Das gewollte Verhängnis

Das gewollte Verhängnis

Thriller

Coldàn


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 362
ISBN: 978-3-99048-349-7
Erscheinungsdatum: 17.09.2015

Leseprobe:

10. Kapitel

Wenn Hippo eines nicht mochte, dann war es, wenn man ihm widersprach, wenn er nicht recht bekam. Und das kam praktisch nie vor. Außer heute. Schon zehn Minuten hatte er auf Oliver eingewirkt, der durch Andy bereits einen ersten Knuff an die linke Brustkorbseite hatte hinnehmen müssen. Doch Oliver, durch zwei geschniefte Linien ins Selbstbewusste und scheinbar Unverwundbare konvertiert, hatte nur kurz gezuckt, Andy den Zeigefinger vor die Nase gehalten und ihn angefahren: „Noch einmal, du Vollidiot, und ich bin hier weg!“
Ingo, der neben ihm stand, rief jetzt Hippo zu: „Der meint es ernst. Mir sagt er’s auch nicht!“
Es war wie ein surreales Schauspiel, das Hippo für dieses Verhör inszeniert hatte. Gespenstisch und grotesk geradezu. Sechs Männer lehnten an den Wänden wie festgeklebt und im Dunkeln. Tische und Stühle, die sie nicht benutzen durften, standen ungeordnet vor ihnen. Den Raum durchzog eine seidige Düsternis, die ihren Ausgangspunkt in der Lichtampel an der Decke und im Qualm der aufglimmenden Zigaretten nahm. Insekten surrten um die einzige Beleuchtungsquelle und warfen kleine, nervöse Schatten auf den Platz, auf dem Oliver und Ingo vor dem Rollstuhl Hippos standen. Die anderen Lampen waren ausgeschaltet. Nur diese drei Menschen stellten die erleuchtete Bühne dar, auf der die Show nach Hippos Geschmack ablaufen sollte. Narzißtischer Größenrausch und die Demonstration von Befehlsgewalt verbargen sich in der Regie der Aufführung.
Doch zu Hippos Konzept passte nicht, dass ihm Oliver ständig widersprach oder ausweichende Antworten gab. Er rutschte mit seinem fetten Hinterteil ständig im Rollstuhl hin und her. Einen Zigarettenstummel hatte er bereits wütend auf den Boden geschleudert. Der Puls an seinem massigen Hals zuckte wild.

„Termin, Ankunftsort! Alles will ich wissen, sonst kommst du hier nicht lebend raus, du miese Kreatur. Abtreiben hätte man dich müssen, als noch Zeit dafür war!“
Doch Olivers Endorphine und das Serotonin erfüllten nach wie vor ihren Zweck.
„Dann kannst du zusehen, wo du künftig den Scheiß herkriegst, Fettsack!“, schleuderte er Hippo an den Kopf.
Hippo, der heute ein safranfarbenes Hemd anhatte, war nahe daran, zu zerbersten. Jedenfalls schien sein Körper immer mehr aufzuquellen. Sein Leib pumpte. Die Augen hatten basedowsche Formen angenommen. Er war jetzt an dem Schnittpunkt angekommen, entweder Oliver hier und jetzt totschlagen zu lassen, um allen zu zeigen, dass es kein Widersetzen gegen seine Befehle gab, oder der wirtschaftlichen Vernunft Genüge zu tun. Im ersten Feuer der Eitelkeitsinstinkte, die in ihm loderten, hatte er Ingo zur Seite gewunken und mit einem Fingerschnipsen Kaspar zu Andy gerufen. Es war der Moment, in dem es für ihn kaum noch einen Halt der Vernunft gab.
Nur der schrille Schrei Ingos: „Seid ihr verrückt? Ihr macht das ganze Geschäft tot!“, hielt Hippo auf, den Daumen zu senken, obwohl er vor Erregung wie ein Walross schnaufte und die Pupillen in den aufgeblähten Augäpfeln hin- und hersausten.
Er besann sich. Ein quäkendes „Halt!“ entfuhr ihm. Andy und Kaspar ließen die Fäuste sinken. Für zwei Minuten war nur Hippos Keuchen zu hören. Er überlegte, wie er sich vor seinen Leuten aus der Affäre ziehen konnte. Schließlich gellte er wie ein populistischer südamerikanischer Staatsmann: „Wenn wir ihn heute noch mal laufen lassen und er uns die Qualität beschafft, die ihr alle braucht, soll er’s dann über die Bühne ziehen oder machen wir Schluss mit ihm, diesem Sauhund?“
Plötzlich hörte er die Stimme Marios aus der Dunkelheit: „Du, Ingo, kennst die Quelle sicher auch. Du willst es nur nicht sagen. Chef, wenn wir diesen miesen Wichser hier vor Ingo totschlagen, dann wird er’s schon ausspucken!“
„Und wenn nicht?“ Hippo hatte jetzt den schwarzen Peter zurückgespielt.
Ingo kreischte Mario an: „Ich weiß es nicht, du Arschloch! Geht das nicht in dein angefressenes Hirn rein?“
Mario warf zwei Stühle um und hätte fast Andy und Kaspar umgerempelt, als er sich auf Ingo stürzen wollte. Doch ein „Schluss!“ von Hippo fegte durch den Raum.
„Es wird so gemacht, wie ich sagte: Er bekommt noch eine Chance. Eine!“
Oliver war amüsiert dagestanden und hatte nicht eine Sekunde Angst gehabt. Er fühlte sich dem Fettwanst überlegen und den anderen auch. Sollten sie ihn doch totschlagen, hatte er sogar im kritischsten Moment gedacht. Ingo hat Pluspunkte gesammelt, sagte er sich. Aber klar: Er denkt an sein Geschäft. Scheint tatsächlich meine Gesprächspartner am Telefon nicht zu kennen. Trotzdem, bei Ingo weiß man nie, was wirklich stimmt.
„Also!“, fuhr ihn Hippo an. „Wann?“
„In fünf bis acht Tagen.“
„Genauer!“
„Geht nicht.“
„Wo?“
„Fang nicht wieder an!“
„Duz mich nicht, du Furz!“ Fast schien Hippo seine geübte Zurückhaltung zu bereuen.
Oliver lachte.
Hippo fuhr fort. „Wann hat es Ingo?“
„In sechs bis neun Tagen.“
„Wie viel?“
„Mal sehen! Wenn ich ständig bedroht werde …“
„Quatsch nicht weiter …“, krächzte Hippo, „sonst …!“
„Was, sonst?“, fragte Oliver frech.
Hippo war außer sich über diese Art von Antworten. Schweiß lief über das Gesicht. Die wenigen Haare waren von seinen Händen durchwühlt worden und standen zu Berge.
„Ingo! Ich will es genau wissen. Wann und wie viel?“
„Wie er’s sagt. Das Aluminium muss durch die Abfertigung am Flughafen und wie lange das dauert, weiß kein Mensch!“
„Welcher Flughafen?“
„Kann Frankfurt sein, aber auch Nürnberg oder München. Weiß der Geier, wo!“
„Es wird doch in La Gueira aufs Schiff verladen?“, näselte Hippo.
„Ja, aber irgendwo gelangt es dann in einen Luftfracht-Container. Kommt dann nicht direkt aus Venezuela. Ist auch besser so!“
„Sorgst du dafür, dass wir die ganze Menge kriegen? Fünfzehn Kilo!“
„Wenn ihr ihm ständig droht, so wie dieses Arschloch da drüben an der Wand, wird er bald keine Lust mehr haben und sich absetzen.“
„Der Preis?“
„Zweiundzwanzig Riesen pro Kilo!“
„Verrückt, was?“, blökte Hippo.
„Willst du oder willst du nicht?“
„Verschwindet jetzt!“
„Du zahlst auf mein Konto fünfzehn mal zweiundzwanzigtausend. Erst dann wird geliefert.“
„Wirst du auch noch frech?“, gab Hippo etwas gemäßigter von sich und nickte kaum merklich. „Macht euch davon, ihr Sackratten!“
„Gilt es?“, fragte Ingo erneut.
„Ja, verdammt! Raus hier!“

Als sie am Wegrand in Olivers Auto saßen, nicht weit von der Kampfberger-Villa entfernt, klopfte Ingo Oliver auf die Schulter. „Warst du frech. Hut ab! Ich hab mich schon bei deiner Beerdigung gesehen.“
Oliver wunderte sich selbst. Schon auf der Rückfahrt hatte er gefühlt, dass die Wirkung nachließ. Ingos Gegenwart machte ihn bereits wieder unsicher. Er wollte ihn loswerden.
„Wie wird denn nun verladen?“, fragte Ingo.
„Du erfährst es schon rechtzeitig. So wie früher!“ Nie würde er verraten, was das Versandavis vorsah. Aus Curaçao kam der Jumbo. Teilentladung in Schipol und dann von Holland weiter nach München. Weiß es Ingo wirklich nicht?
Oliver hoffte es. Aber das unruhige Zittern begann bereits wieder. Gerade jetzt, wenn eine Familienrunde anstand und alle gafften.

***

Um elf Uhr, nach der Visite durch den Oberarzt, der völlig zufrieden war, der ihm auch mitteilte, dass es keine Fäden zu ziehen gab, denn alles sei geklebt worden, hatte Bernie das Krankenhaus verlassen. Er war in ein vorbestelltes Taxi gestiegen.
Vorher hatte ihn noch Clarissa wissen lassen, dass Nicole mehrmals telefoniert habe und ihm ausrichten ließe, er möge sie schnellstmöglich anrufen, wenn er wieder zu Hause sei. Auch Helene hatte sich gemeldet und nach seinem Zustand gefragt, genauso wie Henning, der ihm von zwei neuen Gesichtern erzählte, die seit drei Tagen in der Rauchstraße herumlungerten. „So um die Zeit, als du die letzten Male gejoggt bist. Ich hab sie fotografiert. Du hast sie auf deinem Handy. Vielleicht kann Harro wieder was damit anfangen.“
Zuhause hatte er zunächst im Parterre aus seinem Briefkasten die Post entnommen. Dann war Herr Filbinger zur Stelle gewesen, als er die Tür zur Wohnung aufschloss. Dass alles sehr gut verlaufen sei, hatte er geantwortet, dass er ihm sehr dankbar sei und auch seine Insistenz im richtigen Moment niemals vergessen würde.
Bernie sah die Post durch. Zwei Drittel davon war Werbung und wanderte in den Papierkorb. Bankauszüge und ein neutrales dickeres Kuvert waren übrig geblieben.
Letzteres ohne Absender öffnete er. Es waren Kontoauszüge, die drei Jahre zurück gingen und das Konto von Herrn Anton Pressler bei der Postbank München betrafen. Er studierte alle Posten. Es gab bis vor acht Monaten innerhalb der letzten drei Jahre Eingänge über verschiedene Beträge unterhalb zehntausend Euro. Unregelmäßige Beträge, alle vom gleichen Konto, einem Schweizer Nummernkonto: Io4332br. Das Bankinstitut war nicht erkenntlich. Mal waren es 7.456 Euro, dann 6.344, 7.215 und 8.985. Alle Überweisungen fanden in Schüben mit einem Zeitunterschied von fünf Monaten statt. Diese Schübe ergaben immer einen Betrag von 30.000 Euro.
„Sieh an!“, murmelte Bernie und holte sein Handy hervor, um Harro anzurufen.
„Zurück unter den Lebenden?“, fragte dieser und richtete Genesungswünsche seiner Frau aus.
„Ich habe anscheinend wieder Besuch bekommen. Zwei neue Gesichter in meiner Straße. Ich schicke dir die Bilder auf dein Handy. Vielleicht wirst du wieder fündig.“
„Mach ich! Sonst noch was?“ Er schien es eilig zu haben.
„Ja! Wir müssen dem Aluminium-Geschäft von Kampfberger und von der Baumat nachgehen. Danke für die Post. Ein Volltreffer.“
„Wir besprechen das woanders, Bernie! Ich melde mich!“
Er verstand. Harro war vorsichtig. Aber es ist eilig!, sagte er sich.
Dann rief er im Büro an und meldete sich bei Carla und Clarissa zu Hause zurück. Sie erinnerten ihn an die wiederholten Anrufe von Nicole Kampfberger.
Er wählte ihre Handy-Nummer, doch er konnte nur auf den Anrufbeantworter sprechen. Es sei sein Rückruf.
Nach einer Viertelstunde meldete sich Nicole. Ihre Stimme war weich, nicht herrisch, sehr weiblich.
„Ich freue mich, dass Sie wieder zu Hause sind. Völlig genesen?“
„Fast jedenfalls.“
„Ich muss mit Ihnen sprechen. Wann ginge das?“
Bernie schluckte.
„Am Montag im Büro?“
„Geht’s nicht vorher?“
„Doch, aber bei mir!“
„Macht mir nichts aus. Sie sind ohnehin kampfunfähig!“ Ganz schön frivol!, dachte Bernie.
„Wie wär’s heute Abend?“
„Gut, ich bringe ’ne Pizza mit!“
„Ich hasse Pizzas. Ich mache uns was zu essen.“
„Sie können kochen?“
„Ich bin Junggeselle!“
„Um sieben. Ist das in Ordnung? Ich bringe wenigstens den Nachtisch mit.
„Gut! Sieben Uhr, passt bestens!“
Sie beendete das Gespräch.
Wie normal sie sein kann!, sagte sich Bernie und freute sich auf den Abend.

***

Tanja hatte dafür gesorgt, dass zumindest ihre Geschwister Kai und Ingo zum Abendessen mit am Tisch saßen. Nils wurde von ihrer Mutter in deren Zimmer gefüttert. Er musste von seiner Einweisung in ein Heim etwas mitbekommen haben; denn sein Benehmen hatte Rückschläge erlitten. Er wirkte wie ein Dreijähriger.
Harald war in sein Szegediner Gulasch vertieft, eines der Meistergerichte von Leni. Dennoch sah er schlecht aus. Trotz seines großen Schädels mit vielen Querfalten auf der Stirn kamen tiefe Furchen dazu, die vom Inneren der Augenhöhlen bis zu den Mundwinkeln verliefen und sein Gesicht schmaler erscheinen ließen. Der Dimmer hatte den Raum auf seiner höchsten Stufe hell erleuchtet. Dort, wo das kubistische grellgrüne Bild hing, war jetzt auf der weißen Wand ein großes, graues Quadrat zu erkennen. Elisa hatte es dort abgehängt und in ihr Zimmer in Sicherheit gebracht.
Nur manchmal blickte Harald nach rechts, wo Kai und Tanja saßen, aber nie nach links, wo Ingo als letzter Platz genommen hatte. Harald und Ingo tranken Wasser, die anderen beiden Rotwein.
Regen peitschte an die breite Glaswand. Manchmal zuckte das Licht.
„Mutter kommt wohl gar nicht mehr?“, unterbrach Kai das Schweigen.
„Sie lässt im Moment niemanden an sich ran; jedenfalls niemanden von uns“, sagte Tanja.
„Meinst du, sie hat wieder Depressionen? Müssen wir mehr auf sie aufpassen?“, fragte Kai, der besorgt wirkte. „Was ist denn mit Mathilde? Ich dachte, sie hilft ihr in solchen Situationen?“
„Tut sie auch! Von Nicole weiß ich jedenfalls, dass sie zu irgendeinem Konzert nach Salzburg wollen und auch dort übernachten werden.“
„Na klar!“, polterte Harald mit einem schiefen Lachen. Über Ingos Gesicht huschte ein leichtes Grinsen, das er aber schnell wieder verbarg. Harald trommelte mit dem Löffel auf den Tellerrand.
„Noch einen!“, befahl er Leni, als sie angelaufen kam. Kurz danach kehrte sie mit dem Tablett und einem vollen Teller zurück. Solange er diesen unter heftigem Schnaufen vertilgte, wurde kein Wort gesprochen.
„Wann kommt die Ware? Wann kommt das venezolanische Alu?“, fragte er Ingo, doch Haralds Blick war auf die Mitte des Tischs gerichtet.
„In circa acht Tagen, Vater!“, antwortete Ingo.
Harald sah ihn immer noch nicht an, als er forderte: „Du musst ein Zahlungsziel bei Oliver heraushandeln. Von Tanja weiß ich, dass wir knapp bei Kasse sind.“
Ingo schüttelte vehement den Kopf. Er war verwirrt. Vor ein paar Tagen hatte er ihn noch Sohn genannt und ihn dringend gebeten, wieder an das venezolanische Aluminium heranzukommen.
„Geht nicht, Vater! Oli muss cash bezahlen.“
„Nicht dein Problem“, knurrte Harald.
„Doch! Dann liefert er nichts an mich.“
„Wieso? Zahlst du etwa per Vorauskasse? Dieser Milchbubi diktiert dir also die Bedingungen?“ Noch immer hatte er Ingo keines Blickes gewürdigt; sprach in den Raum hinein.
„Also, ich bin froh, dass Oliver wieder an diese reine Qualität rankommt. Weder Wasserflecken, Kratzer, Beulen, Knicke, noch ist es besonders empfindlich gegen Kondensation. Wir hatten in unserem Lager nie Schwitzwasserbildung“, schaltete sich Kai ein. „Ich bin froh, dass er uns was abgibt.“
„Uns was abgibt. Hört euch das an! So tief sind wir schon gesunken.“ Zum ersten Mal sah er jetzt Ingo mit grimmigem Blick an.
„Wie viele Kunden hast du denn schon im Sack? Erfahre ich das vielleicht mal?“
Ingo erwiderte leicht stotternd: „Im Moment … sicher Kerster! Also … da bin ich mir ganz sicher. Pressler bestellt die gleiche Menge wie früher. Und dann … der Slowake. Keine großen Mengen, aber es ist ein Anfang. Die Tschechen beißen auch an. Da bin ich sehr zuversichtlich, und natürlich kommt dann von den Deutschen noch Almera dazu. Wenn wir die vier haben, sind wir schon wieder bei dreißig Prozent von früher.“
„Und die ganzen anderen Deutschen? Was hast du da versiebt?“ Harald sah wieder in die Mitte des Tisches, als er mit ihm sprach.
„Das weißt du doch. Christian hat uns in allen Chefetagen schlechtgeredet. Die Einkäufer, meine damaligen Gesprächspartner, wurden ausgetauscht. Wir stehen dort auf der schwarzen Liste.“
„Dieser elende Sauhund! Gut, dass es ihn zertrümmert hat!“, fluchte Harald.
„Vater! Du bist derart ungerecht …“
„Hör mir mit deinem Gefasel auf!“, stutzte er Tanja zurecht. „Sieh lieber zu, dass du das Geld zusammenkratzt, damit wir von unserem Milchbubi noch was abbekommen.“ Er lachte höhnisch auf und lärmte seinen Stuhl zurück, warf die Serviette auf den Tisch und verließ das Esszimmer.
Tanja, Kai und Ingo sprachen kein Wort, sahen sich auch nicht an, sondern starrten auf ihre halb vollen Teller, während der Regen parallel verlaufende Figuren, die Fischspuren im Wasser glichen, auf die Scheibe zauberte.
···
„Sei doch nicht eingeschnappt, Engel! Ich hab’s doch“, flüsterte Mathilde ins Telefon.
„Dann bring mir’s sofort!“
„Nein! Ist mir heute zu nass! Wir fahren morgen nach Salzburg. Ein Debussy-Abend und dann nehmen wir uns ein Zimmer.“
„Hm. Ich halt’s hier nicht mehr aus. Kann ich zu dir kommen?“
„Ausgeschlossen! Heute Abend geht es nicht. Halt bis morgen durch, Schatz!“
„Um wie viel Uhr, du Biest?“
„Fünfzehn Uhr Abfahrt. Ich hole dich ab!“

***

Bernie war sich zeitweise wie auf Freiers Füßen vorgekommen und er musste sich eingestehen, dass er sich für Helene nie solche Mühe gegeben hatte, ein derart deliziöses Mahl zuzubereiten. War es heute doch nur ein Arbeitsgespräch, das krankheitsbedingt bei ihm zu Hause stattfand.
Oft hatte er darüber nachgedacht, was wohl passierte, wenn Helene und Nicole vor der Türe unten zusammenträfen. Aber der heftige Regen wischte diese Sorge wieder aus.
Er kochte Schweinelendchen mit einer mit unzähligen Gewürzen angereicherten Soße und Tagliatelle. Zu Beginn würde es Avocado mit Shrimps mit einer Bernaise überzogen geben. Er hatte einen trockenen Sauvignon Blanc aus Südafrika in einen Kühler gestellt und eine Flasche toskanischen Montalcino in eine Karaffe dekantiert.
Seine Operationswunde machte keinerlei Probleme, außer, dass er beim Bücken vorsichtig sein musste.
Nicole trat Punkt sieben Uhr in die Wohnung. Sie jonglierte eine Schale in der Hand.
„Ich hab den Schirm unten im Flur gelassen“, begann sie. „Das hier ist Tiramisu! Mögen Sie so was?“
„Und ob!“
Er nahm ihr die Nachspeise ab und hängte ihren an den Schultern durchnässten schwarzen Regenmantel über einen Bügel an der Garderobe.
„Nicht schlecht wohnen Sie. Bin überrascht. Auch geschmackvoll!“
„Was haben Sie mir denn zugetraut? Mein Büro kann sich doch auch sehen lassen.“
„Allerdings!“ Bernie merkte, dass sie nervös war und irgendetwas daherredete. Er zog es vor, sie zu einem Sessel zu begleiten und selbst letzte Hand in der Küche anzulegen.
„Einen Aperitif?“, rief er ihr von dort aus zu.
„Nein, danke. Die Promille!“
Bernie legte eine Chill-Out-CD ein, von denen er mehrere vorher ausprobiert und sich für die entschieden hatte, die fast in Yoga-Begleitmusik überging.
Als sie im Esszimmer waren, dimmte er das Licht und zündete zwei Kerzen an. Er schenkte Weißwein ein und stellte die Teller mit der Vorspeise auf den Tisch.
Doch Nicole nahm nichts zu sich. Sie hob auch nicht das Glas, als er ihr zuprostete.
„Ich bin entsetzt!“, stammelte sie.
Bernie war sich keiner Schuld bewusst. Sie wischte sich Tränen ab.
„Eigentlich wollte ich … darüber … reden. Aber es … es geht nicht!“
„Ihre Familie?“, fragte er besorgt.
Sie nickte. Weitere Tränen flossen. Sie tupfte sie mit der Serviette ab.
„Ihre Mutter?“
Wieder nickte sie.
„Und Oliver?“
„Was soll mit dem sein?“, fuhr sie ihn rüde an. „Ich glaube das nicht, was Sie mir gesagt haben. Aber vielleicht stimmt es ja auch. Ich will das alles nicht hören. Sie haben uns nur Unglück gebracht.“
Jetzt schossen die Tränen über die Wangen.
Bernie sagte kein Wort. Er nahm einen Schluck Wein.
„Entschuldigen Sie, aber ich möchte gehen!“
Sie stand auf und lief zu ihrem Mantel an der Garderobe, legte ihn über den Arm, öffnete selbst die Türe und rannte die Treppe hinunter.
Bernie schloss die Türe. Nur kurz überlegte er, ob dieser Auftritt geplant gewesen sein könnte. Doch dann widersprach er sich. Das Tiramisu! Hätte sie es mitgebracht, wenn sie es sich vorgenommen hätte? Nein!, sagte er sich.
Er setzte sich an den Tisch. Doch er hatte keinen Appetit mehr. Das Telefon klingelte. Er nahm nicht ab. Es war Helene. Sie wollte einen Krankenbesuch machen. Er solle sie anrufen.
Ob er das fertige Essen, den Wein, die Kerzen mit ihr teilen sollte, flammte als kurzer Gedanke auf. Doch er verbot es sich, weiter darüber nachzudenken.

***

Er empfand es als eine Ehre, Harro Herrlinger, großes Tier bei der Münchner Polizei, Oberrat des Präsidiums, an einem Sonntagvormittag in seiner Wohnung begrüßen zu dürfen. Natürlich kannten sie sich bestens von früher. Aber trotzdem! Harro war sehr standesbewusst. Natürlich war der Besuch den Nachwehen seines Krankenhausaufenthalts geschuldet. Doch Bernie fühlte sich schon wieder recht fit und hätte sich an diesem wieder sonnigen Tag auch gerne woanders mit ihm getroffen. Im Biergarten des Aumeister zum Beispiel oder auch im Seehaus. Aber andererseits, sagte er sich, gab es Wichtiges zu besprechen und die Ruhe in seiner Wohnung war dafür angebrachter als ein Biergartentisch, an den sich sicherlich andere Menschen gesellten.
Sie hatten an dem Glastisch im Salon Platz genommen, Harro in einem Sessel, Bernie auf der Couch. Er servierte Kaffee.
„Du bist nicht in der Kirche?“, fragte er Harro.
„Gabriele ja. Ich schon länger nicht mehr!“
„Wegen der Steuer?“
„Nein! Weißt du, ich habe vor ein paar Jahren angefangen, mehrere Bücher über unsere europäische Geschichte zu lesen. Insbesondere über das Mittelalter und diese ganze Papstherrlichkeit. Rom, Avignon. Wie die Menschen über Jahrhunderte durch diesen verfluchten Ablasshandel regelrecht korrumpiert wurden. Geld gegen Vergebung der Sünden! Das hat die Kirche reich gemacht. Jeden technischen Fortschritt hat sie verunglimpft und bekämpft, weil nur richtig sei, was von Gottes Gnaden käme. Wir könnten heute schon viel weiter sein.“
„Wenigstens hat dann Luther dagegen gewütet. Das hat die Katholiken schwer zurückgeworfen.“
„Ja, das war so eine Art religiöse Revolution. Aber am Schluss ist er auch zum Umfaller geworden. Hat mit den vom Papst unterstützten Fürsten kollaboriert.“
„Am besten, wir lassen das Thema, Harro! Ich gehe auch nicht in die Kirche, vor allem wenn ich höre, was da an pädophilen Exzessen passiert ist und wie die Kirche solche Vergehen mit ihrer eigenen Gesetzgebung zuzudecken versucht.“
„Ja, recht hast du! Gehen wir lieber zu unseren Gesetzen über, Bernie! Denen gilt es, Genüge zu tun, obwohl es nie eine heile Welt geben wird. Wie viele Menschen werden fehlgelenkt durch Not, aber auch durch verführerische Chancen, die zunächst durch kleine Umwege am Gesetz vorbei wahrgenommen und – einmal gut gegangen – zur Gewohnheit werden? Natürlich ist die Gier eine Antreiberin für Verbrechen. Endlich zu den Reichen gehören! Andere plündern und morden aus purer Armut oder Angst, selbst umgebracht zu werden. All diese Motive und viele mehr stecken einfach in den Menschen. Das wird ewig so bleiben, genauso wie es immer eine Polizei geben wird.“ Harro nickte seinen eigenen Worten zu und ergänzte: „Warum haben die Afrikaner gejubelt, als sie sich endlich von den europäischen Kolonialmächten befreit hatten? Endlich konnten sie selbst die Dinge in die Hand nehmen. Ein Traum ging in Erfüllung. Und was ist daraus geworden? Heute stehen sie bei den Europäern vor der Tür. Erklär mir das!“
„Ich kann es nicht, Harro. Aber kann man Hilfe verwehren?“
„Natürlich nicht! Aber ich weiß, dass sich dadurch die Probleme verschärft haben. Die Kriminalität von heute hat sich um hundertachtzig Grad verändert. Nicht nur wegen der Afrikaner, wie du weißt. Es geht um viele Nationen, um Religionen und um Kulturen, die uns lange recht fremd waren. Damit ist schwer umzugehen.

10. Kapitel

Wenn Hippo eines nicht mochte, dann war es, wenn man ihm widersprach, wenn er nicht recht bekam. Und das kam praktisch nie vor. Außer heute. Schon zehn Minuten hatte er auf Oliver eingewirkt, der durch Andy bereits einen ersten Knuff an die linke Brustkorbseite hatte hinnehmen müssen. Doch Oliver, durch zwei geschniefte Linien ins Selbstbewusste und scheinbar Unverwundbare konvertiert, hatte nur kurz gezuckt, Andy den Zeigefinger vor die Nase gehalten und ihn angefahren: „Noch einmal, du Vollidiot, und ich bin hier weg!“
Ingo, der neben ihm stand, rief jetzt Hippo zu: „Der meint es ernst. Mir sagt er’s auch nicht!“
Es war wie ein surreales Schauspiel, das Hippo für dieses Verhör inszeniert hatte. Gespenstisch und grotesk geradezu. Sechs Männer lehnten an den Wänden wie festgeklebt und im Dunkeln. Tische und Stühle, die sie nicht benutzen durften, standen ungeordnet vor ihnen. Den Raum durchzog eine seidige Düsternis, die ihren Ausgangspunkt in der Lichtampel an der Decke und im Qualm der aufglimmenden Zigaretten nahm. Insekten surrten um die einzige Beleuchtungsquelle und warfen kleine, nervöse Schatten auf den Platz, auf dem Oliver und Ingo vor dem Rollstuhl Hippos standen. Die anderen Lampen waren ausgeschaltet. Nur diese drei Menschen stellten die erleuchtete Bühne dar, auf der die Show nach Hippos Geschmack ablaufen sollte. Narzißtischer Größenrausch und die Demonstration von Befehlsgewalt verbargen sich in der Regie der Aufführung.
Doch zu Hippos Konzept passte nicht, dass ihm Oliver ständig widersprach oder ausweichende Antworten gab. Er rutschte mit seinem fetten Hinterteil ständig im Rollstuhl hin und her. Einen Zigarettenstummel hatte er bereits wütend auf den Boden geschleudert. Der Puls an seinem massigen Hals zuckte wild.

„Termin, Ankunftsort! Alles will ich wissen, sonst kommst du hier nicht lebend raus, du miese Kreatur. Abtreiben hätte man dich müssen, als noch Zeit dafür war!“
Doch Olivers Endorphine und das Serotonin erfüllten nach wie vor ihren Zweck.
„Dann kannst du zusehen, wo du künftig den Scheiß herkriegst, Fettsack!“, schleuderte er Hippo an den Kopf.
Hippo, der heute ein safranfarbenes Hemd anhatte, war nahe daran, zu zerbersten. Jedenfalls schien sein Körper immer mehr aufzuquellen. Sein Leib pumpte. Die Augen hatten basedowsche Formen angenommen. Er war jetzt an dem Schnittpunkt angekommen, entweder Oliver hier und jetzt totschlagen zu lassen, um allen zu zeigen, dass es kein Widersetzen gegen seine Befehle gab, oder der wirtschaftlichen Vernunft Genüge zu tun. Im ersten Feuer der Eitelkeitsinstinkte, die in ihm loderten, hatte er Ingo zur Seite gewunken und mit einem Fingerschnipsen Kaspar zu Andy gerufen. Es war der Moment, in dem es für ihn kaum noch einen Halt der Vernunft gab.
Nur der schrille Schrei Ingos: „Seid ihr verrückt? Ihr macht das ganze Geschäft tot!“, hielt Hippo auf, den Daumen zu senken, obwohl er vor Erregung wie ein Walross schnaufte und die Pupillen in den aufgeblähten Augäpfeln hin- und hersausten.
Er besann sich. Ein quäkendes „Halt!“ entfuhr ihm. Andy und Kaspar ließen die Fäuste sinken. Für zwei Minuten war nur Hippos Keuchen zu hören. Er überlegte, wie er sich vor seinen Leuten aus der Affäre ziehen konnte. Schließlich gellte er wie ein populistischer südamerikanischer Staatsmann: „Wenn wir ihn heute noch mal laufen lassen und er uns die Qualität beschafft, die ihr alle braucht, soll er’s dann über die Bühne ziehen oder machen wir Schluss mit ihm, diesem Sauhund?“
Plötzlich hörte er die Stimme Marios aus der Dunkelheit: „Du, Ingo, kennst die Quelle sicher auch. Du willst es nur nicht sagen. Chef, wenn wir diesen miesen Wichser hier vor Ingo totschlagen, dann wird er’s schon ausspucken!“
„Und wenn nicht?“ Hippo hatte jetzt den schwarzen Peter zurückgespielt.
Ingo kreischte Mario an: „Ich weiß es nicht, du Arschloch! Geht das nicht in dein angefressenes Hirn rein?“
Mario warf zwei Stühle um und hätte fast Andy und Kaspar umgerempelt, als er sich auf Ingo stürzen wollte. Doch ein „Schluss!“ von Hippo fegte durch den Raum.
„Es wird so gemacht, wie ich sagte: Er bekommt noch eine Chance. Eine!“
Oliver war amüsiert dagestanden und hatte nicht eine Sekunde Angst gehabt. Er fühlte sich dem Fettwanst überlegen und den anderen auch. Sollten sie ihn doch totschlagen, hatte er sogar im kritischsten Moment gedacht. Ingo hat Pluspunkte gesammelt, sagte er sich. Aber klar: Er denkt an sein Geschäft. Scheint tatsächlich meine Gesprächspartner am Telefon nicht zu kennen. Trotzdem, bei Ingo weiß man nie, was wirklich stimmt.
„Also!“, fuhr ihn Hippo an. „Wann?“
„In fünf bis acht Tagen.“
„Genauer!“
„Geht nicht.“
„Wo?“
„Fang nicht wieder an!“
„Duz mich nicht, du Furz!“ Fast schien Hippo seine geübte Zurückhaltung zu bereuen.
Oliver lachte.
Hippo fuhr fort. „Wann hat es Ingo?“
„In sechs bis neun Tagen.“
„Wie viel?“
„Mal sehen! Wenn ich ständig bedroht werde …“
„Quatsch nicht weiter …“, krächzte Hippo, „sonst …!“
„Was, sonst?“, fragte Oliver frech.
Hippo war außer sich über diese Art von Antworten. Schweiß lief über das Gesicht. Die wenigen Haare waren von seinen Händen durchwühlt worden und standen zu Berge.
„Ingo! Ich will es genau wissen. Wann und wie viel?“
„Wie er’s sagt. Das Aluminium muss durch die Abfertigung am Flughafen und wie lange das dauert, weiß kein Mensch!“
„Welcher Flughafen?“
„Kann Frankfurt sein, aber auch Nürnberg oder München. Weiß der Geier, wo!“
„Es wird doch in La Gueira aufs Schiff verladen?“, näselte Hippo.
„Ja, aber irgendwo gelangt es dann in einen Luftfracht-Container. Kommt dann nicht direkt aus Venezuela. Ist auch besser so!“
„Sorgst du dafür, dass wir die ganze Menge kriegen? Fünfzehn Kilo!“
„Wenn ihr ihm ständig droht, so wie dieses Arschloch da drüben an der Wand, wird er bald keine Lust mehr haben und sich absetzen.“
„Der Preis?“
„Zweiundzwanzig Riesen pro Kilo!“
„Verrückt, was?“, blökte Hippo.
„Willst du oder willst du nicht?“
„Verschwindet jetzt!“
„Du zahlst auf mein Konto fünfzehn mal zweiundzwanzigtausend. Erst dann wird geliefert.“
„Wirst du auch noch frech?“, gab Hippo etwas gemäßigter von sich und nickte kaum merklich. „Macht euch davon, ihr Sackratten!“
„Gilt es?“, fragte Ingo erneut.
„Ja, verdammt! Raus hier!“

Als sie am Wegrand in Olivers Auto saßen, nicht weit von der Kampfberger-Villa entfernt, klopfte Ingo Oliver auf die Schulter. „Warst du frech. Hut ab! Ich hab mich schon bei deiner Beerdigung gesehen.“
Oliver wunderte sich selbst. Schon auf der Rückfahrt hatte er gefühlt, dass die Wirkung nachließ. Ingos Gegenwart machte ihn bereits wieder unsicher. Er wollte ihn loswerden.
„Wie wird denn nun verladen?“, fragte Ingo.
„Du erfährst es schon rechtzeitig. So wie früher!“ Nie würde er verraten, was das Versandavis vorsah. Aus Curaçao kam der Jumbo. Teilentladung in Schipol und dann von Holland weiter nach München. Weiß es Ingo wirklich nicht?
Oliver hoffte es. Aber das unruhige Zittern begann bereits wieder. Gerade jetzt, wenn eine Familienrunde anstand und alle gafften.

***

Um elf Uhr, nach der Visite durch den Oberarzt, der völlig zufrieden war, der ihm auch mitteilte, dass es keine Fäden zu ziehen gab, denn alles sei geklebt worden, hatte Bernie das Krankenhaus verlassen. Er war in ein vorbestelltes Taxi gestiegen.
Vorher hatte ihn noch Clarissa wissen lassen, dass Nicole mehrmals telefoniert habe und ihm ausrichten ließe, er möge sie schnellstmöglich anrufen, wenn er wieder zu Hause sei. Auch Helene hatte sich gemeldet und nach seinem Zustand gefragt, genauso wie Henning, der ihm von zwei neuen Gesichtern erzählte, die seit drei Tagen in der Rauchstraße herumlungerten. „So um die Zeit, als du die letzten Male gejoggt bist. Ich hab sie fotografiert. Du hast sie auf deinem Handy. Vielleicht kann Harro wieder was damit anfangen.“
Zuhause hatte er zunächst im Parterre aus seinem Briefkasten die Post entnommen. Dann war Herr Filbinger zur Stelle gewesen, als er die Tür zur Wohnung aufschloss. Dass alles sehr gut verlaufen sei, hatte er geantwortet, dass er ihm sehr dankbar sei und auch seine Insistenz im richtigen Moment niemals vergessen würde.
Bernie sah die Post durch. Zwei Drittel davon war Werbung und wanderte in den Papierkorb. Bankauszüge und ein neutrales dickeres Kuvert waren übrig geblieben.
Letzteres ohne Absender öffnete er. Es waren Kontoauszüge, die drei Jahre zurück gingen und das Konto von Herrn Anton Pressler bei der Postbank München betrafen. Er studierte alle Posten. Es gab bis vor acht Monaten innerhalb der letzten drei Jahre Eingänge über verschiedene Beträge unterhalb zehntausend Euro. Unregelmäßige Beträge, alle vom gleichen Konto, einem Schweizer Nummernkonto: Io4332br. Das Bankinstitut war nicht erkenntlich. Mal waren es 7.456 Euro, dann 6.344, 7.215 und 8.985. Alle Überweisungen fanden in Schüben mit einem Zeitunterschied von fünf Monaten statt. Diese Schübe ergaben immer einen Betrag von 30.000 Euro.
„Sieh an!“, murmelte Bernie und holte sein Handy hervor, um Harro anzurufen.
„Zurück unter den Lebenden?“, fragte dieser und richtete Genesungswünsche seiner Frau aus.
„Ich habe anscheinend wieder Besuch bekommen. Zwei neue Gesichter in meiner Straße. Ich schicke dir die Bilder auf dein Handy. Vielleicht wirst du wieder fündig.“
„Mach ich! Sonst noch was?“ Er schien es eilig zu haben.
„Ja! Wir müssen dem Aluminium-Geschäft von Kampfberger und von der Baumat nachgehen. Danke für die Post. Ein Volltreffer.“
„Wir besprechen das woanders, Bernie! Ich melde mich!“
Er verstand. Harro war vorsichtig. Aber es ist eilig!, sagte er sich.
Dann rief er im Büro an und meldete sich bei Carla und Clarissa zu Hause zurück. Sie erinnerten ihn an die wiederholten Anrufe von Nicole Kampfberger.
Er wählte ihre Handy-Nummer, doch er konnte nur auf den Anrufbeantworter sprechen. Es sei sein Rückruf.
Nach einer Viertelstunde meldete sich Nicole. Ihre Stimme war weich, nicht herrisch, sehr weiblich.
„Ich freue mich, dass Sie wieder zu Hause sind. Völlig genesen?“
„Fast jedenfalls.“
„Ich muss mit Ihnen sprechen. Wann ginge das?“
Bernie schluckte.
„Am Montag im Büro?“
„Geht’s nicht vorher?“
„Doch, aber bei mir!“
„Macht mir nichts aus. Sie sind ohnehin kampfunfähig!“ Ganz schön frivol!, dachte Bernie.
„Wie wär’s heute Abend?“
„Gut, ich bringe ’ne Pizza mit!“
„Ich hasse Pizzas. Ich mache uns was zu essen.“
„Sie können kochen?“
„Ich bin Junggeselle!“
„Um sieben. Ist das in Ordnung? Ich bringe wenigstens den Nachtisch mit.
„Gut! Sieben Uhr, passt bestens!“
Sie beendete das Gespräch.
Wie normal sie sein kann!, sagte sich Bernie und freute sich auf den Abend.

***

Tanja hatte dafür gesorgt, dass zumindest ihre Geschwister Kai und Ingo zum Abendessen mit am Tisch saßen. Nils wurde von ihrer Mutter in deren Zimmer gefüttert. Er musste von seiner Einweisung in ein Heim etwas mitbekommen haben; denn sein Benehmen hatte Rückschläge erlitten. Er wirkte wie ein Dreijähriger.
Harald war in sein Szegediner Gulasch vertieft, eines der Meistergerichte von Leni. Dennoch sah er schlecht aus. Trotz seines großen Schädels mit vielen Querfalten auf der Stirn kamen tiefe Furchen dazu, die vom Inneren der Augenhöhlen bis zu den Mundwinkeln verliefen und sein Gesicht schmaler erscheinen ließen. Der Dimmer hatte den Raum auf seiner höchsten Stufe hell erleuchtet. Dort, wo das kubistische grellgrüne Bild hing, war jetzt auf der weißen Wand ein großes, graues Quadrat zu erkennen. Elisa hatte es dort abgehängt und in ihr Zimmer in Sicherheit gebracht.
Nur manchmal blickte Harald nach rechts, wo Kai und Tanja saßen, aber nie nach links, wo Ingo als letzter Platz genommen hatte. Harald und Ingo tranken Wasser, die anderen beiden Rotwein.
Regen peitschte an die breite Glaswand. Manchmal zuckte das Licht.
„Mutter kommt wohl gar nicht mehr?“, unterbrach Kai das Schweigen.
„Sie lässt im Moment niemanden an sich ran; jedenfalls niemanden von uns“, sagte Tanja.
„Meinst du, sie hat wieder Depressionen? Müssen wir mehr auf sie aufpassen?“, fragte Kai, der besorgt wirkte. „Was ist denn mit Mathilde? Ich dachte, sie hilft ihr in solchen Situationen?“
„Tut sie auch! Von Nicole weiß ich jedenfalls, dass sie zu irgendeinem Konzert nach Salzburg wollen und auch dort übernachten werden.“
„Na klar!“, polterte Harald mit einem schiefen Lachen. Über Ingos Gesicht huschte ein leichtes Grinsen, das er aber schnell wieder verbarg. Harald trommelte mit dem Löffel auf den Tellerrand.
„Noch einen!“, befahl er Leni, als sie angelaufen kam. Kurz danach kehrte sie mit dem Tablett und einem vollen Teller zurück. Solange er diesen unter heftigem Schnaufen vertilgte, wurde kein Wort gesprochen.
„Wann kommt die Ware? Wann kommt das venezolanische Alu?“, fragte er Ingo, doch Haralds Blick war auf die Mitte des Tischs gerichtet.
„In circa acht Tagen, Vater!“, antwortete Ingo.
Harald sah ihn immer noch nicht an, als er forderte: „Du musst ein Zahlungsziel bei Oliver heraushandeln. Von Tanja weiß ich, dass wir knapp bei Kasse sind.“
Ingo schüttelte vehement den Kopf. Er war verwirrt. Vor ein paar Tagen hatte er ihn noch Sohn genannt und ihn dringend gebeten, wieder an das venezolanische Aluminium heranzukommen.
„Geht nicht, Vater! Oli muss cash bezahlen.“
„Nicht dein Problem“, knurrte Harald.
„Doch! Dann liefert er nichts an mich.“
„Wieso? Zahlst du etwa per Vorauskasse? Dieser Milchbubi diktiert dir also die Bedingungen?“ Noch immer hatte er Ingo keines Blickes gewürdigt; sprach in den Raum hinein.
„Also, ich bin froh, dass Oliver wieder an diese reine Qualität rankommt. Weder Wasserflecken, Kratzer, Beulen, Knicke, noch ist es besonders empfindlich gegen Kondensation. Wir hatten in unserem Lager nie Schwitzwasserbildung“, schaltete sich Kai ein. „Ich bin froh, dass er uns was abgibt.“
„Uns was abgibt. Hört euch das an! So tief sind wir schon gesunken.“ Zum ersten Mal sah er jetzt Ingo mit grimmigem Blick an.
„Wie viele Kunden hast du denn schon im Sack? Erfahre ich das vielleicht mal?“
Ingo erwiderte leicht stotternd: „Im Moment … sicher Kerster! Also … da bin ich mir ganz sicher. Pressler bestellt die gleiche Menge wie früher. Und dann … der Slowake. Keine großen Mengen, aber es ist ein Anfang. Die Tschechen beißen auch an. Da bin ich sehr zuversichtlich, und natürlich kommt dann von den Deutschen noch Almera dazu. Wenn wir die vier haben, sind wir schon wieder bei dreißig Prozent von früher.“
„Und die ganzen anderen Deutschen? Was hast du da versiebt?“ Harald sah wieder in die Mitte des Tisches, als er mit ihm sprach.
„Das weißt du doch. Christian hat uns in allen Chefetagen schlechtgeredet. Die Einkäufer, meine damaligen Gesprächspartner, wurden ausgetauscht. Wir stehen dort auf der schwarzen Liste.“
„Dieser elende Sauhund! Gut, dass es ihn zertrümmert hat!“, fluchte Harald.
„Vater! Du bist derart ungerecht …“
„Hör mir mit deinem Gefasel auf!“, stutzte er Tanja zurecht. „Sieh lieber zu, dass du das Geld zusammenkratzt, damit wir von unserem Milchbubi noch was abbekommen.“ Er lachte höhnisch auf und lärmte seinen Stuhl zurück, warf die Serviette auf den Tisch und verließ das Esszimmer.
Tanja, Kai und Ingo sprachen kein Wort, sahen sich auch nicht an, sondern starrten auf ihre halb vollen Teller, während der Regen parallel verlaufende Figuren, die Fischspuren im Wasser glichen, auf die Scheibe zauberte.
···
„Sei doch nicht eingeschnappt, Engel! Ich hab’s doch“, flüsterte Mathilde ins Telefon.
„Dann bring mir’s sofort!“
„Nein! Ist mir heute zu nass! Wir fahren morgen nach Salzburg. Ein Debussy-Abend und dann nehmen wir uns ein Zimmer.“
„Hm. Ich halt’s hier nicht mehr aus. Kann ich zu dir kommen?“
„Ausgeschlossen! Heute Abend geht es nicht. Halt bis morgen durch, Schatz!“
„Um wie viel Uhr, du Biest?“
„Fünfzehn Uhr Abfahrt. Ich hole dich ab!“

***

Bernie war sich zeitweise wie auf Freiers Füßen vorgekommen und er musste sich eingestehen, dass er sich für Helene nie solche Mühe gegeben hatte, ein derart deliziöses Mahl zuzubereiten. War es heute doch nur ein Arbeitsgespräch, das krankheitsbedingt bei ihm zu Hause stattfand.
Oft hatte er darüber nachgedacht, was wohl passierte, wenn Helene und Nicole vor der Türe unten zusammenträfen. Aber der heftige Regen wischte diese Sorge wieder aus.
Er kochte Schweinelendchen mit einer mit unzähligen Gewürzen angereicherten Soße und Tagliatelle. Zu Beginn würde es Avocado mit Shrimps mit einer Bernaise überzogen geben. Er hatte einen trockenen Sauvignon Blanc aus Südafrika in einen Kühler gestellt und eine Flasche toskanischen Montalcino in eine Karaffe dekantiert.
Seine Operationswunde machte keinerlei Probleme, außer, dass er beim Bücken vorsichtig sein musste.
Nicole trat Punkt sieben Uhr in die Wohnung. Sie jonglierte eine Schale in der Hand.
„Ich hab den Schirm unten im Flur gelassen“, begann sie. „Das hier ist Tiramisu! Mögen Sie so was?“
„Und ob!“
Er nahm ihr die Nachspeise ab und hängte ihren an den Schultern durchnässten schwarzen Regenmantel über einen Bügel an der Garderobe.
„Nicht schlecht wohnen Sie. Bin überrascht. Auch geschmackvoll!“
„Was haben Sie mir denn zugetraut? Mein Büro kann sich doch auch sehen lassen.“
„Allerdings!“ Bernie merkte, dass sie nervös war und irgendetwas daherredete. Er zog es vor, sie zu einem Sessel zu begleiten und selbst letzte Hand in der Küche anzulegen.
„Einen Aperitif?“, rief er ihr von dort aus zu.
„Nein, danke. Die Promille!“
Bernie legte eine Chill-Out-CD ein, von denen er mehrere vorher ausprobiert und sich für die entschieden hatte, die fast in Yoga-Begleitmusik überging.
Als sie im Esszimmer waren, dimmte er das Licht und zündete zwei Kerzen an. Er schenkte Weißwein ein und stellte die Teller mit der Vorspeise auf den Tisch.
Doch Nicole nahm nichts zu sich. Sie hob auch nicht das Glas, als er ihr zuprostete.
„Ich bin entsetzt!“, stammelte sie.
Bernie war sich keiner Schuld bewusst. Sie wischte sich Tränen ab.
„Eigentlich wollte ich … darüber … reden. Aber es … es geht nicht!“
„Ihre Familie?“, fragte er besorgt.
Sie nickte. Weitere Tränen flossen. Sie tupfte sie mit der Serviette ab.
„Ihre Mutter?“
Wieder nickte sie.
„Und Oliver?“
„Was soll mit dem sein?“, fuhr sie ihn rüde an. „Ich glaube das nicht, was Sie mir gesagt haben. Aber vielleicht stimmt es ja auch. Ich will das alles nicht hören. Sie haben uns nur Unglück gebracht.“
Jetzt schossen die Tränen über die Wangen.
Bernie sagte kein Wort. Er nahm einen Schluck Wein.
„Entschuldigen Sie, aber ich möchte gehen!“
Sie stand auf und lief zu ihrem Mantel an der Garderobe, legte ihn über den Arm, öffnete selbst die Türe und rannte die Treppe hinunter.
Bernie schloss die Türe. Nur kurz überlegte er, ob dieser Auftritt geplant gewesen sein könnte. Doch dann widersprach er sich. Das Tiramisu! Hätte sie es mitgebracht, wenn sie es sich vorgenommen hätte? Nein!, sagte er sich.
Er setzte sich an den Tisch. Doch er hatte keinen Appetit mehr. Das Telefon klingelte. Er nahm nicht ab. Es war Helene. Sie wollte einen Krankenbesuch machen. Er solle sie anrufen.
Ob er das fertige Essen, den Wein, die Kerzen mit ihr teilen sollte, flammte als kurzer Gedanke auf. Doch er verbot es sich, weiter darüber nachzudenken.

***

Er empfand es als eine Ehre, Harro Herrlinger, großes Tier bei der Münchner Polizei, Oberrat des Präsidiums, an einem Sonntagvormittag in seiner Wohnung begrüßen zu dürfen. Natürlich kannten sie sich bestens von früher. Aber trotzdem! Harro war sehr standesbewusst. Natürlich war der Besuch den Nachwehen seines Krankenhausaufenthalts geschuldet. Doch Bernie fühlte sich schon wieder recht fit und hätte sich an diesem wieder sonnigen Tag auch gerne woanders mit ihm getroffen. Im Biergarten des Aumeister zum Beispiel oder auch im Seehaus. Aber andererseits, sagte er sich, gab es Wichtiges zu besprechen und die Ruhe in seiner Wohnung war dafür angebrachter als ein Biergartentisch, an den sich sicherlich andere Menschen gesellten.
Sie hatten an dem Glastisch im Salon Platz genommen, Harro in einem Sessel, Bernie auf der Couch. Er servierte Kaffee.
„Du bist nicht in der Kirche?“, fragte er Harro.
„Gabriele ja. Ich schon länger nicht mehr!“
„Wegen der Steuer?“
„Nein! Weißt du, ich habe vor ein paar Jahren angefangen, mehrere Bücher über unsere europäische Geschichte zu lesen. Insbesondere über das Mittelalter und diese ganze Papstherrlichkeit. Rom, Avignon. Wie die Menschen über Jahrhunderte durch diesen verfluchten Ablasshandel regelrecht korrumpiert wurden. Geld gegen Vergebung der Sünden! Das hat die Kirche reich gemacht. Jeden technischen Fortschritt hat sie verunglimpft und bekämpft, weil nur richtig sei, was von Gottes Gnaden käme. Wir könnten heute schon viel weiter sein.“
„Wenigstens hat dann Luther dagegen gewütet. Das hat die Katholiken schwer zurückgeworfen.“
„Ja, das war so eine Art religiöse Revolution. Aber am Schluss ist er auch zum Umfaller geworden. Hat mit den vom Papst unterstützten Fürsten kollaboriert.“
„Am besten, wir lassen das Thema, Harro! Ich gehe auch nicht in die Kirche, vor allem wenn ich höre, was da an pädophilen Exzessen passiert ist und wie die Kirche solche Vergehen mit ihrer eigenen Gesetzgebung zuzudecken versucht.“
„Ja, recht hast du! Gehen wir lieber zu unseren Gesetzen über, Bernie! Denen gilt es, Genüge zu tun, obwohl es nie eine heile Welt geben wird. Wie viele Menschen werden fehlgelenkt durch Not, aber auch durch verführerische Chancen, die zunächst durch kleine Umwege am Gesetz vorbei wahrgenommen und – einmal gut gegangen – zur Gewohnheit werden? Natürlich ist die Gier eine Antreiberin für Verbrechen. Endlich zu den Reichen gehören! Andere plündern und morden aus purer Armut oder Angst, selbst umgebracht zu werden. All diese Motive und viele mehr stecken einfach in den Menschen. Das wird ewig so bleiben, genauso wie es immer eine Polizei geben wird.“ Harro nickte seinen eigenen Worten zu und ergänzte: „Warum haben die Afrikaner gejubelt, als sie sich endlich von den europäischen Kolonialmächten befreit hatten? Endlich konnten sie selbst die Dinge in die Hand nehmen. Ein Traum ging in Erfüllung. Und was ist daraus geworden? Heute stehen sie bei den Europäern vor der Tür. Erklär mir das!“
„Ich kann es nicht, Harro. Aber kann man Hilfe verwehren?“
„Natürlich nicht! Aber ich weiß, dass sich dadurch die Probleme verschärft haben. Die Kriminalität von heute hat sich um hundertachtzig Grad verändert. Nicht nur wegen der Afrikaner, wie du weißt. Es geht um viele Nationen, um Religionen und um Kulturen, die uns lange recht fremd waren. Damit ist schwer umzugehen.

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