Riphasnibur

Riphasnibur

Ein tödliches Geheimnis

Michelle Sue Kraft


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 284
ISBN: 978-3-95840-888-3
Erscheinungsdatum: 20.08.2019
Warum tötet jemand ältere Herren und ritzt ihnen Buchstaben in die Haut? Diesen Fragen müssen Chefermittler O’Brien und sein Team nachgehen. Dabei stoßen sie auf ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit.

I

An diesem Februarmorgen wollte es nicht so recht hell werden. Inspektor Colin McBride saß noch beim Frühstück und wünschte sich, dass sein Arbeitstag mal wieder etwas Aufregendes bereithielt. Seit zwei Wochen war er dabei alte Fälle zu sichten und zu prüfen, ob sich etwas Neues ergeben hatte. Meist war das Ergebnis gleich null. Nun gut, sinnierte er vor sich hin, bei diesem Wetter ist ein Tag im Büro nicht das Schlechteste. Die Wolken am Himmel sahen aus, als wollten sie jederzeit ihre Schleusen öffnen und ihren Inhalt über die Stadt ausschütten. Als er zu seinem Wagen ging, fielen bereits die ersten Tropfen. Auf der Fahrt ins Büro von Scotland Yard wurde es immer schlimmer.
Er fuhr in die Tiefgarage des Gebäudes und dann mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock. Auf dem Gang kam ihm Melanie Duncan entgegen. Sie hatte vor gut einem Jahr ihre Polizeiausbildung beendet und seit einem halben Jahr war sie in seiner Abteilung tätig. Gerade mal Anfang zwanzig tat sie manchmal so, als wäre sie schon ewig dabei. Aber man konnte ihr nichts übel nehmen. Sie hatte ein sonniges Gemüt und immer einen coolen Spruch auf Lager, wenn alle um sie herum am Rotieren waren. Sie war fleißig und hatte keine Probleme damit die Schreibarbeiten zu übernehmen, die andere für unbequem hielten.
„Guten Morgen, Sir“, lächelte sie McBride an.
„Was bitte ist an diesem Morgen gut?“
„Nun ja, das Wetter ist es bestimmt nicht, wenn Sie das meinen. Aber ansonsten …“ Sie ließ den Satz offen.
„Nun ja, schauen wir einmal, was heute auf uns zukommt“, meinte McBride etwas versöhnlicher. „Sind die letzten Protokolle schon fertig?“
„Ja, Sir. Sie liegen auf Ihrem Schreibtisch. Ich wollte mir gerade einen Kaffee holen. Soll ich Ihnen einen mitbringen?“
„Eine gute Idee. Schwarz …“
„… mit zwei Stück Zucker. Ich weiß“, meinte sie gutgelaunt und ging an ihm vorbei zur Küche. Er sah ihr nach und musste lächeln. Sie war nicht besonders groß, dafür aber gut genährt, ohne wirklich dick zu sein. Ihr rotblondes Haar hatte sie, wie immer, zum Pferdeschwanz gebunden und dieser bewegte sich hin und her, wenn sie ging. McBride ging in sein Büro am Ende des Ganges. Sein Assistent und Freund Patrick „Pat“ Ingells saß bereits am Schreibtisch und war in eine Akte vertieft.
„Morgen, Pat.“
„Morgen Colin. Hast du schon gehört? Die Sekretärin vom Boss soll der Storch gebissen haben.“
„Manchmal scheinst du genauso gut informiert zu sein wie die Klatschbasen im Haus“, amüsierte sich McBride.
„Nun ja, manchmal ist es gut zu wissen, was vor sich geht. Stell’ dir vor, ein Posten wird frei und du hast die Möglichkeit dich darauf zu bewerben, bevor es andere tun“, erwiderte Pat. „Soll das heißen, dass du mit deinem Posten nicht zufrieden bist?“
„Doch, natürlich. Aber man will ja irgendwann auch weiterkommen.“
„Nun gut, dann schauen wir mal, was der heutige Tag uns bringt“, meinte McBride und ließ sich an seinem Schreibtisch nieder.
„Ich wünschte, es gäbe mal wieder einen Außeneinsatz“, meinte Pat versonnen.
„Selbst bei diesem Wetter?“, ertönte die Stimme von Melanie, die soeben ins Büro kam. „Ihr Kaffee, Sir!“
„Danke, Melanie.“
„Ach, der Chef bekommt einen Kaffee und was ist mit mir?“, beklagte sich Pat.
„Wenn du Chef bist, serviere ich dir auch den Kaffee. Bis dahin nur bei besonderen Gelegenheiten. Außerdem hattest du bereits zwei und so gesund ist der Kaffee in hohen Dosen auch nicht. Gefährdet nur die Gesundheit“, meinte Melanie lächelnd.
„Genau das meinte ich vorher. Irgendwann werde auch ich mal Chef sein; hoffentlich.“
„Wer weiß, ob ich dann noch hier bin und dir den Kaffee bringe. Vielleicht tauschst du mich ja vorher aus gegen ein Polizeimodell“, sagte sie lachend.
„Wenn du mir verrätst, wo es die gibt …“, lachte nun auch Pat.
„Können wir jetzt vielleicht mal wieder zur Tagesordnung übergehen?“, fragte McBride.
„Ja, Chef“, ertönte es von beiden wie aus einem Mund.
Nachdem sich der Vormittag wieder einmal ereignislos dahinzog, konnte McBride die Mittagspause kaum erwarten. Um dem Büro zu entfliehen, hatte er es sich angewöhnt in den nahegelegenen Pub zu gehen und dort eine Kleinigkeit zu essen. Zudem kamen die Arbeiter aus der Umgebung dorthin und er erfuhr das eine oder andere, was ihm von Zeit zu Zeit geholfen hatte einen Fall von anderer Seite her zu betrachten. Manchmal mit Erfolg, meist aber ließen sich lediglich Ideen daraus entwickeln. Er mochte die Atmosphäre, auch wenn es meist laut zuging.






II

Gegen die Mittagszeit ging Mrs. McGruder wie jeden Tag mit ihrem Hund spazieren. Da das Wetter auch in den Midlands nicht das beste war, entschied sie sich heute den Weg am Seeufer entlangzugehen. Dort standen genug Bäume für Buffy und auch sie nahm diese als zusätzlichen Schutz gegen den Regen in Kauf. Sie ging diesen Weg nicht gerne, weil sie schon des Öfteren dort Gestalten begegnet war, die sie nicht ein zweites Mal treffen wollte. Doch heute schien ihr das Wetter dagegen zu sprechen, dass sich dort viel „Gesindel“, wie sie es nannte, herumtrieb. Sie war zwar eine resolute, ältere Dame, aber vor der heutigen Jugend – der nichts mehr heilig war – hatte sie doch eine gewisse Furcht.
Nachdem sie die Straße verlassen hatte und auf dem Waldweg war, ließ sie Buffy von der Leine. Sollte der Hund doch ruhig ein bisschen rumtollen, dachte sie sich. Nach einer Weile war Buffy nicht mehr zu sehen. Nur in der Ferne hörte sie ihn knurren.
„Buffy, wo bist du? Komm her zu mir!“, rief sie. Doch der Hund gehorchte nicht. „Buffy!“ Sie ging weiter und sah sich nach allen Seiten um. Jedoch konnte sie ihn nicht entdecken. „Buffy!“ Ein Bellen ließ sich hören und sie folgte dem Geräusch. Dann endlich sah sie ihn. Er stand am Seeufer und knurrte irgendetwas an. Da ihre Augen nicht mehr die besten waren, konnte sie aus der Entfernung nicht sehen, was es dort gab. Als sie jedoch näher heranging, zeichnete sich ein Gegenstand ab. Sie verließ den Weg, um zu ihrem Hund zu gelangen. Als sie neben ihm ankam, sah sie, was seine Aufmerksamkeit angezogen hatte. Ein Schrei entfuhr ihrem Mund und sie nahm Buffy sofort an die Leine. Widerwillig ließ der Hund sich von ihr zum Weg zurückzerren. So schnell sie nur konnte, ging sie zurück zur Straße und ins nächste Geschäft. „Schnell, rufen Sie die Polizei! Am See liegt eine Leiche!“, rief sie ganz aufgebracht der Verkäuferin zu.
„Eine Leiche? Sind Sie sicher?“
„Aber ja doch. Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen und Buffy auch. Er hat sie gefunden!“
„Schon gut, ich glaube Ihnen ja!“ Die Verkäuferin griff zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei.
Zehn Minuten später führte Mrs. McGruder die Polizisten zu der Stelle, wo die Leiche lag. Man bat sie auf dem Weg zu warten.
„Keine Sorge, ich habe nichts angefasst“, meinte sie.
„Das glaube ich Ihnen gerne. Aber es könnte Spuren geben, die vielleicht …“
„Bei diesem Wetter werde Sie kaum welche finden“, fiel Mrs. McGruder dem Beamten ins Wort. „Das weiß ich aus den Krimis“, erläuterte sie noch.
„Ma’am, Sie können ruhig wieder nach Hause gehen. Wir kümmern uns jetzt darum.“ „Vielleicht ist es ja jemand von hier. Dann könnte ich Ihnen eventuell helfen die Leiche zu identifizieren“, meinte sie.
„Nun, wenn Sie öfters Krimis sehen, dann sollten Sie wissen, dass Wasserleichen nicht gerade appetitlich aussehen; um es mal so auszudrücken. Wir wollen doch nicht riskieren, dass Sie in Ohnmacht fallen oder gar einen Herzinfarkt bekommen“, erwiderte der Beamte beruhigend.
„Schon gut, Officer. Wenn Sie mich brauchen, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.“
„Aber ja!“
Auf der einen Seite war Mrs. McGruder neugierig genug, um zu erfahren, wer der Tote war, auf der anderen Seite wollte sie sich aber doch den Anblick ersparen. Da die Leiche mit dem Gesicht im Wasser lag, konnte sie den Mann nicht erkennen. Und dass es ein Mann war, stand ohne Zweifel fest. Also machte sie sich auf den Rückweg. Nun hatte sie etwas zu erzählen.
Innerhalb nur einer Stunde wussten alle im Ort Bescheid. Es sprach sich herum wie ein Lauffeuer. Mittlerweile hatte man den Fundort weiträumig abgesperrt und trotz des immer noch währenden Regens hatten sich Schaulustige eingefunden. Es wurde spekuliert, wer der Tote sein könnte. Doch im Ort wurde keiner vermisst. Es konnte also niemand von hier sein. Aber wer war es dann? Vielleicht ein Tourist? Ein Durchreisender? Warum wurde er getötet? Hatte es eine Auseinandersetzung gegeben? Oder war es gar ein Raubmord? Und wer war der Täter? Einer von hier? Undenkbar! Schließlich kannte man doch seine Nachbarn. Und Touristen kamen selten hierher.






III

Als McBride von der Mittagspause ins Büro zurückkam, meinte Melanie ganz aufgeregt: „Sir, Sie sollen sofort zum Boss kommen. Es scheint was passiert zu sein!“
„Danke, Melanie. Ich werde gleich raufgehen.“ Bei meinem Glück ist es bestimmt nur noch ein neuer, alter Fall, der ihm eingefallen ist, dachte McBride bei sich. Ohne große Erwartungen ging er ins Büro seines Vorgesetzten. Pat war bereits da und sah ihn erwartungsvoll an.
„Es gibt Arbeit“, raunte er ihm zu.
„McBride, wie weit sind Sie mit den alten Fällen?“, fragte Chefinspektor Kenneth O’Brien.
„Wir sind noch dran, aber es gestaltet sich schwierig, Sir!“, antwortete McBride.
„Gut. Dann können Sie diese fertig machen, nachdem Sie den Fall gelöst haben.“
„Welchen Fall, Sir?“, fragte McBride neugierig.
„Ich bekam gerade einen Anruf von einem Detektiv eines Dorfes namens Richhill am Loch Lomond. Sagt Ihnen das was?“
„Nein, Sir!“
„Nicht so schlimm. Auf jeden Fall hat man dort eine noch nicht identifizierte, männliche Leiche am See gefunden. Die Umstände scheinen wohl etwas bizarr zu sein, weshalb man Scotland Yard um Hilfe gebeten hat. Ich möchte, dass Sie und Ingells dort hinfahren und sich das Ganze ansehen. Erstatten Sie dann Bericht und ich werde entscheiden, ob wir uns damit befassen oder nicht. Irgendwelche Fragen?“
„Nein, Sir. Außer …“
„Ja?“
„Wie kommen wir dahin?“ Nachdem der Chefinspektor ihnen eine Beschreibung gegeben hatte, gingen sie zurück ins Büro.
„Hättest du gedacht, dass wir heute hier noch einmal rauskommen?“, fragte Pat McBride. „Ehrlich gesagt, nein. Aber ich wünschte, das Wetter wäre besser“, antwortete dieser. „Mensch, stell dich nicht so an. Du musst ja nicht laufen.“
„Das nicht, aber bestimmt eine Weile am Seeufer stehen und eine Leiche begutachten.“ „Wenn du lieber hierbleiben möchtest …“
„Das könnte dir so passen, Pat Ingells!“, meinte er lachend. „Noch bin ich der Chef von uns beiden.“
„Du hast ganz recht – noch!“
„Nun hör’ sich einer dieses Greenhorn an. Eines Tages wird auch deine Stunde schlagen und du darfst anderen Anweisungen geben; aber bis dahin …“
„Bis dahin tue ich, was du willst, ich weiß. Nun ja, es hätte schlimmer kommen können.“
„Was soll das nun wieder heißen?“, fragte McBride etwas irritiert.
„Ich hätte einen schlechteren Chef als dich bekommen können. Bei dir fühle ich mich nicht so sehr als dein Laufbursche.“
„Danke.“
„Ich hoffe, ich kann dir auch bei diesem Fall eine Hilfe sein.“
„Keine Sorge, du erhältst dein Stück vom Kuchen.“ Sie sahen sich an und mussten beide lachen.
„Ein neuer Witz?“, fragte Melanie sogleich.
„Nein, nur ein neuer Job.“
„Ihr Glücklichen! Ich wünschte, ich käme auch mal hier raus“, seufzte sie.
„Keine Bange, deine Stunde kommt auch noch“, meinte Pat tröstend. „Bis dahin bleibst du am Telefon und holst für uns Erkundigungen ein. Das ist ein verantwortungsvoller und nicht zu unterschätzender Beitrag zu einem Fall. Ich habe auch mal so angefangen.“
„Und du siehst, wie weit es ihn gebracht hat“, ergänzte McBride lachend.
„Danke, das baut auf“, meinte Pat schmollend.
„Nun, immerhin darfst du mich begleiten, oder?“
„Ja, aber das, was ich vorher am Telefon erledigt habe, mache ich nun auf der Straße. Und wir wissen doch, wie gefährlich Straßen sein können.“
„Aber, Pat, wenn du so ein Weichei bist, hättest du was anderes machen sollen“, meinte nun auch Melanie lachend.
„Ja, ja, gebt es mir nur. Eines Tages …“
„Diesen wirst du nicht erreichen, wenn du nicht in die Hufe kommst“, fiel ihm McBride ins Wort. „Also, können wir jetzt?“, fragte er.
„Ja, Chef. Immer zu Diensten!“ Übertrieben salutierte er, dass alle lachen mussten.
Kurz darauf waren sie mit dem Dienstwagen von Glasgow aus auf der A82 in Richtung Norden auf dem Weg. Der Regen hatte nachgelassen, doch dafür wurde der Nebel dichter. McBride hoffte, dass am Fundort die Sicht nicht zu sehr eingeschränkt war. Er hatte keine Vorstellung, was ihn da erwarten würde. Er hielt sich lieber draußen auf und recherchierte einen Fall, hatte auch gegen Befragungen nichts einzuwenden; aber nur Akten lesen und zu versuchen neue Erkenntnisse zu erlangen, das war nicht sein Ding. Nun hoffte er, dass der Fall aufregend genug sein bzw. werden würde, so dass sie eine Weile damit beschäftigt waren. Hätte er geahnt, dass dies der Beginn seines schwierigsten Falles werden würde, wäre seine Laune noch schlechter gewesen. So war er erst einmal dankbar für die Abwechslung vom Bürojob.






IV

„Sir, was machen wir jetzt mit der Leiche?“, fragte ein Beamter seinen Chef Detective Grant. „Erst einmal nichts. Ich möchte, dass Sie und die Kollegen das Terrain sichern und nach Spuren suchen. Machen Sie Fotos von allem, was Ihnen sonderbar vorkommt; und auch von den Schaulustigen“, fügte er leiser hinzu. „Ich habe Scotland Yard um Unterstützung gebeten. Man schickt zwei Beamten her. Ich möchte, dass diese sich den Schauplatz ansehen, wie wir ihn vorgefunden haben.“
„Ist das wirklich nötig?“, fragte der Beamte.
„Was meinen Sie?“
„Nun, dass Scotland Yard eingeschaltet wird?“
„Wissen Sie, ich lebe seit über dreißig Jahren in diesem Ort und kenne jeden. Daher weiß ich auch, dass niemand hier vermisst wird. Und wenn ich mir diesen Mann ansehe, so kann ich ihn mit niemandem hier in Verbindung bringen. Daher gehe ich mal davon aus, dass der Tote nicht von hier stammt. Deshalb Scotland Yard“, erklärte der Detective.
„Verstehe. Okay, ich mach’ dann mal die Aufnahmen.“ Er nahm seine Ausrüstung und machte sich an die Arbeit. Detective Grant stand neben der Leiche und fragte sich, wie diese hierhin gekommen war. Was er nicht erwähnt hatte, war die Tatsache, dass der Tote einen Siegelring trug, der ihn als Mitglied eines Clubs oder etwas in der Art auswies. Welcher Club oder Verein das war, vermochte er jedoch nicht zu erkennen. Daher nahm er mal an, dass Scotland Yard daran Interesse hatte. Solche Personen waren meist hohe oder bekannte Leute. Da musste man mit etwas mehr Feingefühl herangehen und es konnte auch nicht schaden, die richtigen Leute zu kennen und zu befragen, ohne gleich Wellen zu schlagen.
Er war zwar zeitlebens Polizist, aber eben nur ein Dorfpolizist, der es in der Großstadt zu nichts gebracht hatte. Die Hektik dort war ihm zu viel. Auch hatte man kaum freie Zeit; eigentlich war man immer im Einsatz. Auf Dauer hatte es ihn kaputtgemacht und so war er zurück aufs Land gegangen. Hier war es ruhiger und trotzdem konnte er seinen Beruf ausüben, ohne viel Anstrengung. Auch gab es hier nur selten Leichen; mal abgesehen von den alten Leuten, die starben. Aber eine fremde Leiche hier auf dem Lande? Nein, das wollte er auf keinen Fall allein bearbeiten.
Er starrte noch immer auf die Leiche, als sein Mitarbeiter sich räusperte.
„Chef? Die beide Herren von Scotland Yard sind da.“ Grant drehte sich um und sah oben am Weg zwei Herren stehen. Er winkte sie zu sich.
„Tag, die Herren. Ich bin Detective Grant“, stellte er sich vor.
„Detective Grant. Ich bin Inspektor McBride und das ist Detective Ingells.“
„Schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Wir haben alles so belassen, wie wir es vorgefunden haben. Das Gelände ist weitläufig abgesperrt und mein Mitarbeiter macht Fotos von der Umgebung. Vielleicht lässt sich ja irgendein Hinweis finden, wie die Leiche hierher kam“, erklärte Grant.
„Weshalb haben Sie uns gerufen?“, wollte Ingells wissen.
„Nun, hier im Ort wird niemand vermisst. Es kann also keiner von hier sein. Außerdem“, er deutete mit dem Finger auf die Hand des Toten, „trägt der Tote einen Siegelring, der mir nicht bekannt ist. Vielleicht hilft Ihnen das weiter.“
McBride ging näher ans Ufer und hockte sich hin. Er besah sich den Ring, konnte ihn aber partout auch nicht zuordnen. „Also mir sagt der Ring im Moment auch nichts, aber das lässt sich bestimmt herausfinden. Können wir den Leichnam umdrehen?“
„Natürlich. Robert, können Sie uns mal eben helfen“, rief er seinem Mitarbeiter zu. „Haben Sie den Toten schon fotografiert?“
„Ja, Sir. Von allen Seiten.“
„Auch den Ring?“ Der Beamte sah seinen Chef irritiert an. Dann sah er zur Leiche und bemerkte den Ring. „Nein Sir, aber ich werde es sofort nachholen.“ Er nahm die Kamera und hockte sich hin wie zuvor McBride. Er machte zwei Aufnahmen und legte die Kamera dann zur Seite.
„Haben Sie eine Plane oder etwas in der Art, auf die wir die Leiche legen können?“, fragte McBride.
„Sicher. Ich hole sie sofort“, meinte der Beamte und war auch schon auf dem Weg zum Wagen. Zurück mit der Plane gingen die Männer daran, die Leiche aus dem Wasser zu heben, umzudrehen und auf die ausgebreitete Plane zu legen. Das Gesicht des Toten war aufgequollen, doch man könnte noch die Gesichtszüge erkennen.
„Schon mal gesehen?“
Grant schüttelte den Kopf. „Nein, Sir. Ich kenne den Mann nicht. Habe ihn auch hier am Ort nicht gesehen.“
„Allzu lange kann er noch nicht im Wasser liegen“, meinte Ingells. „Wann wurde er gefunden?“
„Vor etwa drei Stunden. Eine ältere Dame war mit ihrem Hund auf einem Spaziergang. Der Hund hat ihn gefunden und Mrs. McGruder kam sofort zurück und hat mich rufen lassen. Als wir hier ankamen, haben wir gleich die Umgebung gesichert.“
„Sehr gut, Detective. Was meinst du, Pat, wie lange mag der Leichnam dort gelegen haben?“ „Nun ja, ich bin kein Pathologe, aber ich würde mal sagen nicht länger als acht Stunden.“ „Das würde bedeuten, man hat ihn in den Morgenstunden hier abgelegt?“, fragte Grant erstaunt.
„Nach der Autopsie werden wir es genau wissen. Auch sehe ich keine größeren Verletzungen, die auf die Todesursache hindeuten. Haben Sie sonst irgendetwas entdecken können?“, fragte McBride.
„Robert?“ fragend sah Grant seinen Mitarbeiter an.
„Nein, Sir, nichts. Keine Reifenspuren, keine Schleifspuren, nicht einmal ungewöhnliche Fußabdrücke. Nur die von Mrs. MacGruder und ihrem Hund. Und unsere natürlich“, erklärte dieser.
„Recht eigenartig. Wie ist der Tote dann hierher gekommen?“
„Sir, es ist zwar eine gewagte Theorie, aber könnte es vielleicht sein, dass man ihn von einem Boot geworfen hat?“
„Nun ja, dann müsste das Boot aber sehr dicht am Ufer entlanggefahren sein. Und das wäre doch bestimmt jemandem aufgefallen, oder nicht?“, fragte McBride.
„Nun nicht unbedingt. Wenn man sich nicht gerade an offenen Seestellen aufhält, könnte man höchstens von einigen Spaziergängern in den Wäldern gesehen werden. Und bei diesem Wetter geht niemand freiwillig im Wald spazieren“, meinte Grant.
„Es sei denn, man hat einen Hund“, entgegnete Ingells.
„Nun ja, ich werde Mrs. McGruder noch einmal fragen, ob sie was gesehen oder gehört hat. Aber ich denke mal, dass die Leiche zu dem Zeitpunkt schon im Wasser gelegen hat.“
„Okay Detective, Sie fragen noch einmal die Dorfbewohner und zeigen ihnen vielleicht auch ein Foto vom Leichnam und von dem Ring. Vielleicht erinnert sich irgendjemand ja an etwas. Zudem möchte ich einen Satz der Fotos haben. Und Pat, ruf bitte Melanie an, sie soll einen Leichenwagen schicken. Wir werden ihn in die Pathologie nach Glasgow bringen.“
Fürs Erste war McBride zufrieden. Er gab Detective Grant seine Visitenkarte und bat ihn Bescheid zu geben, sollte er etwas erfahren. McBride wollte seinerseits Grant auf dem Laufenden halten. Nachdem sie den Leichnam in die Plane gewickelt hatten, warteten sie auf den Leichenwagen.

Das könnte ihnen auch gefallen :

Riphasnibur

Markus Naumann

Galerie der Schöpfung

Buchbewertung:
*Pflichtfelder