Von Belang

Von Belang

Menschen am Scheideweg in drei spannenden Erzählungen

Stephan Tomat


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 156
ISBN: 978-3-95840-958-3
Erscheinungsdatum: 18.11.2019
„Schicksalhafte Untiefen“ - „Begegnung mit dem Leben“ - „Schon immer…“ Drei Geschichten, die von menschlichen Abgründen und seelischen Tiefen, aber auch von ungeahnten Stärken erzählen. Drei kleine lesenswerte analytische Meisterwerke.
Kapitel 1
Diagnose

„Sie leiden an einem exokrinen Pankreastumor in weit fortgeschrittenem Stadium. Ihre Erkrankung ist nach Auswertung aller nur denkbaren Untersuchungsergebnisse nicht mehr heilbar. Ich muss es Ihnen sowieso sagen, also tue ich es direkt, auch um etwaige Missverständnisse zu vermeiden und keine falschen Hoffnungen zu wecken. Ihre Lebenserwartung liegt bei drei bis sechs Monaten.“
Das war die niederschmetternde Diagnose, die Lester Bird am 17. September 2018 vom Chefarzt einer der besten onkologischen Kliniken Kaliforniens, vielleicht der ganzen Welt, ohne große Umschweife erhielt. Ohne in die medizinischen Details dieser zumeist tödlich verlaufenden Krankheit, insbesondere wenn sie sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befindet, einzugehen, so sei in Lesters Fall darauf verwiesen, dass er den eher unspezifischen, frühen Symptomen eines Pankreas-Karzinoms keinerlei Beachtung schenkte. Neben der Tatsache, dass er als CEO (Chief Executive Officer) eines Großunternehmens ständig mit „höchst dringlichen Themen“ zu tun hatte, die ja immer eine fantastische Ausrede dafür liefern, andere, zumeist private, wichtige Dinge auf die lange Bank zu schieben, mied Lester schon sein ganzes Leben lang Ärzte und Arztbesuche wie der Teufel das Weihwasser.
So erklärte er sich den recht schnellen, signifikanten Gewichtsverlust mit der physisch sehr anstrengenden Vorbereitung auf einen Halbmarathon, den zu bestreiten er noch im Oktober desselben Jahres die Absicht hatte. Die häufige Müdigkeit und Niedergeschlagenheit schob er auf die Anstrengungen einer aktuell laufenden Umstrukturierung seiner Firma, und die immer häufiger auftretenden Schmerzen im Oberbauch auf zu viel Stress, zu unregelmäßiges Essen und so weiter. Er wäre nie auf die Idee gekommen, sich einmal einem physischen Check-up zu unterziehen, was im Alter von genau 50 Jahren in jedem Fall und unabhängig von seinen aktuellen Beschwerden dringend einmal geboten gewesen wäre.
Erst als die Bauchschmerzen immer regelmäßiger und stärker auftraten, dann irgendwann auf den Rücken ausstrahlten, seine Verdauung heftige Beschwerden machte und er permanent von starker Übelkeit geplagt wurde, entschied er sich endlich, zum Arzt zu gehen. Allerdings zu seinem Hausarzt (für Allgemeinmedizin) – wenn man denselben denn überhaupt als seinen Hausarzt bezeichnen konnte, suchte er ihn doch nicht häufiger als etwa einmal in drei Jahren auf –, der Lesters Beschwerden, wie auch dessen Mutmaßungen über ihre Ursachen, grundsätzlich für plausibel hielt. Mit dem Resultat einer Empfehlung der Änderung seines auszehrenden Lebenswandels und der Verschreibung von aufbauenden Vitamin- und Mineralstoff-Komplexen. So unwirklich es scheint, der Arzt ließ nicht einmal eine Blutuntersuchung machen, geschweige denn überwies Lester zumindest an einen Internisten.
Nun muss man hierbei folgende Dinge berücksichtigen:
Lester Bird war ein „Prestige-Patient“, leitete er doch seit vielen Jahren eines der größten und erfolgreichsten Unternehmen im Silicon Valley und gehörte zu den wohlhabendsten Menschen des Staates Kalifornien. Ohne automatisch von „Gefälligkeitsgutachten“ und ebensolchen „Gefälligkeitsdiagnosen“ auszugehen, so muss man sich bewusst sein, dass manche Ärzte recht weit gehen würden, um einen solchen Patienten nicht zu verlieren, was hier zu Bedenken gegeben, aber eben explizit nicht unterstellt wird.
Wir Menschen haben alle einen Hang dazu, Ärzten, böse gesagt „Weißkitteln“, quasi automatisch und ex ante eine hohe berufliche Kompetenz zuzusprechen. Wie töricht, denn warum sollte der Berufsstand der Ärzte keine Gaußsche Normalverteilung aufweisen, genau wie jeder andere Berufsstand auch? Demnach gäbe es einige wirklich schlechte Ärzte, einige herausragend gute Vertreter dieses Berufsstandes, die überwältigende Mehrzahl wäre aber als „durchschnittlich“ gut oder schlecht anzusehen. Über dieses Naturgesetz, und sei es nur unterbewusst wissend, wählen und beschäftigen wir zum Beispiel Handwerker, Gärtner, ja wohl alle Dienstleister, wählen Restaurants aus, Friseure, Freizeitgestaltung, Urlaube, Sportvereine et cetera und sind damit auch kritisch und aufmerksam in eben dieser Auswahl. Nur Ärzte scheinen für uns Menschen tendenziell alle „Halbgötter in Weiß“ zu sein, denen wir alle nur allzu leicht unser Vertrauen schenken. Was für ein Irrtum und Leichtsinn, denn in die Auswahl seines Arztes/seiner Ärzte sollte jeder Mensch wohl eher mehr Energie investieren als in irgendeine andere Auswahl, selbst die seines Steuerberaters.

Wie dem auch sei, Lesters Zustand verschlechterte sich mit dramatisch steigernder Dynamik, bis ihn nach ein paar „Zwischenstufen“ im Arztdickicht sein Weg endlich in das anfangs erwähnte Zentrum für Onkologie führte. Und diese viele vergeudete Zeit nutzte der Krebs, um in Lesters Körper zu wachsen und zu wuchern. Eben bis zu dem unheilbaren Stadium, mit dessen Diagnose und Kommunikation an Lester durch einen echten Experten diese Geschichte begann. Lester hielt es keineswegs für zu unsensibel und direkt, wie besagter Chefarzt an ihn Diagnose und Prognose kommunizierte, denn er liebte eine klare, direkte, auf das Wesentliche fokussierte Ansprache. Schließlich war er in seinem Job ganz genauso: immer kurz, prägnant, deutlich, fachlich über jeden Zweifel erhaben, schnell auf die Essenz kommend – gerne sogar mit einer Andeutung intellektueller Überheblichkeit. Mit diesem kommunikativen Stil ist er sehr schnell und weit aufgestiegen. Und ebnete jetzt solchen Manager(innen) den Weg, die diese Art der Kommunikation „im Blut“ hatten. Quasi als Grundvoraussetzung dafür, bei ihm Karriere zu machen. Was aber definitiv nicht heißt, dass sein Führungsnachwuchs nicht alle Elemente einer zielführenden emotionalen Intelligenz und Kommunikation zu beherrschen hatte – eben alles zu seiner Zeit.
Lester Bird war so etwas wie eine Koryphäe im Valley, hatte er doch als einer der ersten CEOs kleinerer und mittelgroßer .com-
Firmen erkannt, dass man Computer-Hardware und Betriebssysteme tunlichst den „Großen“ überlassen und sich vielmehr auf Content-Management konzentrieren sollte. Hervorragende Apps für die großen Player am Markt entwickeln, herausragende Ideen im Bereich von Suchmaschinen-Anbietern, außergewöhnliche Spiele-, Musik-, Entertainment-Downloads und nicht zuletzt erstklassige Kontakte und Ideen im Markt für Social Media. Darauf richtete er das Unternehmen konsequent aus und erzielte ein jährlich zweistelliges Wachstum in Umsatz und Gewinn seit knapp über zehn Fiskaljahren. Ganz zum Entzücken der Aktionäre, die mit „seinen“ Aktien ein kleines Vermögen machen konnten.
So war dieser Lester Bird in seinem Beruf: extrem zielstrebig, strategisch, fokussiert, analytisch und vor allen Dingen immer abstrahierend denkend. Mit einem Talent gesegnet, sich immer auf das Wesentliche zu konzentrieren, in enormer Geschwindigkeit alles unwesentliche Beiwerk von den wirklich wichtigen strategischen Fragen zu trennen und in eben diese seine beruflichen Ressourcen zu investieren. Aber wie war er privat? Es wundert nicht wirklich, dass er obige Attribute auch in seinem Privatleben „lebte“. Und dabei fast zwangsweise auch auf vielleicht vollkommen unangebrachte Art und Weise in unterschiedlichsten, auch durchaus hochpersönlichen, ja sogar intimen Situationen.
Die beiden waren jetzt seit nunmehr fast 25 Jahren verheiratet. Die Ehe mit der reizenden Anna, 46, war kinderlos geblieben, was an der Tatsache lag, dass Lester schlichtweg nie ein Kind, geschweige denn mehrere Kinder haben wollte. Ein aufmerksamer Beobachter würde die Ehe, die Beziehung der beiden zueinander, wohl als etwas kühl und distanziert beschreiben. Eine Ehe, die das große Geld, dafür umso weniger die große Liebe ihr Eigen nannte.
Für Anna definitiv zu wenig, denn sie war eher der emotionale, empathische Typ Frau. Am Anfang ihrer Ehe waren die Dinge ausgewogener gewesen, denn Lester war jung und frisch verliebt ein durchaus charmanter und emotionaler Typ. Dies, in Kombination mit einem sehr ansprechenden Äußeren, machte ihn – wohl auch neben den weltlichen Gütern, die man sich aufgrund von Lesters Management-Talenten schon in recht jungen Jahren leisten konnte – für Anna zu dem Mann, in den sie sich schließlich aufrichtig verliebte. Aber mit der Zeit gewannen Lesters „berufliche Attribute“ immer mehr die Überhand. Und sie hinterließen bei Anna ein emotionales Vakuum, das Lester weder zu füllen fähig noch sonderlich interessiert war. Er war sich seiner Anna sehr sicher. Zu sicher, wie sich herausstellen sollte.
Lester hatte mit David Turner einen echten „Busenfreund“, ging diese enge Freundschaft doch schon auf die gemeinsame Schulzeit zurück. David, der sich genau wie sein Freund Lester für das Studium der Wirtschaftswissenschaften entschied, spezialisierte sich auf die Finanzwirtschaft, während Lester den Bereich „Business Administration“ favorisierte. Eine Ausbildung, die generalistischer war, während David eher die Expertenlaufbahn im Bereich Finanzen ansteuerte.
Über Lesters durchschlagende Erfolge am Markt wurde bereits berichtet. Nicht aber bislang darüber, was für eine wichtige Rolle David dabei spielte. David schloss sein Studium mit Auszeichnung ab und arbeitete sodann für verschiedene Unternehmen bis hin zum Finanzvorstand, dem sogenannten CFO (Chief Financial Officer). Lester und David blieben als beste Freunde ohnehin ständig in aktivem Kontakt und versuchten, auch so viel wie möglich ihrer rar gesäten Freizeit miteinander zu verbringen. Dann, vor etwa 10 Jahren, holte Lester seinen herausragend qualifizierten und erfolgreichen Freund als CFO in „sein“ Unternehmen, wo beide zusammen diese beispiellose Erfolgsgeschichte schrieben. Sie ergänzten sich als CEO und CFO zumindest in der Außenwirkung hervorragend. Wenn es um Ruhm, Ehre und Scheinwerferlicht ging, so stand Lester als CEO des Unternehmens immer ganz vorn, dort, wo er nach seiner festen Überzeugung auch hingehörte. David, der einen ähnlich großen Anteil am Erfolg hatte, begnügte sich bislang mit seiner Position in der zweiten Reihe. Zum Ersten schien es ihm vor allem um den Erfolg der Firma zu gehen und nicht um seine spektakuläre Inszenierung. Zum Zweiten besaß er eine sehr gute Selbsteinschätzung und wusste, dass er als Nummer zwei derzeit besser geeignet war denn als Nummer eins. Insofern waren die beiden auch als Gespann CEO/CFO zumindest bislang wunderbar komplementär. Privat beste Freunde und beruflich ein unschlagbares Gespann. Beide im gemeinsam erarbeiteten Wohlstand lebend, sich aufgrund ihrer menschlichen wie fachlichen Kompatibilität nicht in beruflichen Grabenkämpfen aufreibend und in der Lage, ihre außergewöhnliche Freundschaft zu konservieren und nicht dem und im Beruf zu opfern. Fast zu schön, um wahr zu sein …?
Und so war es dann leider auch:
Lester würde nun innerhalb weniger Monate dem Krebs zum Opfer fallen. Selbstverständlich eine Information, die man als durchaus narzisstischer Mensch, der er nun einmal war, solange wie irgend möglich vor der Außenwelt verborgen hielt. Und diese inkludierte in jenem Fall selbst seine Frau Anna wie auch seinen engsten Freund und Vertrauten David. Bloß nie Schwäche zeigen, immer Herr der Dinge bleiben, sich selbst und vor allem gegenüber anderen keine Hilfsbedürftigkeit eingestehen. So war nun einmal ein wichtiger Teil von Lesters Persönlichkeit angelegt. „Vorn ist, wo ich bin – Ende“!
Und dann war da noch eine bislang nicht thematisierte Problematik, die die traumgleiche Idylle potenziell empfindlich störte, und zwar erst jetzt auf ernsthafte Weise, da Lester sein, wie er selbst sagte, „Todesurteil“ kommuniziert bekommen hatte: die schon mehrere Jahre anhaltende Beziehung zwischen Anna und David.
Lester wusste von dieser Affäre ebenfalls seit Jahren. Sein bester Freund – einem Bruder gleich – hatte eine Liebesbeziehung mit seiner Ehefrau. Lester aber nahm etwas mit Gelassenheit, ja fast Gleichgültigkeit auf, was im Normalfall für den betrogenen Ehepartner einer Katastrophe gleichkam. Aber, wie bereits ausgeführt, waren Lesters Liebe und Empathie für Anna relativ schnell nach der Zeit der initialen Hingabe und Emotionalität seinem wahren „Ich“ wieder gewichen. Und dieses war durch und durch rational, ehrgeizig und auf beruflichen Erfolg abzielend. Solange dieser Erfolg im Gespann mit David erzielt wurde, hatte Lester seine oberste Priorität gesichert. Und was waren die beiden erfolgreich! Lesters „Sucht“ nach dem ultimativen beruflichen Erfolg ging so weit, dass er die Beziehung zwischen Anna und David nicht nur akzeptierte, sondern sie sogar im Stillen promotete und damit als stabilisierenden Faktor seiner erfolgreichen beruflichen Zusammenarbeit mit David instrumentalisierte. Aber das war vorbei. Mit Lesters „Todesurteil“ verschoben sich seine Welt, alle seine Prioritäten, sein ganzes Werte- und Koordinatensystem. Nichts war mehr so wie vorher, nichts stimmte mehr, nichts hatte mehr seinen ursprünglichen Sinn. Und gerade jetzt, in dieser für Lester unvorstellbar düsteren Zeit, fiel ihm auch noch durch eine Nachlässigkeit Annas ein Brief von David in die Hände, aus dem explizit hervorging, dass diese Beziehung schon seit Jahren gelebt und verschwiegen wurde, und in dem David Anna einen massiven Gewissenskonflikt gegenüber Lester artikulierte. Gerade jetzt, da sich dieses „Problem“ durch sein baldiges Ableben quasi von selbst in „Wohlgefallen“ aufgelöst hätte! „Was für ein Zufall, was für ein schicksalhaftes Timing“, dachte Lester beim Lesen dieser Zeilen. David liebe Anna, aber Lester wäre sein bester Freund, solange er denken könne. Nun gälte es für ihn, der ein charakterlich sauberer, grundgütiger Mensch zu sein schien, dieses Dilemma aufzulösen, und zwar gemeinsam mit Anna. Irgendwie müsse reiner Tisch gemacht werden, und er sinne pausenlos über das „Wann“ und „Wie“. David schien ein wirklich guter Mensch zu sein. Er hatte nunmehr auch bereits das Alter von 49 Jahren erreicht, war nicht verheiratet und kinderlos. Nur so konnte es laut Davids glaubhafter Versicherung gegenüber Anna überhaupt dazu gekommen sein, dass er diese lange währende Beziehung zu ihr hatte. Als verheirateter Familienvater hätte ihn sein Wertegerüst wohl davon abgehalten. All das stand in dem Brief. Ein jeder Leser mag dieses Manifest, diese eigene Versinnbildlichung zur fast schon Definition eines Gutmenschen für sich beurteilen. Ohne jeden Zweifel war David objektiv hochintelligent und gleichzeitig emotional, großzügig, zu wahrer Liebe fähig, vertrauenswürdig, zuvorkommend, hilfsbereit …! Er war zudem ein sehr attraktiver Mann. Kein Wunder also, dass Anna ihn vom Augenblick ihrer ersten Begegnung an hochgradig interessant und attraktiv fand. Sie hatte auch später keinerlei Gewissensbisse ob der Beziehung mit David, denn, wie sie es sah, betrog ihr Mann sie vielleicht nicht mit einer anderen Frau, jedoch mit seinem Job und auf fast jede erdenkliche andere Art und Weise.
David war ein brillanter Finanzfachmann, seine Befähigung zum CFO eines großen, börsennotierten Unternehmens – mittlerweile Konzerns – aller Orten unumstritten. Er war so gut in seinem Job, dass er sich vor attraktiven Angeboten kaum retten konnte. Er aber lehnte jede Anfrage ab, denn er leitete gemeinsam mit seinem besten Freund ein höchst erfolgreiches Unternehmen. Dass er dabei auch noch fürstlich entlohnt wurde, versteht sich bei den bereits erwähnten Erfolgen von selbst. Für Lester war er als sein Finanzchef ein regelrechter Segen, denn David beherrschte alle Disziplinen in diesem, gerade für börsennotierte Unternehmen essenziell wichtigen Bereich. Ob Forecast- und Performance-Management, Steuern, Reporting, Compliance-Management, Umgang mit externen wie internen Prüfern, SOX, Finanzierung – David beherrschte alles. Die Dinge liefen für ihn perfekt, wie er immer wieder betonte. Und er war dafür aufrichtig dankbar, dass sein Leben diesen außerordentlich „tollen“ Weg beschritten hatte.
Und die Beziehung zu Anna hatte nunmehr seit mehreren Jahren sein ohnehin großartiges Leben noch einmal bereichert. Anna war aus „gutem Hause“, eine im Beratungsgeschäft selbstständige und gefragte Diplom-Ökonomin und eine physisch wie psychisch betörende, vom Schicksal reich beschenkte Frau. Sie und David sonnen nun nach einem Weg des „Coming-out“ gegenüber Lester, der nicht alles zerschlug, was man sich gemeinsam aufgebaut hatte. Anna verstand die plötzliche Eile nicht, wusste nicht, was David so extrem antrieb, schnellstmöglich ihre Beziehung zu offenbaren. Aber sie akzeptierte die offensichtliche Tatsache, dass David sein Gewissen erleichtern musste und gleichzeitig klare Fronten schaffen wollte. Es schien ihm eine Herzensangelegenheit zu sein, und da sie ihn liebte, stellte sie keine weiteren Fragen ob dieser plötzlichen Eile. Wie sollten sie auch wissen, dass Lester ohnehin seit Jahren im Bilde und durch den Brief detailliert und hochaktuell über sie in Kenntnis gesetzt war? Und wie sollten sie wissen, dass Lester ihre Beziehung bislang nicht im Geringsten interessiert hatte? Wie auch nur erahnen, dass es Lester einzig um den beruflichen Erfolg ging? Und ein wichtiger Parameter hierzu war die ungetrübte Freundschaft zu David. Lester war kein Unmensch durch und durch, er empfand auch wirkliche und ehrliche Freundschaft zu David. Aber er war ein ausgemachter Egomane, und als solcher hatte er, wie bereits gesagt, die Beziehung seiner Frau zu David, wie auch dessen Liebe zu Anna, benutzt. Als einen wichtigen stabilisierenden Faktor zum Erhalt des eigenen Status quo: seines Erfolgs!
Bloß all dies veränderte sich schlagartig mit dem Erhalt seiner Diagnose, seinem „Todesurteil“. Sein Tod war nicht mehr abzuwenden, er war nur noch eine Frage weniger Monate. Damit war auch das pathologische Streben nach Erfolg nicht mehr von Relevanz. Und alle seinem Erfolgshunger bislang untergeordneten Dinge in seinem Leben veränderten sich quasi über Nacht! Oder besser: seine Einstellung zu denselben.
Und jetzt offenbarte sich Lesters Charakter. Er wurde extrem eifersüchtig, innerlich geradezu jähzornig ob des jahrelangen Verhältnisses zwischen seiner Frau und seinem besten Freund. Er begann, so gesehen, so zu fühlen und zu reagieren, wie man es erwarten würde. Allein seine bereits hinlänglich beschriebene und hervorgehobene Gier hatte ihn so atypisch handeln lassen. Aber jetzt war alles anders. Diese seinem Lebenselixier gleiche Triebfeder für die Art und Weise, sein Leben zu führen, war nicht mehr existent. Dies, gepaart mit seinem egozentrischen Charakter und dem Schockzustand, in dem er sich nach der Diagnose befand, ergab einen höchst brisanten, ja gefährlichen „Cocktail“, der nichts Gutes erahnen ließ. In der Tat war Lester jetzt gänzlich unberechenbar. Das gälte wohl für viele Menschen, die so eine Todesnachricht zu verdauen haben. Aber Menschen, die in ein funktionierendes soziales Umfeld eingebettet sind, eine wirkliche Ehe führen und Freundschaften pflegen, die nicht an diverse Bedingungen geknüpft sind, würden sich wohl eher ihrem ganz engen Umfeld offenbaren, Leid und Angst teilen, zumindest ihre Hilfsbedürftigkeit offen artikulieren. Und wenn nicht im engsten privaten Kreis, dann vielleicht mit einem „externen“ Menschen wie zum Beispiel einem Therapeuten. Ich denke, keiner kann sich wirklich vorstellen, was eine solche Diagnose auslöst. Und es gibt sicherlich endlos viele Wege, mit derselben umzugehen. Und so nehmen wir mit Respekt von jeder Spekulation Abstand, denn wie soll man treffend eine Situation behandeln, die man nicht versteht, weil man das Glück hatte, bislang davon verschont zu bleiben? Lesters Reaktion fiel jedoch in eine andere Kategorie, eine, mit der man sich sehr wohl auseinandersetzen kann, ja muss. „Bis dass der Tod Euch scheidet …“ Auch Lester erinnerte sich nur allzu gut an diesen Teil des Hochzeitsversprechens, als er, wie so häufig in diesen Tagen, sein Leben Revue passieren ließ. Und er dachte: „Wie wahr, der Tod wird diese Ehe scheiden. Aber es wird nicht mein Tod allein sein.“ Er würde Anna und David „mitnehmen“. Die beiden Menschen, die ja quasi Teil dieser Ehe geworden waren.
Und dies war kein Gedankenspiel. Es war bitterer Ernst, denn die Entscheidung war seitens Lesters getroffen.
Und so bestand zu jener Zeit Lesters Leben ausschließlich daraus, über das Wann, Wie und Wo des gemeinsamen Todes dreier Menschen nachzudenken.

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