Elaine ist tot

Elaine ist tot

Karin Christine Heidinger


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 434
ISBN: 978-3-95840-863-0
Erscheinungsdatum: 13.05.2019
Rebecca und Simon Bach sind strenggläubige Evangelisten. Gott zugewandt und der Welt abgekehrt. Ihre 16-jährige Tochter darf also nicht das, was die meisten in ihrem Alter dürfen. Und damit beginnt das ganze Drama …
Elaine ist tot – Prolog
1981

Eva schaut auf ihre Armbanduhr. Oh nein, schon so spät.
Hektisch sieht sie sich um, kann aber im Dunkeln nicht allzu viel erkennen.
Das muss das Gartentürchen sein. Vorsichtig tastet sie den dunklen Schatten vor sich ab. Mit den Fingern erreicht sie die Klinke und drückt diese vorsichtig nach unten, um ein allzu lautes Quietschen zu verhindern. Sie schaut ängstlich in Richtung ihres Elternhauses, das sich als schwarzer Umriss vor dem sternenklaren Himmel abhebt. Als sich dort kein Licht zeigt, wird ihr Atem ein wenig ruhiger. Trotzdem sind ihre Nerven maximal gespannt, als sie endlich in der Gartenhütte steht und mit zittrigen Fingern die kleine Taschenlampe anknipst, die sie dort hinter dem Stapel Winterholz deponiert hat.
Jetzt schnell das Kleiderpaket aus dem Regalfach holen, um den kurzen Rock und die leicht transparente, ausgeschnittene Bluse gegen den Jogginganzug zu tauschen.
Eva zittert am ganzen Körper, als sie kurz in der Unterwäsche dasteht, und das liegt sicherlich nicht an der Temperatur dieser lauen Spätsommernacht.
Sie lässt sich auf den Holzschemel sinken, der ihrem Vater bei Handwerksarbeiten dient, und zieht aus ihrer Handtasche einen kleinen Kosmetikspiegel. Als sie ihr Spiegelbild sieht mit den geschminkten Augen, die immer noch fiebrig glänzen, und dem Mund, der nicht nur vom Lippenstift rot ist, sondern auch von den vielen, intensiven Küssen, die sie vor ein paar Minuten noch mit Justus getauscht hat, hält sie inne und muss lächeln.
Justus. Es ist unfassbar, wie schön es sich anfühlt, verliebt zu sein. Justus ist der Schwarm der ganzen Schule. Er sieht wahnsinnig gut aus, er ist intelligent, charmant, cool – und unglaublich zärtlich. Und er hat sich sie, Eva, ausgesucht, von all den Mädchen, die er hätte haben können.
Evas Augen blitzen noch mehr, und durch ihren Bauch schießt Adrenalin, als sie daran denkt. Ausgerechnet sie, mit ihrem geflochtenen Zopf und den biederen, von ihrer Mutter geschneiderten Kleidern.
Nicht, dass sie mit ihren Eltern unzufrieden ist, nein, sie liebt sie sehr. Aber manchmal ist ihr das einfach alles zu viel, die vielen Gebete, die vielen Vorschriften, die vielen Dinge, die andere in ihrem Alter haben und tun dürfen – und sie und ihre Geschwister nicht. Natürlich hat sie dafür viele Freunde in der Gemeinde, die sich auch an die Regeln halten müssen, aber ihr kommt das alles oft so eng vor. Sie will einfach mehr Leben spüren, sehen, was in der Welt los ist?
Als sie an diesem Punkt ihrer Gedanken ankommt, macht sich ein ungutes Gefühl in ihr breit, und ihr Lächeln erlischt.
Großer Gott – werde ich jetzt nicht in den Himmel kommen?, fragt sie stumm. Ist das wirklich so schlimm, dass ich gerne solche Kleider tragen möchte wie die anderen? Dass ich mich in Justus verliebt habe und er sich in mich und dass sich das so gut anfühlt?
Eva seufzt, während sie mit einem der ebenfalls im Regal versteckten Kosmetiktücher die Wimperntusche von den Augen rubbelt.
Manchmal findet sie, dass ein Vater eigentlich reichen würde, dem sie nicht gerecht werden kann. Warum muss sie auch noch einen zweiten im Himmel haben?
Als sie sich schließlich zum Haus schleicht und in das kleine Waschküchenfenster einsteigt, aus dem sie vor ein paar Stunden entwischt ist, fühlt sie sich gar nicht gut. Irgendwie hat sie ein komisches Gefühl, so eine Vorahnung – obwohl sie im letzten halben Jahr jede Woche wenigstens einmal auf diesem Wege das Haus verlassen hat und alles gutgegangen ist.
Eva muss wieder lächeln, als sie leise von der Waschmaschine, die unter dem Fenster steht, auf den Boden springt. Wenn sie daran denkt, wie Justus geschaut hat, als sie das erste Mal mit den Kleidern von ihrer Schulfreundin Melanie in den Jugendclub des Turnvereins gekommen ist.
Justus hat ihr in der Schule, trotz ihrer biederen Aufmachung, immer wieder ein Lächeln zugeworfen oder gezwinkert. Und einmal hat er sie dann auf der Treppe zum Klassenzimmer angesprochen. Er saß dort in der Pause, ganz lässig, auf der obersten Stufe, und versperrte mit seinen Beinen den Weg. Um sich rum, stehend, sein ganzer Fanclub von Mädchen. Und Eva kam die Treppe hoch. Ihr wurde ganz heiß, weil sie nicht wusste, wie sie am besten an ihm vorbeikommen sollte. Also blieb sie einfach vor ihm stehen und schaute ihn auffordernd an.
Justus lächelte dieses unglaublich unwiderstehliche Lächeln unter seinem langen, blonden Pony, seine grünen Augen blitzten verschmitzt, und er fragte: „Was bekomme ich, wenn ich dir den Weg frei- mache, Schönste aller Schönen?“
Eva wurde rot bis zu den Haarwurzeln. Wollte Justus sich über sie lustig machen?
„Gar nichts, du versperrst den Weg und nimmst jetzt einfach deine Beine weg.“ Antwortete sie spröde und hasste sich sofort dafür. Wie konnte sie nur so unlustig und wenig schlagfertig sein. Aber Justus schien das nicht so zu empfinden. Er schaute sie ernst an.
„Ich wollte dich nicht ärgern, das sollte ein Witz sein, entschuldige.“
Er zog seine Beine an. „Wie kann ich denn meine blöde Bemerkung wiedergutmachen? Wie wär’s mit einem Drink heute Abend im Jugendclub?“
Evas Gefühle fuhren Achterbahn. Ihr wurde ganz schwindelig und ehe sie selbst wusste, was sie tat, lächelte sie schon und meinte: „Das ist doch mal eine gute Idee. Dann sehen wir uns heute Abend.“ Justus strahlte und warf gekonnt seinen Pony nach hinten.
Im Vorbeigehen hörte Eva, wie die Mädchen auf der Treppe über sie tuschelten.
„Was will er denn von unserer Nonne, das meint der doch nicht im Ernst?“
„Die kommt sowieso nicht, das erlauben doch Papi und der liebe Gott gar nicht.“
Eva rannte, sobald man sie von der Treppe aus nicht mehr sehen konnte, in ihr Klassenzimmer und ließ sich atemlos auf den Stuhl fallen. Melanie riss überrascht die Augen auf.
„Was ist denn mit dir passiert? Ist dir der Heilige Geist begegnet?“ Eva schaute sie streng an. „Damit macht man keine Witze.“
„Entschuldige, war nicht so gemeint.“ Melanie streichelte Eva über den Arm.
„Jetzt sag aber: Was war denn los? Du siehst total aufgelöst aus.“
„Justus hat mich für heute Abend in den Jugendclub eingeladen.“ Evas Stimme zitterte vor Stolz und Freude.
Melanie pfiff anerkennend durch die Zähne.
„Nein, Wahnsinn, wie cool ist das denn?“ Selbst über ihre Lautstärke erschrocken, blickte Melanie sich um.
„Nicht so laut“, wurde sie im gleichen Moment von Eva ermahnt. „Sonst kann ich es ja gleich in die Zeitung setzen. Was glaubst du, was los ist, wenn das meine Eltern erfahren?“
„Sag bloß, du willst hingehen“, flüsterte Melanie.
„Ja“, antwortete Eva fest. „Und wenn ich dafür in die Hölle komme, das lasse ich mir nicht entgehen – das kann keiner von mir verlangen.“
Melanie schaute sie fast ehrfürchtig an. „Und wie willst du das anstellen? Glaubst du, du kannst deine Eltern überreden, es dir zu erlauben?“
„Nein, wo denkst du hin, natürlich nicht. Die dürfen auf gar keinen Fall etwas davon merken, hörst du?“ Evas Blick war beschwörend. „Du musst mir helfen, ich brauche was zum Anziehen, und zwar was Cooles.“
So stand Eva dann abends vor Justus, der sie mit vor Bewunderung blitzenden Augen anschaute. Er spielte gerade mit seinen Freunden Billard, als sie den reichlich verrauchten Jugendclub betrat. Ein Raum voller Jugendlicher mit und ohne Zigarette in der Hand. In einer Ecke befand sich eine rustikale Bar aus dunklem Holz, hinter der ein großer Spiegel mit einer Whiskywerbung darauf prangte. Über dem Spiegel hing ein Wandregal mit einer Unmenge von Flaschen darauf. Natürlich waren die Flaschen mit ehemals alkoholhaltigen Getränken Attrappen, aber cool sah das Ganze trotzdem aus.
In der Mitte des Raumes der Billardtisch, entlang den Wänden jede Menge Matratzen auf dem Boden, auf denen eng umschlungene Pärchen im schummrigen Licht Küsse und mehr tauschten. All das nahm Eva aber gar nicht wahr, weil sie nur Augen für Justus hatte. Wie er sie ansah, wie er wortlos den Billardstock seinem Freund Felix in die Hand drückte und auf sie zukam.
Als er vor ihr stand, stockte ihr der Atem. Was nun? Justus berührte sie sanft unter dem Kinn, die Berührung sendete Stromstöße durch ihren Körper. Vorsichtig gab er ihr einen Kuss auf die Wange und flüsterte ihr ins Ohr: „Du machst mich zum glücklichsten Menschen hier im Raum. Ich freue mich so, dass du gekommen bist.“
Eva schluckte und schaute unsicher zu den anderen. Die Mädchen zogen beleidigte und neidische Gesichter und steckten schon wieder die Köpfe zum Tuscheln zusammen. Die Jungen grinsten sich vielsagend an, zogen die Augenbrauen hoch und wendeten sich dann wieder ihrem Spiel oder der Bar zu.
„Können wir“, räusperte Eva sich, weil ihre Stimme nur ein Piepsen war. „Können wir vielleicht ein wenig rausgehen? Hier ist es so laut.“
Die Musik von Pink Floyd, das Album „The Wall“, das momentan ganz angesagt war, dröhnte wirklich aus den Lautsprechern, dass eine Unterhaltung in normaler Lautstärke fast nicht möglich war.
Justus grinste Eva verliebt an und legte den Arm um sie, um sie Richtung Ausgang zu schieben. Auf dem Weg angelte er noch nach seiner Jeansjacke, die am Eingang auf einem der Wandhaken hing. Vor der Tür schwiegen sie sich unsicher an.
Eva, die bei ihrem von Melanie geliehenen Outfit leider etwas zum Überziehen vergessen hatte und bereits vom Weg zum Jugendclub ausgekühlt war, fing an zu zittern. Sofort zog Justus seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. Es fühlte sich so gut an, so warm von Justus Körperwärme. Eva nahm den Geruch nach Zigarettenqualm gar nicht wahr, für sie roch das Kleidungsstück nur nach ihm. Ihr wurde ganz schwindelig, so verliebt war sie.
Und Justus hielt immer noch das Revers fest und sah ihr tief in die Augen. Als er sie langsam zu sich zog, streckte sie ihm wie fremdgesteuert ihr Gesicht entgegen. Langsam näherte sich Justus Mund dem ihren, und seine Pupillen waren groß und schwarz vor Verlangen. Als er schließlich mit seinen Lippen auf ihre traf, öffnete sie ihren Mund mit einer Gier, für die sie sich fast schämte. Der Kuss und die Gefühle, die er in ihr auslöste, waren besser als alles, was sie je in ihrem Leben gespürt und erfahren hatte.
Von diesem ersten Abend an, den sie tatsächlich hauptsächlich mit Knutschen vor und im Clubhaus verbrachten, trafen sie sich regelmäßig. Eva befand sich in einem absoluten Wechselbad der Gefühle. Auf der einen Seite gebeutelt von heftigen Gewissensbissen, weil sie ihre Eltern belog, sich heimlich aus dem Haus stahl und sich sündigen Gedanken und Handlungen hingab. Und auf der anderen Seite die Sehnsucht nach Justus, ihrer ersten großen Liebe, die schließlich immer wieder die Oberhand gewann. Die Tatsache, nach dem jahrelangen Dasein als Mauerblümchen von den anderen bewundert und geachtet zu sein, hatte ihren ganz besonderen, zusätzlichen Reiz. Einmal dazuzugehören, einmal so sein wie alle – das war einfach schön.
Und bald verband sie mit Justus tatsächlich mehr als nur die Knutscherei. Er war, hinter seinem coolen Gesicht, ein sehr sensibler Junge, der sich tatsächlich für sie interessierte. Sie machten in diesem gemeinsamen Sommer lange Spaziergänge und erzählten sich ihr Leben.
Sie waren beide gerade 16 Jahre alt geworden.
Mit einem resignierten Seufzer lässt Eva sich auf den Hocker neben der Waschmaschine sinken. Sie sieht durch das kleine Fenster zum Mond, der rund und voll an einem wolkenlosen Himmel steht. Sie würde sich so sehr wünschen, sie könnte mit ihren Eltern über Justus reden, ihn als ihren Freund vorstellen. Aber Justus kommt einfach aus einer ganz anderen Welt als sie …
Er lebt mit seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Jette in einem der schönen, neuen Häuser in der besseren Gegend ihres Ortes. Kahlberg ist eine Kreisstadt mit ca. 25.000 Einwohnern in der Nähe von Karlsruhe. Keine Metropole, aber auch kein Dorf. Justus Vater arbeitet als Ingenieur bei einem Autozulieferer, seine Mutter ist Lehrerin an der örtlichen Grundschule. Die Eltern sind aufgeschlossen und erziehen ihre Kinder zu selbstständigen und selbstbewussten Menschen.
Eva lebt mit ihren drei kleinen Geschwistern Rebecca, genannt Becky, Jonathan und Joshua im alten Haus ihrer Oma in einer der älteren Straßen der Kleinstadt. Das Haus ist ein altes Siedlungshaus der Nachkriegszeit, das ganze Wohnviertel besteht aus solchen Häusern, die man damals einheitlich und einfach erbaut hat, um den Menschen schnelle Obdach zu geben. Deswegen sind die Häuser auch alle gleich langweilig in ihrer Form und Gestaltung, rechteckig mit Giebeldach. Aber Evas Vater hat in liebevoller Kleinarbeit alles renoviert und umgebaut. In unendlich vielen Stunden ist jeder übrige Groschen in das Haus geflossen. Oft haben die Kinder freiwillig oder unfreiwillig mitgeholfen. Evas Vater ist Industriekaufmann in einer Spedition, ihre Mutter Hausfrau. Sie gehören einer konservativen, kleinen evangelischen Gemeinde an und versuchen, ihre Kinder an ein streng gläubiges Leben heranzuführen, so wie sie es selbst leben und so, wie sie es für richtig erachten. Das heißt kein Fernsehen, keine angesagten Klamotten (Eitelkeit ist Sünde), keine Tanzveranstaltungen und schon gar keine Discobesuche, keine Rockmusik (die ist vom Teufel – jedenfalls meistens) und natürlich keine vorehelichen Beziehungen – und schon gar nicht mit Ungläubigen.
Dafür aber ganz viel liebevolles Familienleben, Anteilnahme am anderen, Hausmusik und gemeinsame Abende. Veranstaltungen und Freizeiten mit Freunden aus der Gemeinde. Es ist kein schlechtes Leben – es ist nur ein ganz anderes Leben als das der anderen. Und es ist ein Leben, in dem man nicht viel Spielraum für Individualität hat. Die Motivation dafür schöpft sich aus der Aussicht auf die Ewigkeit im Himmel. Allerdings scheint diese Option für eine 16-Jährige ziemlich weit weg zu sein.
Trotzdem muss Eva lächeln, als sie vorsichtig die Waschküchentür öffnet und in den Hausgang lauscht.
Dieser Sommer ist auf jeden Fall der schönste, den sie je erlebt hat – ewiges Leben hin oder her. Und überhaupt – ein ewiges Leben ohne Justus kann sie sich sowieso nicht vorstellen.
Dann doch lieber tot sein, denkt sie mit dem heroisch naiven Trotz des Teenagers, während sie leise die ersten Stufen der Treppe hochschleicht.
Oben angekommen, seufzt sie erleichtert auf. Alles ist ruhig.
Schnell schlüpft sie in ihr Zimmer und schließt die Tür hinter sich. Erst dann drückt sie den Lichtschalter – und erschrickt zu Tode. Auf dem Bett sitzen ihre Eltern, Rose und Erich Schober, aufrecht und mit unergründlichen Gesichtern. Evas Herz pocht bis zum Hals, und sie hat das Gefühl, der Boden rutscht ihr unter den Füßen weg.
„Wir werden uns unterhalten müssen.“ Das ist die Stimme ihres Vaters, die so kalt klingt, wie Eva sie noch nie in ihrem Leben gehört hat. Ihr wird schwindelig.
Hilfesuchend blickt sie in das Gesicht ihrer Mutter, aber sie kann kein bisschen Verständnis finden. Nur eine Mischung aus Enttäuschung und Trauer, die Eva das Herz zu zerreißen droht.



Kapitel 1 – Die Entführung
Kahlberg, 2011

Rebecca Bach lässt ihren Blick über den Tisch schweifen. Ein zufriedenes Gefühl breitet sich in ihr aus, und sie lächelt leise vor sich hin. Das sieht richtig gut aus, die anderen Frauen werden begeistert sein. Sie hat schon im Ohr, wie sie staunende und begeisterte Laute über die gelungene Tischdekoration von sich geben.
Es hat Rebecca auch fast zwei ganze Nächte Zeit gekostet, all die kleinen Blumenblätter aus verschiedenen Bögen Tonpapier auszustanzen und auf den niedlichen, selbst gefalteten Schächtelchen aufzukleben, in denen jeweils ein kleines Schokoladentäfelchen steckt. Mit Tusche hat sie in Schönschrift auf jede Schachtel den Bibelvers geschrieben:

Es ist ein köstlich Ding, den Herrn anbeten und lobsingen deinem Namen, du Höchster.

Rebecca mag diesen Spruch sehr. Dem Herrn lobsingen … Sie empfindet nicht nur beim Singen für den Herrn eine innere Zufriedenheit, sondern in allem, was sie für diese Gemeinde und damit für ihn tut.
„Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.“ Das hat ihre Großmutter früher schon immer gesagt. Und alles getan zu haben, was an einem Tag eben für den Herrn getan werden muss, lässt einen abends ein gutes Gewissen haben. Darüber wird Rebecca heute Morgen bei diesem Frauentreff auch referieren.
Der Teekessel heult auf. Sie reißt sich von dem befriedigenden Anblick ihrer schön gedeckten Tafel los und eilt in die kleine Küche. Dort gießt sie das dampfende Wasser in die dafür vorbereiteten Teekannen, alle mit den gleichen, laminierten Schildchen beschriftet, damit sie nicht fälschlich für Kaffee verwendet werden und damit das Teearoma verderben. Rebecca ist dafür bekannt, alles im Griff zu haben.
Nebenher hört sie, wie die Tür sich öffnet und die ersten Frauen den Gemeinschaftsraum betreten. Kurz danach der erste begeisterte Ausruf: „Hat sie das wieder schön gemacht!“
Rebecca lächelt stolz vor sich hin, während sie mit glänzenden Augen die selbst gebackenen Kekse auf einer mit Schokoherzen dekorierten Platte anrichtet.
Als sie zwei Stunden später auf ihrem Rad nach Hause fährt, pocht ihr Kopf schmerzhaft. Der Schlafmangel der letzten zwei Tage macht sich bemerkbar. Da sie tagsüber so wenig Zeit hatte, musste sie die Vorbereitung für den Frauentreff in die Abendstunden, um nicht zu sagen: in die Nacht verlegen.
Rebecca schließt die Tür des kleinen Siedlungshauses auf, das Simon und sie vor ein paar Jahren von ihren Eltern abgekauft haben.
Rebeccas Vater leidet an Demenz, die leider schon ziemlich früh, im Alter von 66 Jahren, ausgebrochen ist. Ihre Mutter, die keinesfalls ihren Mann allein in ein Heim geben wollte, hatte sich daher für ein betreutes Alterswohnen mit angebundener Pflegestation entschieden und ihr Haus Simon und Rebecca mit ihren beiden Kindern Nathan und Rahel überlassen.
Rebeccas Geschwister leben alle nicht in der Nähe, sodass für keinen von ihnen das Elternhaus infrage gekommen ist.
Rebecca dreht und rüttelt am Türschloss, aber es will einfach nicht aufgehen. Sie tritt ungeduldig gegen das Holz der Tür, und schließlich springt sie auf. Simon hatte schon lange versprochen, sie endlich zu reparieren, es aber immer noch nicht getan. Rebecca spürt, wie Ärger in ihr aufsteigt. Das hätte es früher bei ihrem Vater nicht gegeben, der hatte stets darauf geachtet, alles zu pflegen und in Stand zu halten. Simon ist – leider – ganz anders. Er hat gar keine handwerklichen Ambitionen, die er als Finanzbeamter auch nicht unbedingt braucht.
Trotzdem könnte er sich für Rebeccas Geschmack ein wenig mehr um Haus und Garten kümmern, es gibt einfach Dinge, die sie nicht allein hinbekommt.

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