er seufzte und schob die Hände in seine Hosentaschen. „Sie ist im Dorf schon zum Gespött der Leute geworden: ‚Die Tochter vom reichen Wrana taugt zu nichts, sie ist nicht ganz richtig im Kopf‘“, sagte er leise. „Ich will nicht, dass die Leute über mein Kind spotten.“ Sein Freund Gran, so wie er, klein, stämmig und blond, aber deutlich rundlicher, erhob sich und trat neben ihn. „Schick sie zu mir als Hilfe in den Gasthof. Garan und ich sind immer da, um sie zu erinnern, wenn sie etwas vergisst und die anderen aus dem Dorf werden sich besser an sie gewöhnen. „Wrana hob den Kopf und ein kleiner Funke Hoffnung zeigte sich in seinen Augen. „Das willst du auf dich nehmen, Freund Gran? Es wird Ärger mit angetrunkenen Gästen geben, wenn sie etwas vergisst. Im schlimmsten Fall kommt es zu Prügeleien in deiner Gaststube.“ „Glaub mir, das ist mein täglich Brot, ich kann Raufbolde ganz schnell zur Ruhe bringen. Deiner Tochter wird in meinem Hause nichts geschehen und mir auch nicht mehr als sonst. Willst du sie mir morgen früh bringen?“ Wrana nickte und ein Lächeln erhellte sein Gesicht: „Ich danke dir, Freund.“ Gran erhob sich. Die Männer umarmten sich, klopften sich freundschaftlich auf die Schultern und wünschten sich eine gute Nacht.

Tochtersorgen

Nira schwebte irgendwo zwischen Schlafen und Wachen. In ihrem Alkoven an der Rückseite des Küchenkamins war es herrlich warm und das Stroh ihrer Matratze knisterte leise. Etwas zupfte sie am Haar. Unwillig und schlaftrunken führte sie eine Hand zu ihrem Kopf. Ihr Zopf hing fest. Sie öffnete die Augen und schielte über ihre Schulter. Die Haare hatten sich an den rauen Brettern der Rückwand verfangen. Seufzend richtet sie sich auf und löste den Zopf. Am Ansatz sah ihr Haar schon wieder eigentümlich blau aus, fast wie der Himmel an einem Sommerabend. Sie würde bald zur alten Warusch gehen müssen. Die färbte ihr das Haar mit Walnussschalen schwarz. Nira hatte nie gefragt weshalb. Sie wusste, dass man es im Dorf nicht leicht hatte, wenn man irgendwie anders war. Wer besonders groß war, wie Teresse, der Schmied oder ein bisschen dicker, wie Gran, der Wirt, der wurde gehänselt. Es war vielleicht gar nicht mal böse gemeint, aber man war immer der Gegenstand gutmütigen Spotts und alberner Scherze. Blaues Haar, das war schon sehr anders. Die Dörfler waren braun oder blond, selten schwarz, die Alten grau, weiß oder kahl, aber blauhaarig war niemand. Nira wollte um keinen Preis auffallen. Sie hatte so schon genug Probleme.
Sie befestigte den fertig geflochtenen Zopf wieder mit dem Band und lauschte in die Küche hinaus.
Ein paar Füße schlurften schwerfällig über den Steinfußboden. Ein Eimer klapperte… die Köchin war allein. Sicher war Ruti, die Magd, im Gemüsegarten. Alle anderen waren wohl schon bei der Arbeit.
Sie hatte verschlafen. Die Köchin hatte sie schlafen lassen. Sie fand Nira zu klein, zu dünn und zu blass und war sich sicher, sie bräuchte mehr Schlaf und müsste mehr essen. Nira wollte nichts essen! Sie wollte jetzt schnell und unbemerkt zum Pferch, um die Schafe auf die Weide zu führen. Wenn ihr Vater bemerken würde, dass die Tiere noch immer auf dem Hof waren, würde es heftigen Ärger geben.
Sie konnte nur hoffen, dass er auf einem möglichst weit entfernten Feld bei der Arbeit war, dann würde er erst zum Abendessen wieder auf den Hof kommen.
Die Pantinen der Köchin schlurften über die hohe Schwelle zum Hof. Sie ging Wasser holen.
Nira klappte vorsichtig einen Türflügel des Alkovens auf, rutschte von ihrer Matratze, sprang in ihren Rock, streifte sich Leibchen und Jacke über und nahm ihre Pantinen in die Hand. Mit der anderen Hand griff sie sich im Vorbeigehen einen Apfel und einen Wecken und konnte unbemerkt die Küche verlassen. Sie ging nicht auf den Hof hinaus, sondern durch die Küchentür in der Seitenwand in die Diele des Hauses. Hier roch es nach dem Öl, mit dem die rohen Dielen gepflegt wurden. Es war sehr still. Nur die große Uhr erfüllte den Raum mit dem Gleichmaß ihres Tickens. Nira knöpfte hastig Leibchen und Jacke zu und schlüpfte in ihre Pantinen. Von den Wänden schauten mit strengem Blick sechs ihrer Vorfahren auf sie herab. Männer und Frauen, denen man den wachsenden Wohlstand ansah, gekleidet in gutes Tuch, wohlgenährt und die Frauen mit dem einen oder anderen goldenen Schmuckstück. Ein Mann in den besten Jahren mit auffällig geröteten Wangen hielt sogar einen mit Gold verzierten Glaspokal in die Höhe, der Vater ihres Vaters, Niras Großvater. Nira war noch nicht geboren, als er beim Holzschlagen unter einen unglücklich fallenden Baum geraten und ihm der Brustkorb zerquetscht worden war. Mit 16 Jahren musste ihr Vater die Verantwortung für den Hof übernehmen. Er war allein. Seine Mutter war schon vor Jahren im Kindbett geblieben. Auch der kleine Bruder, den sie geboren hatte, hatte ohne sie nicht überlebt. Ihr Vater hatte die Aufgabe geschultert und war, wie die Generationen vor ihm ein tüchtiger Bauer und Hofherr geworden und hatte auch in dieser Generation den Wohlstand vermehrt, den Hof vergrößert und weiteres, gutes Land erworben. Nira wusste, dass ihr Hof jetzt der größte des Dorfes mit dem meisten Land und dem größten Viehbestand war. Und wenn es nach dem Willen ihres Vaters ging, sollte es so weitergehen. Nira war jetzt 13. Unglücklicherweise sah es so aus, als wäre sie völlig ungeeignet, die Verantwortung für so einen großen Hof und die Menschen, die auf ihm lebten und arbeiteten, zu übernehmen. Sie vergaß vieles, ständig ging bei ihr etwas kaputt oder verloren und oft war sie verschwunden und wer sie fand, fand sie tief in Träume versunken.
Ihre einzige Möglichkeit wäre es, einen tüchtigen Mann zu heiraten, meinte der Vater. Aber welcher tüchtige, strebsame Mann wollte eine solch unnütze Frau an seiner Seite?
Nira befreite sich aus den unangenehmen Grübeleien, die die Reihe der alten Porträts in ihr ausgelöst hatten, öffnete einen Flügel der großen Haustür zum Hof und spähte vorsichtig hinaus. Der Hof war leer. Die Köchin musste mit dem Wasser schon wieder in die Küche zurückgekehrt sein. Nira huschte über den Hof, durchquerte den Kuhstall und rannte bis zum Pferch der Schafe. Sie blökten schon unruhig. Der Hütehund kam ihr freudig entgegengerannt und sprang an ihr hoch. Nira öffnete das Gatter und die Masse wolliger Leiber quoll heraus. Jetzt musste sie den Hof überqueren, aber die Herde war ein guter Grund, sich nicht aufhalten zu lassen.
Nira hatte Glück. Niemand zeigte sich, als die vielen kleinen Hufe über das Pflaster des Hofes trappelten.
Es war ein schöner Morgen. Der Nebel hing nur noch dünn auf den Wiesen und Feldern und die Sonne würde ihn bald vertrieben haben. Die Linde am Hoftor ließ einzelne Blätter, goldgelb wie Dukaten, zu Boden segeln.
Nira trieb die Schafe durch das Tor. Der Hund umsprang die Herde. Er würde ihr helfen. Sie würde wachsam sein und keines der Tiere verlieren. Noch schmerzte ihre Kehrseite von der letzten Tracht Prügel, die sie erhalten hatte, weil sie das Gatter an der Kuhkoppel offengelassen hatte. Die Strafe steckte sie weg, aber die Demütigung war ihr verhasst. Ihr Vater sagte es ihr immer wieder, auf sie war kein Verlass. Sie war die Dumme, die Ungeschickte, die, die alles vergaß. Jeder im Dorf wusste das. Sie wollte alles richtig machen. Aber irgendwie ging immer irgendetwas schief. Sie konnte das niemandem erklären. Sie war sich sicher, niemand hätte es verstanden. Sie verstand es ja selbst nicht.
Aufmerksam musterte sie den Waldrand. Nichts durfte die Schafe so erschrecken, dass sie panisch davonrannten. War die Herde erst mal auf der Flucht, war sie nur schwer zusammenzuhalten und zu stoppen. Es konnte Stunden dauern, alle Tiere wiederzufinden.
Aber heute würde ihr nicht schon wieder so ein Missgeschick passieren. Doch Niras Hoffnung war vergeblich. Hinter dicken Eichenstämmen sprangen zwei halbwüchsige Jungen hervor, rannten in die Herde hinein, schwenkten ihre Hemden in der Luft, vollführten wilde Bocksprünge und schrien schrill und laut. Die Schafe stürzten voller Panik davon, der Hund jagte den Schafen nach und Nira stand ihren Peinigern allein gegenüber. Sie wollte sich umdrehen und den Tieren folgen. Hatte man sie erst aus den Augen verloren, waren sie nur noch schwer zu finden. „Na, da hast du wohl wieder Mist gebaut, du kleiner Hohlkopf.“ Torok, der Sohn des Webers, weidete sich an ihrer Verzweiflung, die sie vergeblich hinter einer hochmütigen Miene zu verbergen versuchte. „Alle Schafe weg, das wird wohl wieder Prügel geben, was?“, sagte er und griff nach ihrem Gesäß. Nira versuchte zur Seite auszuweichen, geriet aber nur in die Fänge seines kleineren Bruders Torall. Er zog ihr die Arme auf den Rücken und zwinkerte seinem Bruder aufmunternd zu. Der trat näher und begann ihre kleinen Brüste zu befingern. Nira versuchte zurückzuweichen und trat Torall vors Schienbein. Aber der lachte nur. Sie war ihm körperlich weit unterlegen. „Dich dumme Kuh heiratet sowieso keiner, also stell dich nicht so an und lass meinen Bruder machen.“ Als Torok sich bückte, um ihren Rocksaum zu heben, trat sie ihm ins Gesicht. Er taumelte zurück und hielt sich die blutende Nase. „Du Miststück, das wagst du? Na warte! Das zahl ich dir doppelt und dreifach heim!“
Sie wollten sie zu Boden drücken. Als sie strampelnd auf dem Boden lag, kam der Hund zurück. Er zögerte keinen Moment und sprang Torok ins Genick. Knurrend grub er ihm seine Zähne ins Fleisch. Der Junge schrie und sprang auf, in der Hoffnung, seinen Peiniger abzuschütteln. Torall verschwand bereits eilig zwischen den Bäumen. Der Hund ließ Torok frei, verfolgte ihn aber bellend, bis auch er nicht mehr zu sehen war. Nira setzte sich auf. Ihre rechte Hüfte schmerzte. Sie umschlang ihren Körper mit den Armen und rieb sich die Oberarme. Langsam kehrte das Gefühl für ihren Körper zurück. Die Haut an ihren Armen brannte von Toralls groben Händen. Nira versuchte wieder zu Atem zu kommen. Der erste tiefe Atemzug wurde ein Schluchzer, der ihren ganzen Körper erschütterte, aber es kamen keine Tränen. Ihr Herz hämmerte. Sie stand auf und bemühte sich, den Schmutz von ihrem Rock zu klopfen, der Rocksaum war eingerissen. Sie hörte schon die Stimme von Ruti, der Magd: „Wie schaffst du es immer, alles zu zerreißen? Ständig muss ich dir helfen, deine Sachen zu flicken“, und diese Litanei würde dann noch endlos so weitergehen. Nira konnte es nicht ändern. Sie rappelte sich auf und schaute sich um. Von den Schafen war keines zu entdecken. Sie folgte den Spuren eine Anhöhe hinauf. Das Feld hier war bereits abgeerntet. Die Erde war feucht und klebte an ihren Holzpantinen fest. Mit jedem Schritt wurden sie schwerer. Die Stoppeln stachen in ihre Knöchel, aber Nira stapfte zügig bergauf. Schließlich gab die Landschaft den Blick in eine Senke frei und hier fand sie die ganze Herde. Friedlich grasend standen sie da, vom Hund brav wieder zusammengetrieben. Niras Beine zitterten und mit der Erleichterung kamen auch die Tränen. Als der Hund zu ihr kam, fiel sie vor ihm auf die Knie und vergrub ihr Gesicht in seinem Fell.
Nach einer Weile stand sie auf, ging zu einer Erle hinüber, setzte sich an den Fuß des Baumstamms und genoss nach dem anstrengenden Marsch die Kühle des Schattens. Der Wind bewegte die Blätter und tupfte ihren Rock mit umherhuschenden Sonnenflecken. Die Schafe verströmten ihren tröstlichen Geruch nach Wolle und rupften in beruhigender Monotonie Gras. Nira war erschöpft. Sie lehnte sich gegen die raue Rinde der Erle und blickte auf in die Krone flatternder Blätter. Ganz von selbst löste sich ihr Geist wie so oft von der Gegenwart. Wie ein Schmetterling schwang er sich empor in die helle Weite. Das Moor und die Schafe verschwanden. Ruhe und Zufriedenheit begannen Nira zu erfüllen. Vor ihr erschien das Gesicht einer Frau. Sie hatte hellblaues, fast weißes Haar. Einige wenige Strähnen waren noch kräftig blau, andere glänzten in reinem Silber. Ihre Augen waren strahlend blau und voller Freundlichkeit. Blassblaue Augenbrauen schwangen sich über den Augen in einem eleganten Bogen empor wie Falkenflügel. Die Nase war kurz und gerade, der Mund vielleicht ein bisschen groß. Nira war sich sicher, dass diese Frau sehr alt war, aber ihre Haut war glatt und ihr Gesicht strahlte Willensstärke und Tatkraft aus. Ihre Erscheinung erfüllte Nira mit Freude, erlöste diese Gegenwart sie doch aus ihrer Einsamkeit und Verzweiflung. „Sei mir gegrüßt.“ Die Stimme war kraftvoll und klar, aber voller Freundlichkeit und Wärme für das Mädchen, an das sich die Worte richteten. „Ich bin froh, dich gesund und unversehrt zu finden. Höre nun genau zu, Kind. Ich muss dich warnen. Folge mir und du wirst sehen.“ Nira war beglückt. Die weise Frau war besorgt um sie und wollte ihr etwas anvertrauen. Nira blickte aufmerksam auf das sich wandelnde Bild.
Sie sah einen schwächlich wirkenden, kleinen Mann, der einen schimmernden Brustharnisch trug und auf dem Helm eine große goldene Krone. Fast wirkte ihre Größe lächerlich im Verhältnis zu seiner geringen Körpergröße. Neben ihm stand ein kahlköpfiger, feister Mann in einer schwarzen Robe.
Saum, Kragen und Ärmel waren üppig mit Gold und Silberfäden bestickt. Doch die Schönheit des Gewandes konnte nicht davon ablenken, dass dieser Mann einen schwammigen, formlosen Körper hatte und seine gelblich schimmernde Haut ölig glänzte.
Fast glaubte Nira einen fauligen Geruch wahrzunehmen, der von dem Mann auszugehen schien. Der Kahlköpfige schien den Kleinen zu beherrschen. Nira konnte nicht verstehen, was sie sprachen, aber sie führten eine heftige Diskussion und der Gekrönte schien sich zu fügen.
Vor beiden war aus schwarzem Pulver ein großer Kreis auf den Boden gestreut worden. Vielleicht Kohlenstaub. Zwei Diener schleppten einen Soldaten in voller Rüstung vor die beiden. Er schien betäubt. Seine Augen rollten und seine Lippen bewegten sich.
Der Mann wurde vorsichtig in den Kreis gelegt und ihm die Hand- an die Fußgelenke gefesselt. Die Diener schienen sehr bemüht, den Ring aus schwarzem Staub nicht zu berühren. Sie verließen den Raum und kehrten mit einem jungen Bären zurück. Er war mit den Pfoten an eine Stange gebunden, die sie auf ihren Schultern trugen. Das Maul des Tieres stand offen und Speichel tropfte auf den Boden. Sie legten das Tier neben den Mann in den Kreis und waren schnell verschwunden. Der Kahlköpfige lächelte sehr zufrieden. Dann wies er mit einer erstaunlich eleganten Handbewegung auf eine Truhe. Der Gekrönte folgte seiner Aufforderung, schlug den gewölbten Deckel hoch und fuhr panisch zurück, wobei er fast über die Sporen an seinen Stiefeln stolperte.
Der Kahle kippte die Truhe mit einem lässigen Fußtritt um. Auf den Boden fiel ein Wolf. Der größte Wolf, den Nira je gesehen hatte und in ihrer Heimat gab es jeden Winter Wölfe zu sehen. Das Tier hatte gelbe Augen und sein graues Fell glänzte seidig wie der Stamm einer Buche. Das Tier war nicht betäubt. Es war wütend und sein Körper kämpfte und zuckte, aber es war in ein Netz eingeschnürt worden und hatte keine Chance.
Widerstrebend fasste der Kleine mit an und gemeinsam legten die Männer den Wolf auf den Mann und den Bären in den Kreis. Eine hilflose, zuckende Masse gequälter Kreaturen. Der Mann in der schwarzen Robe hob eine Schale und schien Verse zu sprechen.
Als er ein gelbes Pulver aus der Schale über Mann und Tiere streute, flammte der Ring mit großer Kraft auf, meterhoch standen die Flammen im Raum. Nira wurde übel. Der Mann, der Bär und der Wolf wurden lebendig verbrannt! Der Gekrönte und der Kahle betrachteten das Toben der Flammen gänzlich unbewegt.
Dann begann der Kahle den Kreis zu umschreiten, und als er ihn umrundet hatte, fielen die Flammen in sich zusammen. Nira hatte erwartet, im Inneren des Kreises nur noch ein Häufchen Asche zu sehen, umso erstaunter war sie, als dort eine große Gestalt aufragte, größer und breiter als jeder Mensch, aber doch mit menschenähnlicher Gestalt.
Das Geschöpf drehte sich um und zeigte eine Schnauze voller fingerlanger Reißzähne unter kleinen, schwarzen Bärenaugen. Der Blick dieser Augen ließ Niras Atem stocken. Sie war froh, als das Bild verschwand und wieder das vertraute Gesicht der fremden, ihr aber doch so lieben Frau auftauchte.
„Kind, was du dort gesehen hast, ist ein Urgal. Man nennt sie auch die Schergen König Elags. Wir beide, du und ich, wir sind von gleicher Art und wir haben einen gefährlichen Feind.
Unser Leben wurde geschaffen, alles Lebende zu schützen und zu erhalten, ihr Leben wurde nur geschaffen, um uns zu töten. Sei darauf gefasst, dass sie versuchen werden, auch dich zu töten. Du bist jetzt alt genug, sodass sie dich wahrnehmen können. Für sie bist du eine neue Bedrohung. Verbirg dich und versuche nicht aufzufallen. Wenn sie dich finden, musst du fliehen. Suche Schutz, wo immer es geht. Mein Geist wird dich begleiten. Ich werde dir beibringen, wie du mich rufen kannst und welche…“
Das Bild wurde blass und verschwamm, die Stimme verstummte.
Nira fröstelte. Der Wind hatte ihr Erlenzapfen und Blätter auf die Kleider geweht. Kräftige Böen ließen die Zweige rauschen. Der Hund stupste sie mit der Nase an.
Die Sonne stand im Südwesten. Es war bereits später Nachmittag. Nira sah keines der Schafe mehr, sprang hastig auf und brach in die Knie. Das lange Sitzen hatte ihre Beine gefühllos werden lassen. Sie strampelte und wackelte mit den Beinen um die Durchblutung in Schwung zu bringen und humpelte dann hektisch vorwärts. Mit einer Handbewegung schickte sie den Hund voraus, um die Tiere zu suchen. Das Land senkte sich hier in Stufen immer weiter ab und an seinem tiefsten Punkt begann das Pandagar-Moor. Vor langer Zeit, in einem der großen Kriege soll hier ein ganzes Heer der Pandagar versunken sein. Sie kamen aus dem Süden und wussten nichts von der Gefahr. So hat das Moor das Dorf von Gamar und seine Menschen vor einem Überfall und der sicheren Zerstörung bewahrt. Die Alten erzählten abends am Feuer diese Geschichte immer wieder gern. Jetzt machte das Moor Nira Angst.
In der Ferne grollte ein Donner. Schafe waren ängstliche Tiere und leicht zu erschrecken. Nira sah sie schon kopflos vor Blitz und Donner davonrennen und in Moorlöchern versinken. Sie beschleunigte ihren Schritt, sprang durch Pfützen und über Riedgrasbüschel, rutschte aus und rappelte sich wieder auf. Der Wind riss Haarsträhnen aus ihrem Zopf und peitschte sie ihr ins Gesicht. Eine Holzpantine blieb im Schlamm stecken. Als sie sich bückte, um den Schuh herauszuziehen, kam der Hund angesprungen und leckte ihr begeistert über das Wiedersehen das Gesicht. Nira holte gerade Luft, um mit ihm zu schimpfen, als sie hinter ihm die ganze Herde stehen sah. Er hatte sie geholt. Sie standen ruhig beieinander und keines fehlte. Nira seufzte vor Erleichterung.
Sie nickte dem Hund zu und er begann die Herde zu treiben.
Sie machten sich auf den Heimweg.
Es war kein Donner mehr zu hören. Das Unwetter hatte sie verschont.
Ob auch die Bedrohung aus dem Traum sie verschonen würde? Gewiss, es war nur einer ihrer Träume und wie sagte ihr Vater immer, „deine Hirngespinste interessieren niemanden. Es sind Hirngespinste, die dich davon abhalten, deine Arbeit ordentlich zu machen. Du tust gut daran, sie nicht zu beachten und niemandem weiter davon zu erzählen. Du giltst jetzt schon als wunderlich.“
Sicher gab es keine bärenartigen Zauberwesen. Und warum sollte jemand sie, Nira, als Bedrohung empfinden? Die Idee war wirklich lächerlich. Aber ein Gedanke war schön: „Du und ich sind von derselben Art.“ Auch, wenn es nur Hirngespinste waren, Nira fühlte sich nicht mehr ganz so allein.



Vatersorgen

Die beiden Männer saßen neben der Tür des alten Bauernhauses, das die Mitte des dreiseitigen Hofes bildete, auf einer geschnitzten Bank. Die Fenster des Ostflügels glänzten in der Abendsonne. Aus dem Küchenkamin stieg Rauch wie eine Säule in den Abendhimmel.
Der Abend war mild, kein Lüftchen regte sich. Aus der Krone der Linde, die den Hofeingang beschirmte, klang der Gesang einer Drossel.
„Ich weiß nicht mehr, was ich mit dem Kind tun soll, Gran. Ich habe es ihr erklärt, ich habe sie verprügelt, ich habe sie eingesperrt. Nichts. Es scheint gar nicht zu ihr durchzudringen. Sie schaut mich nur an und sagt kein Wort. Sie hat keine Erklärung, sie versucht nicht sich zu verteidigen, nichts! Vorgestern hat sie das Gatter am Wald offengelassen und die Kühe sind mir ins Feld gelaufen und haben die halbe Ernte gefressen oder zertrampelt. Es kann nicht sein, dass wir alle auf dem Hof im Frühjahr hungern müssen, weil sie einen Teil der Ernte auf dem Gewissen hat. Alle verdienen sich ihren Platz auf dem Hof durch gute Arbeit, jeder Knecht und jede Magd, nur meine Tochter nicht!“ Der Redner sprang auf und lief auf und ab. „Ich würde sie als Magd auf einen anderen Hof schicken, wenn ich nicht Angst vor den Folgen hätte. Ich müsste die Schäden ersetzen, die sie anrichtet, und“, er hielt inne und strich sich das sonnengebleichte Haar aus der Stirn, „ich hätte Angst, dass andere sie halb zu Tode prügeln würden, bei dem was sie sich zuschulden kommen lässt.“ Er seufzte und schob die Hände in seine Hosentaschen. „Sie ist im Dorf schon zum Gespött der Leute geworden: ‚Die Tochter vom reichen Wrana taugt zu nichts, sie ist nicht ganz richtig im Kopf‘“, sagte er leise. „Ich will nicht, dass die Leute über mein Kind spotten.“ Sein Freund Gran, so wie er, klein, stämmig und blond, aber deutlich rundlicher, erhob sich und trat neben ihn. „Schick sie zu mir als Hilfe in den Gasthof. Garan und ich sind immer da, um sie zu erinnern, wenn sie etwas vergisst und die anderen aus dem Dorf werden sich besser an sie gewöhnen. „Wrana hob den Kopf und ein kleiner Funke Hoffnung zeigte sich in seinen Augen. „Das willst du auf dich nehmen, Freund Gran? Es wird Ärger mit angetrunkenen Gästen geben, wenn sie etwas vergisst. Im schlimmsten Fall kommt es zu Prügeleien in deiner Gaststube.“ „Glaub mir, das ist mein täglich Brot, ich kann Raufbolde ganz schnell zur Ruhe bringen. Deiner Tochter wird in meinem Hause nichts geschehen und mir auch nicht mehr als sonst. Willst du sie mir morgen früh bringen?“ Wrana nickte und ein Lächeln erhellte sein Gesicht: „Ich danke dir, Freund.“ Gran erhob sich. Die Männer umarmten sich, klopften sich freundschaftlich auf die Schultern und wünschten sich eine gute Nacht.

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