Blutprobe

Blutprobe

Stefanie Sorella


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 174
ISBN: 978-3-99048-433-3
Erscheinungsdatum: 11.02.2016
Nachdem herauskommt, dass die Schwestern Natalie und Sarah als Babys adoptiert wurden, wird ihr „Vater“ entführt. Die jungen Frauen machen sich auf die Suche nach ihm - und ihren biologischen Eltern. Ein Sumpf aus Lügen, Verrat und Geheimnissen tut sich auf.
Unzertrennlich

Immer noch ist keine Ruhe im Kinderzimmer. Um halb neun hatte Maria die Kinder ins Bett gebracht. Mittlerweile ist es kurz vor Mitternacht. Seit nun mehr als drei Stunden wird gekichert und getobt. Bereits zum zweiten Mal stürmt Maria ins Kinderzimmer, um Sarah und Natalie noch einmal zu ermahnen, endlich schlafen zu gehen. Maria packt Sarah am Handgelenk und zerrt sie zurück in ihr Bett. Vor ein paar Monaten erst haben sie das Zimmer umgestellt, sodass die beiden Betten jeweils am anderen Ende des Zimmers stehen. Eigentlich wollten Maria und Thomas damit das abendliche Geschwätz der Kinder unterbinden. Doch die Umstellung der Möbel hat genau das Gegenteil bewirkt. Nun schleicht eines der Mädchen immer zu ihrer Schwester ins Bett. Es vergeht kaum ein Morgen, an dem die Schwestern nicht gemeinsam in einem der kleinen Betten aufwachen. Maria ist deshalb schon an ihren Mann mit der Bitte herangetreten, die Betten doch wieder zusammenzuschieben. Doch der möchte davon nichts wissen, sondern abends einfach seine Ruhe genießen. Darum ist Maria auch gerade bemüht, die strenge Mutter zu spielen und den Kindern mit Fernsehverbot zu drohen, um sie endlich zum Schweigen zu bringen und so ihren Gatten nicht aufzuregen. Würde es nach ihr gehen, so würde sie sich zu ihren geliebten Töchtern kuscheln und zusammen mit ihnen die ganze Nacht Unfug treiben.
Doch das würde Thomas alles andere als gutheißen. Daher spricht sie eine letzte Ermahnung aus und lässt die Tür hinter sich laut ins Schloss fallen. Sarah und Natalie sind schlau genug, den Ernst der Lage zu erkennen. Sie wissen, wann genug ist, und möchten ihre Mutter nicht böse machen. Also bleibt Sarah ausnahmsweise in ihrem Bett und wünscht Natalie nur noch leise Gute Nacht. Wenig später sind die Mädchen bereits eingeschlafen und endlich herrscht Ruhe im Hause Gartner. Nachdem sich Maria noch einmal vergewissert hat, dass ihre beiden Engel tief und fest schlafen, wünscht sie Thomas mit einem Kuss Gute Nacht und geht zu Bett. Thomas bleibt wie immer etwas länger wach, da er für den Spätdienst zuständig ist. Seit geraumer Zeit wurden die Öffnungszeiten des Versicherungsschalters erweitert, sodass immer ein Angestellter in der Zeit von sieben Uhr morgen bis acht Uhr abends anwesend sein muss. Sein Arbeitskollege Paul ist passionierter Frühaufsteher und übernimmt somit die Schicht von sieben bis 15 Uhr. Thomas stößt dann um elf Uhr vormittags dazu, um gemeinsam die bestbesuchte Zeit zu bewältigen. Die letzten paar Stunden schiebt er dann alleine Schlussdienst. Die Änderung seiner Dienstzeiten hat sich natürlich auch auf das Privatleben ausgewirkt. Früher hat die ganze Familie gemeinsam gefrühstückt. Nun übernimmt Maria das Frühstück mit ihren Töchtern alleine. Natürlich läuft das Ganze jetzt ruhiger ab, um den Vater ja nicht frühzeitig zu wecken. Und auch abends isst die Mutter nur mit den Mädchen, da Thomas erst spät nach Hause kommt. Die Mädchen sind dann meist schon bettfertig. Wenn Natalie und Sarah vor dem Fernseher sitzen, gesellt sich Maria oft zu ihrem Mann an den Küchentisch und leistet ihm beim Abendmahl Gesellschaft, sofern er einen seiner gesprächigeren Tage hat. Wenn er seine Ruhe haben möchte, so verschwindet Maria mit den beiden Mädchen im Kinderzimmer und liest ihnen eine Geschichte vor oder sie spielen noch eine Runde Karten.
An diesem Abend war wie bereits mehrmals die Woche Letzteres der Fall.

Gegen halb sieben morgens wird die Familie durch das Läuten des Telefons geweckt. Maria ist als Erste auf den Beinen und hebt ab. Es ist Anita, Thomas’ Mutter. Sie klingt vollkommen aufgelöst und Maria fällt es schwer, irgendetwas von dem, was sie sagt, zu verstehen. Sie versucht, Anita zu beruhigen, und bittet sie, erst einmal Luft zu holen und ihr dann in Ruhe zu erklären, was denn geschehen sei. Mittlerweile ist auch Thomas aufgestanden und steht nun neben seiner verwirrt dreinblickenden Frau. Maria reicht Thomas den Telefonhörer und verfolgt gespannt das Gespräch. Nachdem er aufgelegt hat, lässt er sich auf die Couch fallen und stützt den Kopf in die Hände. Maria streichelt ihm über den Rücken und fragt, was passiert sei.
Thomas berichtet, dass sein Vater einen Herzinfarkt gehabt hätte und ins Krankenhaus gebracht worden sei. Maria hat ihn noch nie so gesehen. Sie kennt ihn lange genug, um zu wissen, dass er kurz davor steht, die Fassung zu verlieren. Doch Thomas ist viel zu stolz, um vor seiner Frau in Tränen auszubrechen. Schnell geht er Richtung Schlafzimmer und bittet Maria, die Kinder fertig zu machen, er wolle ins Krankenhaus zu seinem Vater fahren. Maria tut wie ihr geheißen, weckt die Kinder und kleidet sie an. Sie schlüpft in Jeans und Pullover, nimmt die Kinder an die Hand und folgt Thomas zum Auto.
Im Krankenhaus angekommen, ist Siegfried zwar wieder bei Bewusstsein, doch die Ärzte geben ihm nur mehr ein paar Stunden zu leben. Seine blasse Haut hebt sich kaum vom Bettlaken ab. Das mittlerweile komplett grau gewordene Haar hängt strähnig zu beiden Seiten ab. Sein schweres Atemgeräusch und das Piepsen der verschiedensten Apparate um ihn herum scheinen den gesamten tristen Raum einzunehmen. Es ist bereits der zweite Herzinfarkt und die Überlebenschancen standen schon nach dem ersten sehr schlecht. Thomas’ Mutter Anita sitzt an seinem Bett und hält seine Hand, als ihr Sohn mit seiner Familie eintritt. Auch sie ist in den letzten Jahren rasch gealtert. Ihre letzte Dauerwelle scheint schon eine Weile her zu sein, der weiße Haaransatz ist gut zu sehen. Von ihrem einst so sonnigen Gemüt ist so gut wie nichts mehr übrig. Schildkrötenoma – so hat Natalie sie letztens genannt. Wie Anita so dasitzt, vornübergebeugt, die Schultern hängend, die Mundwinkel nach unten gezogen, kommen ihre Falten noch mehr zur Geltung und erinnern tatsächlich ein wenig an eine Schildkröte. Wenn man darüber nachdenkt, überlegt Maria, so hat sie sich tatsächlich auch einen Panzer zugelegt. Seit Siegfrieds erstem Anfall scheint niemand mehr an sie heranzukommen. Nicht einmal ihr Sohn. Thomas nimmt seine Mutter in die Arme und bittet Sarah und Natalie, ihren Großvater zu begrüßen. Er weiß, wie sehr Siegfried an seinen beiden hübschen Enkelkindern hängt. Sarah und Natalie nähern sich Händchen haltend und sehr zögernd dem Krankenbett. Als Sarah sieht, dass Natalie Tränen in den Augen hat, versucht sie, ihre kleine Schwester zu beruhigen, obwohl es ihr sehr schwerfällt, denn auch für sie ist es nicht leicht, ihren Opa mit so vielen Schläuchen und Nadeln überall zu sehen. Sarah ist zwar zwei Jahre älter als Natalie, aber dennoch mit ihren elf Jahren dieser Situation nicht gewachsen. Siegfried fällt es auch nicht leicht, seine geliebten Enkelinnen so traurig zu sehen. Er nimmt seine ganze Kraft zusammen und bittet die beiden, nicht traurig zu sein. Er als alter Knacker sei es doch nicht wert und egal, was passiere, er werde immer über sie wachen. Im Gegensatz zu seiner Frau hat sich Siegfried nur äußerlich verändert. Er ist immer noch der gleiche Witzbold, der mit Charme und Humor jedem ein Lächeln abgewinnen kann.

Das Atmen fällt ihm immer schwerer und er weiß, dass es nur noch eine Frage von Minuten ist. Schnell winkt er Thomas an sein Bett und informiert ihn über die wichtigsten Dinge, wo er das Testament finde, was für die Beerdigung zu beachten sei und wo er seine Sparbücher finde. Thomas will nicht glauben, dass es zu Ende geht, und bittet seinen Vater durchzuhalten. Doch alle im Raum spüren, dass es Siegfrieds letzte Minuten auf Erden sind.
Noch einmal bietet Siegfried seine ganze Kraft auf. Sein letzter Satz ist den beiden Mädchen gewidmet. Auch wenn sie zu diesem Zeitpunkt nicht dessen Bedeutung verstehen, so werden die Worte ihnen doch ewig im Kopf herumspuken:
„Ich habe es nie bereut, euch zwei Engel in unser Leben geholt zu haben!“



Zehn Jahre später

Die ersten Sonnenstrahlen erleuchten den Horizont. Die beiden Mädchen sitzen mit Fotoapparaten bewaffnet am Strand, um den schönen Sonnenaufgang über dem Meer zu dokumentieren. Sarah und Natalie haben es sich zur Tradition gemacht, in jedem Urlaub mindestens einmal den Sonnenaufgang zu erleben. Meist dauert es einige Anläufe, bis es klappt, dass sie es so früh morgens aus dem Bett schaffen. Da eine der beiden die letzten zwei Tage immer den Wecker vorzeitig abgedreht hatte, sind sie gestern Abend extra früh ins Bett gegangen. So zeitig zumindest, wie es möglich ist im Urlaub. Nach drei Cocktails hatten sie auch ihre Freunde dazu bewegen können, endlich die Bar zu verlassen und das Hotelzimmer aufzusuchen. Doch auch wenn alle bereits um halb eins im Bett waren, war es den beiden Herren heute Morgen doch noch etwas zu früh gewesen. So kam es, dass sich Sarah und Natalie zu zweit, bewaffnet mit ihren Kameras und einer Picknickdecke, auf den Weg zum Strand gemacht hatten. Nun, da sich die ersten Sonnenstrahlen zeigen, sind die beiden putzmunter. Für die Schwestern gibt es nichts Schöneres, als wenn der Himmel in zartem Rot erscheint und sich die hellen Strahlen in der Meeresoberfläche spiegeln.
Natalie hat bereits mehr als 30 Fotos geschossen, als der Feuerball endlich vollkommen aus dem Meer emporsteigt. Während der Nachthimmel hinter ihnen noch in einem dunklen Orange erscheint, strahlt der Horizont bereits hell vor ihnen. Die Welt um sie herum erwacht langsam zum Leben. Der erste Jogger nähert sich von links und der Bäcker an der Promenade öffnet seinen Laden. Sarah schafft es zuerst wieder auf die Beine, während Natalie noch die letzten Fotos knipst. Gemütlich machen sie sich auf den Weg zurück zum Hotel, als ihnen einfällt, dass heute der zehnte Todestag ihres geliebten Großvaters ist. Wie jedes Jahr möchten sie in der Kirche eine Kerze für ihn anzünden. Ihre religiöse Mutter hat ihnen das so beigebracht und in den letzten Jahren wurde es für sie eine Art Ritual. So möchten sie ihres Opas gedenken und zeigen, dass er immer noch einen Platz in ihren Herzen hat. Sie sind davon überzeugt, dass er immer ein wachsames Auge auf sie beide hat. Da sie nicht wissen, wo sie hier auf Kreta die nächste Kirche finden, erkundigen sie sich beim Bäcker, der gerade sein Gebäck in der Auslage drapiert. Er schickt sie nach Rethymnon, in die schöne Hafenstadt, in welcher sie gestern bereits die Cocktailbar besuchten.
Nach knapp zehn Minuten Fußweg gelangen sie an eine schöne, typisch griechische Kirche. Das weiße Gebäude zieren ein blaues Dach und ein kleiner Kirchturm. Die Türe steht offen und die Mädchen treten ein. Das Innere der Kirche ist so gar nicht vergleichbar mit einer katholischen Kirche zu Hause. Alles ist viel einfacher gehalten und nicht so protzig, wie es die Schwestern gewohnt sind. Sofort umgibt sie der Geruch von Weihrauch und Kerzenduft. Durch die bunten Fensterscheiben fällt ein blauer Schimmer ins Innere. Es gibt ein Hauptschiff und eine kleine Nebenkapelle, welche lediglich aus einem einfachen Holzaltar und einem kunstvoll geschnitzten Kreuz besteht. Der große Altar ist aus weißem Stein und trägt reiche Verzierungen. Das große Kreuz dahinter wurde aus hellem Holz gefertigt und kleine Engel aus dem gleichen Material schweben darum. Sarah ist noch immer ganz fasziniert von dem schönen Kreuz, als Natalie sie auf den kleinen Tisch im hinteren Bereich der Kirche aufmerksam macht. Als sie sich nähern, sehen sie darauf ein Schild: „Erleuchte für alle jene, die wir nie vergessen mögen“. Natalie nimmt eine der Kerzen aus der roten Box am Tisch und entzündet sie an einer der brennenden. Die Schwestern schließen die Augen, um kurz innezuhalten und an ihren Großvater zu denken. Danach platzieren sie die Kerze inmitten der anderen, bekreuzigen sich und verlassen die Kirche.

Als sie beim Hotel ankommen, ist es bereits acht Uhr morgens. Andreas und Mike sitzen gerade beim Frühstück. Sarah und Natalie gesellen sich dazu und beginnen mit der Tagesplanung. Seit Samstag sind sie bereits auf Kreta. Wie die letzten Tage möchte die Gruppe heute wieder mit dem Mietwagen die Insel erkunden. Ab morgen würden sie dann die letzten drei Tage entspannt nur Sonne und Meer genießen. Im Süden hatten sie gestern eine wunderschöne Bucht entdeckt, zu der sie jetzt noch einmal aufbrechen möchten. Andreas hat sich die Woche als Fahrer erklärt, Mike ist der Kartenleser und Natalie versucht sich als Urlaubsfotografin. Die Planung der Reise lag in Sarahs Hand und so war ihre Aufgabe nach dem Check-in im Flugzeug erledigt gewesen. Den Rest der Woche kann sie einfach nur noch genießen.
Am Strand angekommen, stürzen sich die Jungs gleich in die Fluten. Sarah und Natalie suchen sich ein schattiges Plätzchen, um ihre Handtücher auszubreiten und den Picknickkorb abzuladen. Auch die Schwestern möchten das Meer genießen, doch gehen sie es gewohnt etwas langsamer an als ihre Freunde. Zentimeter für Zentimeter gewöhnen sie ihren Körper an das kühle Nass. Da es erst Mitte Mai ist, hat das Meer noch nicht die angenehme Badetemperatur, welche Sarah vom Roten Meer gewöhnt ist. Nach einer gefühlten halben Stunde sind auch die Mädels im Wasser und zu viert genießen sie das Meer.
Gegen Nachmittag machen sich die Jugendlichen auf zu einer Taverne, um die griechische Küche zu genießen. Auf der Fahrt, wieder in Richtung Norden, legen sie noch einige Fotostopps ein. Die Insel ist wirklich ein Traum. So unglaublich vielfältig und landschaftlich äußerst bemerkenswert. Gerade zu dieser Jahreszeit leuchtet die Landschaft wunderschön grün.

Die Woche vergeht wie im Flug. Kaum angekommen ist auch schon wieder Samstag und der Heimflug steht bevor. Die Gruppe wird viele schöne Erinnerungen an diesen Urlaub mitnehmen und verspricht sich, wieder nach Kreta zu kommen. Die Heimreise empfinden die Schwestern immer als Prozedur. Zuerst zwei Stunden am Flughafen ausharren, dann zwei Stunden im Flieger auf die Landung und anschließend noch auf das Gepäck zu warten. Beim Hinflug nehmen sie dieses endlos lange Warten ja noch gerne in Kauf. Da herrscht noch Vorfreude und alle sind motiviert, eine tolle Zeit zu haben. Beim Retour möchte man einfach nur nach Hause und ist enttäuscht, dass der Urlaub schon wieder vorbei ist und man übermorgen bereits wieder im Büro sitzt.



Schicksalsschlag

Am Flughafen wartet Thomas auf seine beiden Töchter. Sarah und Natalie freuen sich riesig über die Überraschung, da sie gar nicht verabredet waren. Nachdem ihr Vater sie bereits zum Flughafen gebracht hatte, wollten die vier sich eigentlich für die Rückfahrt ein Taxi teilen. Für morgen Mittag waren sie dann bei ihren Eltern eingeladen, um von ihrem Urlaub in Griechenland zu erzählen.
Doch als sie nun in die Ankunftshalle treten, winkt ihnen Thomas bereits zu. Die Schwestern umarmen ihren Vater und berichten gleich von der wunderschönen Insel. Als sie merken, dass er ihnen nur zerstreut zuhört und sich zu einem Lächeln zwingt, spüren die Mädchen, dass etwas nicht stimmt. Auf die Frage, ob etwas passiert sei, erklärt Thomas, dass es um ihre Mutter gehe. So einfühlsam, wie Andreas ist, verabschiedet er sich von Sarah und verspricht, sie morgen anzurufen. Auch Mike gibt Natalie einen Kuss und meint, er würde sich einfach ein Taxi mit Andreas teilen. Thomas scheint erleichtert darüber zu sein und nimmt seine Töchter in den Arm. Während er sie zum Auto führt, versucht er, den Mädchen schonend beizubringen, was passiert ist.
Er sieht in ihnen immer noch seine kleinen Mädchen und nicht zwei erwachsene Frauen. Sarah ist mittlerweile 21 Jahre alt und Natalie wird in einem Monat 19. Beide stehen mit beiden Beinen im Leben und gehen ihren eigenen Weg. Doch in Momenten wie diesen sehnt er sich nach der Zeit zurück, in der alle vier noch unter einem Dach gewohnt haben. Zwar hat er es mit seinen Töchtern gut getroffen, denn immerhin kommen sie jeden Sonntag zu Besuch und er kennt ganz andere Geschichten von Freunden und Kollegen. Dennoch ist es nicht das Gleiche, als in einem gemeinsamen Haushalt zu leben.

„Es geht um eure Mutter. Sie ist vorgestern einfach zusammengebrochen. Ich bin gleich mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Die Ärzte haben bereits mehrere Tests durchführen lassen, um die Ursache zu erkunden. Die Ergebnisse stehen jedoch noch aus.“
Die ältere der beiden Schwestern reagiert als Erste. „Oh mein Gott! Und wie geht es ihr jetzt? Ist sie wohlauf?“
„Keine Sorge. Mittlerweile geht es ihr ein wenig besser und sie ist wieder bei Kräften. Doch solange die Ergebnisse der Tests noch nicht vorliegen, ist es schwer, irgendetwas zu sagen.“
„Können wir zu ihr?“
„Es ist fast Mitternacht. Ich glaube, heute macht es keinen Sinn mehr. Auch habe ich mich jetzt schon bei der Krankenschwester unbeliebt gemacht, da ich die Besucherzeiten nie einhalte. Aber morgen früh fahren wir gleich zu eurer Mutter ins Spital.“
„Denkst du, es ist etwas Ernstes, Papa?“
„Ach Natalie, deine Mutter ist stark. Was immer es ist, sie wird es schon schaffen.“
Die Mädchen beschließen aufgrund des Vorkommnisses, bei Thomas zu übernachten. Ihr früheres Kinderzimmer hat sich kaum verändert. Sie genießen den Anblick des verspielten, mädchenhaften Raumes, in welchem sie die schönen Jahre ihrer Kindheit verbracht haben. Die blassrosa Tapete und die dazu passende Borte mit Feenmotiven. Die beiden Betten, welche im linken Eck zu einem L zusammengestellt sind, zieren pink gestreifte Tagesdecken. Im Regal, links neben Natalies Bett, stehen immer noch ihre Kinderbücher. Ihr weißer Kleiderkasten mit den rosa Griffen dient jetzt als Stauraum für Handtücher, Bettwäsche und was ihre Eltern sonst so unterbringen müssen. Sarah steuert das Puppenhaus an, welches ihre Eltern ihr damals zu ihrem 10. Geburtstag geschenkt haben. Thomas hatte Stunden damit zugebracht, ein altes Regal in diese Traumvilla für Sarahs Barbies zu verwandeln. Es war wirklich toll geworden. Den Puppen hat es an nichts gefehlt. Wie gern hatte Sarah früher damit vor ihren Freunden angegeben. Es war ihr ganzer Stolz. Und wenn sie es jetzt so vor sich sieht, kann sie sagen, zu Recht. Jedes kleine Mädchen würde sich glücklich schätzen, dieses Puppenhaus ihr Eigen zu nennen. Vielleicht ist es an der Zeit, sich davon zu trennen, damit ein anderes kleines Mädchen ebenso viel Freude daran haben kann wie sie seinerzeit.
Anderthalb Jahre ist es jetzt her, dass die beiden Mädchen von zu Hause ausgezogen sind. Zu zweit in nur einem Zimmer wurde es trotz aller Schwesternliebe am Ende doch etwas eng. Und auch das Liebesleben der Schwestern war dadurch ziemlich kompliziert. Es stand jedoch rasch fest, dass die beiden auch weiterhin zusammenwohnen wollten. Und so kam es, dass sie sich gemeinsam auf Wohnungssuche machten und nur ein halbes Jahr später mit ihrer jetzigen Bleibe einen echten Glücksgriff taten. Zwei Schlafzimmer, eine große Wohnküche, ein Balkon – groß genug für einen Tisch, vier Sessel und drei Blumentöpfe – und das alles keine 15 Gehminuten von ihren Eltern entfernt.

Am nächsten Morgen machen sich die drei auf den Weg zum Krankenhaus. Als die Familie im Zimmer 351 ankommt, ist ihre Mutter nicht da. Eine finster dreinschauende Krankenschwester teilt ihnen mit, dass Maria gerade bei einer Untersuchung sei und in ein paar Minuten wieder zurück sein werde. Thomas wird gebeten, noch ein Formular auszufüllen, während Sarah es sich auf dem Sessel neben dem Bett bequem macht und Natalie nervös auf und ab geht.
Sarah sieht sich im Raum um. Maria liegt in einem Vierbettzimmer. Doch nur ein weiteres ist besetzt. Es dürfte gerade Besuchszeit sein. Die alte Dame, welche im Bett links hinten liegt, hat den Vorhang zugezogen und scheint zu schlafen. Das Zimmer wirkt ziemlich trostlos. Auch das Landschaftsbild und die blassgrünen Vorhänge können die schlechte Stimmung, welche Krankheit meist mit sich bringt, nicht vertreiben. Jedes Bett hat ein eigenes Nachtkästchen und einen Kleiderkasten, wo das Hab und Gut der Patienten verstaut wird. Auf dem Nachtkästchen ihrer Mutter steht ein gerahmtes Familienfoto, welches zu Weihnachten vor drei Jahren geschossen wurde. Sarah kann sich noch sehr gut an diesen Abend erinnern. Es gab Schweinebraten mit Semmelknödel und Sauerkraut. Nach dem Essen und der Bescherung haben sie gemeinsam Wii gespielt, um das neue Spiel zu testen, welches Natalie bekommen hatte. Ihre Erinnerungen werden durch das Öffnen der Türe gestört. Ihr Vater tritt ein, gefolgt von einer Krankenschwester, welche Maria im Rollstuhl vor sich herschiebt. Plötzlich wird es den Mädchen sehr schwer ums Herz. Sie hätten nie gedacht, ihre Mutter jemals in so einem Zustand sehen zu müssen. Maria hat dunkle Ringe unter den glasig wirkenden Augen. Ihr Haar steht ungekämmt in alle Richtungen. Ihre Wangen sehen eingefallen aus und tiefe Sorgenfalten zeigen sich auf ihrer Stirn. Erschreckend, was ein paar Tage im Krankenhaus anrichten können. Ihre Mutter ist kaum wiederzuerkennen. Sie sieht zehn Jahre älter aus als die Frau, die ihre Töchter vor einigen Tagen vor ihrem Urlaub verabschiedet hat.
5 Sterne
!!!!Spannend vom Anfang bis zum Ende!!!! - 09.03.2016

Ich habe das Buch quasi verschlungen und in einem durch gelesen!! Es war wirklich von Anfang bis Ende spannend und nie langweilig!! TOLL!!! Ich hoffe es kommen noch viele weiere Bücher von Stefanie Sorella!!

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