Fatale Entscheidungen der Miss McManus

Fatale Entscheidungen der Miss McManus

Max Nordmann


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 290
ISBN: 978-3-95840-129-7
Erscheinungsdatum: 31.08.2016
Nach einem schweren Schicksalsschlag zieht Helen von Kenia nach England und möchte ein neues Leben beginnen. Doch die Bekanntschaft mit der Bibliothekarin Martha und dem Kleinganoven Dave führt zu immer neuen Verwicklungen. Die Situation eskaliert …
Helen betrachtete kritisch ihr Gesicht in dem Spiegel und trug sorgfältig etwas Gesichtscreme auf.
Im vergangenen Jahr hatte sie die ersten Fältchen um ihren vollen Mund entdeckt, was sie eigentlich nicht weiter störte. Doch heute wollte sie die Merkmale des Alterns nicht zeigen. Schließlich hatte sie eine Einladung zur Premiere des Musicals „Cats“ erhalten, über die sie sich sehr freute.
Am Nachmittag war sie noch beim Friseur gewesen, um sich ihre langen, naturblonden Haare abschneiden zu lassen. Die kurze Frisur, mit den keck nach vorn ins Gesicht geschnittenen Haarspitzen, umrahmte ihr schönes Gesicht und gaben ihr ein jugendliches Erscheinungsbild.
Ja, so wollte sie sein, mit der unbedarften Frische einer unbelasteten jungen Frau.
Sie lebte nun schon fast ein Jahr in diesem Londoner Vorort und tat sich sehr schwer mit der Eingewöhnung, besonders im Umgang mit den Menschen und deren Mentalität.
Sie war noch zu sehr an die Weite Kenias mit ihren Gerüchen, Geräuschen und Lebensweisen der Bewohner vertraut, als dass sie sich auf Anhieb in einer Großstadt hätte wohlfühlen können.
Sie hatte immer das Gefühl, sich nie an die Enge der Häuser und die Hektik der Menschen anpassen zu können.
Deshalb freute sie sich auf die Abwechslung. Dem Ensemble ging ja ein guter Ruf voraus.
Es handelte sich um dieselbe Besetzung, die in Hamburg seit sieben Jahren vor stets ausverkauftem Haus das Musical aufführte. Ihre neue und einzige flüchtige Bekannte hatte sie zu diesem Besuch überredet. Martha besaß einen kleinen Buchladen in Epsom. Durch Zufall hatte Helen vor einigen Tagen den Laden betreten und sich mit ihr ein bisschen angefreundet. Beide hatten sie die Vorliebe für alte spanische Maler. Über El Greco konnten sie sich stundenlang unterhalten. Helens Besuche wurden immer häufiger, meistens kurz vor Ladenschluss. Martha schloss dann den Laden ab und sie frönten bei einer Tasse Tee ihrem Lieblingsthema. In der letzten Zeit suchten beide immer öfter die Nähe der anderen.
Marthas Scheidung stand bevor, worüber sie sehr erleichtert schien. „Wir haben zum Glück keine Kinder“, meinte sie einmal erleichtert. So betrachte ich die Sache lediglich als Gütertrennung. Da muss man erst die fünfzig überschreiten, um wirklich erwachsen zu werden und Realitäten zu erkennen. Ist das nicht fürchterlich?“
Helen fühlte sich nicht befugt zu einer Stellungnahme. Sie wollte sich auch nicht mit anderer Leute Probleme beschäftigen, wo sie doch selbst jemanden an ihrer Seite brauchte, der ihr bei ihrer Vergangenheitsbewältigung half.
Die beginnende Beziehung zu Martha war noch nicht so intensiv, um sich ihr völlig anzuvertrauen. In vielen Nächten stand sie auf, weil Albträume ihr den Schlaf raubten. Morgens war sie dann völlig verwirrtb. Sie musste etwas dagegen tun, sich nicht in ihrem Zimmer einigeln, sondern mehr Abwechslung suchen. So war die Bekanntschaft mit Martha ein guter Anfang.
Beide verstanden sich glänzend und kamen sich dennoch nicht näher. Die Bereitschaft, dem anderen zuzuhören, war da, doch waren beide unfähig, der anderen Trost zu spenden.
Helen jedenfalls war froh, durch Martha Abwechslung zu finden, so wie beim bevohrstehenden Theaterbesuch.
Helen zog noch etwas Lippenstift nach und formte ihren Mund zu einer Kussform, wobei sie lachen musste.

Ihre Betrachtung wurde jäh von ihrer Vermieterin unterbrochen, die von unten mit schriller Stimme heraufrief:
„Miss McManus, ich glaube, Ihre Freundin ist da!“ Nach wenigen Sekunden wiederholte sie mit Nachdruck: „Miss McManus, hören Sie? Ihre Freundin wartet!“
Von der keifenden Stimme aufgeschreckt, bat Helen Mrs. Crawfort, Martha hereinzulassen. „Nein, nein, liebe Miss McManus, Sie kennen ja meine Grundsätze, keine fremden Leute ins Haus.“
Ärgerlich steckte Helen ihre Puderdose in die Handtasche, schlüpfte in die Pumps und eilte die Treppe hinunter. Durch die halb geöffnete Tür zu Mrs. Crawforts Wohnzimmer sah sie die Alte, mit Lockenwicklern im Haar und speckigem Bademantel, am Fenster sitzen.
„Ich gehe jetzt, Mrs. Crawfort, einen aufregenden Abend noch.“
„Was? Ach ja, kommen Sie nicht zu spät, ich lege sonst den Riegel vor.“
Als Helen zu Martha ins Auto stieg, schickte sie noch einen wütenden Blick auf die sich bewegende Gardine.
„Hattest du Ärger, Liebste?“, fragte Martha.
„Nein, nicht direkt, ich hatte dir ja von dem Hausdrachen erzählt. Ich kann ihre Bevormundungen nicht mehr ertragen. Morgen gehe ich zum Makler. Es gibt ja schließlich noch mehr alte Damen, die durch Vermietungen ihre Rente aufbessern wollen.“
„Lass mich dir dabei helfen. Ganz in meiner Nähe ist eine schöne Mansardenwohnung mit Blick auf die Rennbahn frei geworden. Wäre das nicht etwas für dich?“
„Oh, fantastisch, ja natürlich. Wann kann ich mir das einmal ansehen?“, wandte sie sich begeistert ihrer Freundin zu. Ihre gute Laune war blitzartig zurückgekehrt. „Ja, toll, so siehst du gleich viel besser aus“, lachte auch Martha. „Auch deine neue Frisur steht dir gut. Da könnte man neidisch werden, wie frisch und jung du aussiehst.“
„Das täuscht, nach Johns Tod ist mir nicht mehr zum Bäumeausreißen zumute“, resignierte sie gleich wieder.
Martha legte tröstend ihre linke Hand auf ihren Oberschenkel. Die Wärme, die von Martha ausging, durchströmte Helen wohltuend. Sie lehnte sich behaglich in die Polster zurück und sah dem monotonen Auf und Ab des Scheibenwischers zu. Das für diese Jahreszeit übliche Londoner Schmuddelwetter war eingetreten.
Erst vor dem Theater wurde ihr bewusst, dass sie darauf nicht vorbereitet war. Da merkte man, dass sie noch nicht wirklich in London angekommen war. Um diese Jahreszeit lief hier doch jeder mit einem Regenschirm rum. Doch wie von Zauberhand hielt Martha zwei Knirpse in der Hand. „Die kluge Frau baut vor“, meinte sie lachend und spannte einen Regenschirm für Helen auf. Das war mal wieder typisch Martha, dachte Helen, immer praktisch, an alles denkend.

In der achten Reihe nahmen sie Platz. Die ungewohnte Umgebung faszinierte Helen völlig.
Sie hörte die nicht sichtbaren Musiker, die ihre Instrumente stimmten, nahm das Gemurmel der Besucher wahr sowie die verschiedenen Deodorants und Parfüms- und Rasierwasserdüfte. Die Damen in toller Toilette, mit teilweise kunstvollen Frisuren. Die Herren machten allesamt den Eindruck gut dressierter Pinguine. Bei dem Vergleich musste sie lachen.
Als sie das letzte Mal in Nairobi das Nationaltheater besucht hatte, war alles viel legerer gewesen. Meist waren es braun gebrannte Farmer mit ihren Frauen, die sich ungezwungen über mehrere Sitzreihen hinweg begrüßten und unterhielten, nicht so vornehm und steif wie hier.
Bis zum Beginn der Vorstellung riet sie, welcher der Herren wohl einen Bowler in der Garderobe hatte.
Doch endlich teilte sich der dicke rote Vorhang und sie ließ sich von dem wunderbaren Bühnenbild mitreißen. Anfängliche überkam sie Melancholie, was auch Martha bemerkte. Das Gefühl von Vereinsamung versetzte sie kurz gedanklich nach Kenia zurück. Marthas Hand lag wie zufällig auf Helens Oberschenkel und riss sie jedoch in die Realität zurück. „Was soll das?“, fragte Helen sich und sie wandte langsam ihr Gesicht zu Martha. Mit deren verträumten, ja glücklichen Augen konnte Helen nichts anfangen. Was soll das, warum ist Martha so in sich gekehrt?
Plötzlich bekam sie Durst und war froh, als der Vorhang sich zur Pause schloss.
Im Foyer besorgte sie zwei Glas Sekt und Martha zog Helen in eine Ecke.
„Ich mag nicht, wenn einige Herren dich so anstarren, Liebste.“
„Mich?“, war Helen ehrlich überrascht. „Wie kommst du darauf? Mich sehen die Leute doch genauso an wie auch dich. Ich glaube, da bildest du dir nur etwas ein“, widersprach Helen.
Sie konnte einem Blick in einen nahen Spiegel aber nicht widerstehen und musste lächeln. Sie sah wirklich prima aus.
Nach der Vorstellung sah Martha auf ihre Armbanduhr und meinte: „Lass uns zu mir fahren. Es ist schon spät und Mrs. Crawfort hat bestimmt schon den Riegel vorgelegt. Wir fahren zu mir und machen es uns ein bisschen gemütlich, was hältst du davon?“
Marthas Logik konnte Helen nichts entgegensetzen und sie stimmte zu. Ihr Mann war ja schon vor ein paar Monaten ausgezogen, zu einer Freundin, wie er offen bekannte.
Martha war es gleichgültig, ja sogar recht. Sollte er sich doch bei seiner Neuen austoben. Die ständigen körperlichen Belästigungen waren ihr im hohen Maße zuwider. Ganz selten hatte sie beim Geschlechtsverkehr etwas empfunden. In den letzten Jahren hatte sie sich davor geekelt, besonders wenn er etwas getrunken hatte. Als Martha in die Wechseljahre kam, verweigerte sie sich ihm völlig, indem sie in das Gästezimmer zog und sich nachts dort einschloss.
Es kam auch zu Handgreiflichkeiten, wenn beiden die Argumente fehlten, sich verbal zu einigen. Nach so einer Auseinandersetzung konnten beide ein gewisses Quantum Hass nicht unterdrücken, was sich sogar in die Geschäftszeit ausdehnte und auch einigen Kunden nicht verborgen blieb. Beide lebten aber von den nicht gerade üppigen Einnahmen des Geschäftes und waren immer noch aufeinander angewiesen. Jedenfalls hatte Howards Auszug wenigstens den Vorteil, dass die Häufigkeit der Streitigkeiten sich in Grenzen hielt.
Die Wohnung hatte Martha radikal umgestaltet, so dass nichts mehr an ihren Mann erinnerte.

Martha zauberte ein paar Gläser und eine Flasche Freixenet hervor. In der Gewissheit, Helen würde die Einladung nach dem Theaterbesuch nicht ablehnen, hatte die Dame des Hauses eine kalte Platte vorbereitet. Bei dem Anblick bekamen beide Appetit und genossen den herrlich prickelnden Sekt und die kunstvoll angerichteten Häppchen. Es war das erste Mal, dass Helen hier war und sie fühlte sich spontan wohl. Die vielen Blumenarrangements gefielen ihr. Von ihnen ging ein Duft aus, der sich im ganzen Wohnzimmer ausgebreitet hatte. Sie hielt ihre Nase in ein Rosenbouquet und schloss genüsslich die Augen.

„Welch ein intensiver Geruch. Ich dachte schon, so etwas gibt es nicht mehr“, stellte sie fest.
„Oh doch, man muss nur wissen, wo“, zeigte sich Martha erfreut und steckte sich ein Käsestückchen mit Weintraube in den Mund.
„Schön, dass es dir gefällt, Liebes. Ich möchte, dass du dich wohlfühlst“, sagte sie mit weicher Stimme und seltsamem Blick, was Helen für einen Augenblick irritierte.
„Hattest du schon Männerbekanntschaft, ich meine, hier in London?“
„Ich? Oh nein“, erwiderte sie etwas zu laut, „außer zu dem Basset von Mrs. Crawfort gab es noch keinen Gefühlsaustausch.“
Beide lachten und prosteten sich erneut zu.
„Was hindert dich daran? Du siehst blendend aus und verfügst über Äußerlichkeiten, die Männer doch geradezu magnetisch anziehen, wie ich auch im Foyer des Theaters feststellen konnte“, fragte Martha, während sie aufstand und aus der Schublade des Rauchertisches einen dünnen Zigarillo entnahm und anzündete. „Möchtest du auch eine?“ „Nein danke, mir wird sonst nur schlecht davon. Als Kind habe ich es einmal versucht und war einige Tage krank.“
„Hattest du eine schöne Jugend?“, befragte Martha Helen durch eine dicke Rauchwolke.
„Oh ja, es war wundervoll. Meine Eltern gaben mir jede erdenklichen Freiheiten. Ich hatte sogar einen eigenen Elefanten.“
„Einen Elefanten?“, prustete Martha los.
„Ja, er war noch sehr klein. Seine Mutter war von Wilddieben wegen des Elfenbeins abgeschossen worden. John, mein späterer Mann, hatte ihn mir mitgebracht. Ich war damals zwölf Jahre alt und hatte meine liebe Mühe mit dem kleinen Racker.“
Ohne weiter darauf einzugehen, setzte Martha ihre Befragung fort. „John, war er erheblich älter als du?“
„Das kann man wohl sagen, genau dreißig Jahre. Er war der Freund meines Vaters.“
„Oh Gott, wie schrecklich, wie konntest du nur einen Mann heiraten, der bequem dein Vater hätte sein können?“
Helen hörte ganz deutlich einen vorwurfsvollen Klang in ihrer Stimme. Etwas zögerlich setzte sie ihre Erklärung fort.
„Das kannst du nicht verstehen. Doch war es die normalste und logischste Entscheidung meiner Jugendzeit. Du hättest John kennen sollen. Er war einfach alles für mich, Ehemann, Freund und auch ein bisschen Vater, das gebe ich zu. Nachdem meine Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, war ich ziemlich allein und John nahm mich zu sich. Ich war gerade sechzehn Jahre alt und vereinsamt. Was hätte ich denn tun sollen, ich hatte doch keine Ahnung wie man eine Farm führt? Solch ein Unternehmen braucht eine starke Hand. John managte von nun an zwei Farmen und fand immer noch genügend Zeit für mich. Er war unglaublich stark, nicht nur körperlich. Er war meine Tankstelle. Bei ihm lud ich meine Akkus immer wieder auf.“
Die Erinnerung verklärte ihren Blick. Martha glaubte, im Kerzenschein zu erkennen, dass Helens Augen feucht wurden. Doch sie setzte ihre Befragung unbeirrt fort.
„Ihr hattet doch keine Kinder. War das ein Akt der Vernunft?“
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist, mir solche Fragen zu stellen?“, brach es aus Helen heftig hervor und sogleich bereute sie ihren Gefühlsausbruch.
„Entschuldige, Martha, es ist wohl besser, wenn du mich nach Hause bringst.“
Helen stand auf und griff etwas überstürzt zu ihrer Handtasche. Ihre Freundin erhob sich ebenfalls, ging auf sie zu und umarmte sie.
„Liebes, beruhige dich doch bitte. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“ Nach einer etwas peinlichen Pause: „So lass ich dich nicht gehen.“ Behutsam drückte sie Helen wieder in ihren Sessel. Martha schenkte noch einmal die Gläser voll und schob Helen die Käseplatte näher heran.
Lautstark prasselte der Regen mit voller Wucht gegen das Fenster. Martha legte ein paar Kohlestücke in den Kamin. Sofort züngelten die Flammen hoch. Ein Blick auf die Uhr war ein gutes Argument, Helen zum Bleiben zu überreden.
„Helen, bleib heute Nacht hier. Ich richte dir das Bett in Howards Zimmer. Sieh mal, jetzt habe ich ‚Howards Zimmer‘ gesagt. Da siehst du, dass auch ich noch nicht mit meiner Vergangenheit abgeschlossen habe“, fügte sie lachend hinzu.

Helen wachte mit leichten Kopfschmerzen auf. Sicherlich war der Sekt die Ursache dafür.
Aus der Ferne nahm sie das Klingeln eines Telefons wahr. Nachdem sie die Geräuschquelle endlich im Flur gefunden hatte, hob sie den Hörer ab. Anscheinend war Martha nicht mehr da oder schlief noch.
„Guten Morgen, Liebste. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt“, flötete Martha am Ende der Leitung.
„Wie spät ist es denn?“, fragte sie etwas verwirrt.
„Fast zehn Uhr, meine Liebe. Mach dich bitte fertig. Ich hole dich so gegen zwölf ab. Dann haben wir einen Termin beim Makler. Du weißt schon, wegen der Mansardenwohnung. Das hast du doch nicht vergessen, oder?“
„Martha, das kannst du doch nicht machen. Ich kann doch nicht in dem Aufzug von gestern dorthin gehen.“
„Ach komm, such dir von mir was Passendes raus, also bis bald.“
Auf der Suche nach den geeigneten Kleidungsstücken fand Helen in einer Schublade einen Vibrator, dessen Größe Helen Furcht einflößte. Das Gerät war an einen Hüfthalter montiert.
Verlegen legte sie ihn zurück. Unwillkürlich machte sie sich Gedanken, wie Martha das Ding wohl handhabte. Es war ihr peinlich und sie nahm sich vor, dieses Thema nie anzusprechen.
Nach dem bereitgestellten Frühstück, welches Helen genüsslich verzehrte, dauerte es auch nicht mehr lange, bis Martha fröhlich die Wohnung betrat.

Im Wagen brach Martha das Schweigen.
„Du hast den Vibrator gesehen, Schatz?“
Die direkte Frage ließ Helen erröten.
„Hast du ihn ausprobiert?“, fragte Martha belustigt und unbeeindruckt von Helens Verlegenheit.
„Was? Natürlich nicht. Originale sind mir lieber“, antwortete sie kess.
„Ja, ja, im Normalfall schon. Aber alles, was daran hängt, ist doch widerlich, oder bist du da anderer Meinung?“
„Allerdings.“ Damit wollte Helen das peinliche Thema beenden und sah seitlich aus dem Fenster.

Die Wohnung gefiel Helen sehr gut. Es war so, wie Martha gesagt hatte. Von hier aus konnte man tatsächlich auf die berühmte Galopprennbahn von Epson blicken.
„Sieh mal, da erscheint einmal im Jahr die Queen. Da kannst du ihr von hier aus zuwinken“, wollte sie auf Helen ihre Begeisterung übertragen. „Und außerdem ist es nicht weit zu mir. Du erreichst bequem zu Fuß meine Wohnung und mein Geschäft, ist das nicht wunderbar?“
„Ja, das gefällt mir.“
Auch der Mietpreis war erschwinglich, so wie die Nebenkosten.
„Wann kann ich den Vertrag unterschreiben?“, wandte sich Martha an den Makler.
Dieser, sichtlich erleichtert, wieder ein gutes Geschäft abgeschlossen zu haben, vereinbarte mit den Damen einen Termin zur Unterschrift, am nächsten Tag in seinem Büro.
Helen ließ sich nach Hause kutschieren und war schon auf das Gesicht von Mrs. Crawfort gespannt. Die alte Hexe machte es ihr leicht, ihr die Kündigung ins verkniffene Gesicht zu schleudern.

„Also, Miss McManus, Sie sind vergangene Nacht nicht nach Hause gekommen“, stellte sie unnötigerweise fest. „Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan.“
„Liebe Mrs. Crawfort, damit Sie in Zukunft wieder ruhig schlafen können, ziehe ich aus zum Quartal.“
Eine gehörige Portion Genugtuung schwang in Helens Stimme mit.
„Was, Sie wollen ausziehen? Sie wollen mich alleine lassen? Sie sind aber eine undankbare Person“, plusterte sich die Alte auf. Nachdem sie den Schock überstanden hatte, fügte sie kurzatmig hinzu: „Na gut, wie sie wollen. Ich mache die Rechnung fertig. Komm mein Kleiner“, und sie zog den Basset von Helens Fuß weg.
Mrs. Crawfort schlurfte gerade Richtung Stammplatz am Fenster. Das Nachthemd guckte unter dem filzig gewordenen Morgenrock hervor. Da läutete das Telefon. Helen, die schon fast die letzte Stufe der Treppe erreicht hatte, blieb stehen. Die Alte, die schon das Gespräch entgegengenommen hatte, hielt ihr den Hörer wortlos entgegen. Es war Marthas vertraute Stimme. „Hast du dein Zimmer schon gekündigt?“
„Ja, gerade eben.“
„Gut, dann pass mal auf. Howard steht neben mir. Unsere Scheidung wird nächste Woche verkündet. Howard überlässt mir das Haus in Arundel.“
„Ja. Wie schön für dich, aber was hat das mit mir zu tun?“, fragte Helen etwas verwirrt.
„Können wir uns heute noch sehen? Ich habe Großes mit dir vor. Besser, du kommst gegen 18 Uhr ins Geschäft, dann bereden wir alles, ja?“
Kaum hatte Helen zugestimmt, da war die Leitung wieder tot.
In ihrem Zimmer angekommen, entledigte sie sich ihrer Kleidung, machte sich ein Schinkensandwich und legte sich noch etwas hin. Unter sich hörte sie noch, wie Mrs. Crawfort mit dem unschuldigen Bonny schimpfte und schlief dann ein.

Martha stand gerade vor einem Bücherregal auf der Leiter, als Helen den Laden betrat.
„Oh fein, du bist es. Schließe bitte hinter dir ab. Ich muss nur noch den alten Shakespeare einordnen.“
Als sie sich gegenüberstanden, umarmten sie sich. Martha wirkte aufgekratzt und ließ sich auf einem der Hocker nieder.

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