Verschiedenes aus dem Alltag

Verschiedenes aus dem Alltag

Erzählungen und Gedichte

Rigi Sternschnuppe


EUR 17,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 70
ISBN: 978-3-99048-127-1
Erscheinungsdatum: 13.08.2015
Das Werk mit seinen Kurzerzählungen skizziert Situationen aus unterschiedlichen Lebensstationen und Lebensbereichen, ist geprägt durch verschiedenste Charaktere, gewinnt oftmals ein komikähnliches Gefälle, und lässt den Alltag hautnah erleben.
Familienbande – Keine Tradition?

Die Tür wird aufgestoßen, Mark stürmt herein, keuchend steht er in der Küche. Knapp neun Jahre alt, klebt ihm das mittelblonde struppige Haar auf der Stirn. Das gelbe T-Shirt hängt verschmutzt an ihm herunter, Hosen und Sandalen sind blutverschmiert. Purpurnes Rinnsal ringelt sich über das Knie.
„Mutti, ich bin gefallen.“ Mark schaut schuldbewusst zur Mutter.
„Wie …“, die Mutter stockt und dreht sich vom Küchenschrank um, „… wie hast du das wieder fertiggebracht? Du solltest doch nicht mit dem Fahrrad fahren!“ Verärgert sieht sie Mark an.
„Ja, damit ich schneller wieder zurück bin“, entschuldigt er sich.
„Du weißt genau, dass Vati den Sattel noch nicht heruntergestellt hat. Wie kannst du damit überhaupt fahren?“
„Das macht nichts. Mit Vatis Fahrrad bin ich schon öfter gefahren.“ Mark versucht siegesbewusst zu lächeln.
„Das höre ich zum ersten Mal. Jetzt ab ins Bad mit dir, waschen und das Knie verbinden, Tante Lenchen kommt gleich zum Kaffee.“
„Au, mein Knie.“ Die Hose lässt sich nicht ausziehen.
„Beeil dich, damit wir fertig werden“, die Mutter ist nervös.
„Aber wie soll ich mein Knie beugen? Autsch!“
Die Mutter hilft und die Hose lässt sich ausziehen.
„Wo ist die Jodtinktur geblieben?“, ruft sie suchend.
„Nein, brauchste nicht, es heilt so viel schneller“, wehrt Mark ab.
„Heute scheinst du ja voll in Form zu sein, du hast nur Unsinn im Kopf.“
Mark lässt den Kopf hängen, er hatte gehofft, Anerkennung für seine Tapferkeit zu erhalten, aber die Mutter ist da leider ganz anderer Meinung.
Mark war bereits vor einer Dreiviertelstunde losgegangen und sollte lediglich zu Peter, seinem Schulkameraden, in der Nachbarstraße gehen. Aber das war ein ausgedehnter Ausflug geworden, jedoch nicht weil die Jungen sich so viel zu erzählen hatten, sondern weil Mark ein paar Runden mit dem Fahrrad gedreht und wahrscheinlich einige Kunststücke wie „freihändig fahren“ geübt hatte.
Er kann sich nie genug austoben, zerreißt eine Hose nach der anderen.
Frau Schulze ist darüber nicht sehr glücklich, kann aber nicht wirklich böse auf ihren Sohn sein.
Er ist gutmütig, hilfsbereit, wenn ich ihn brauche, denkt sie und ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Mark entgeht diese zarte Veränderung nicht, er hat seine Mutter nicht aus den Augen gelassen und sofort beginnt ein neuer Redeschwall.
„Ich freue mich auf mein Fahrrad, wenn Vati es in Ordnung gebracht hat. Darf ich dann immer mit dem Fahrrad fahren?“
Der Vater steckt den Kopf zur Tür herein. „Gibt es Kaffee?“ „Ja, bald“, antwortet die Mutter.
Vergeblich sucht sie im Apothekenschrank nach der Jodtinktur. „Wir hatten doch noch eine Flasche“, seufzt sie.
„Muss nicht sein, lass nur Mutti, es brennt viel zu sehr. Das kann gar nicht helfen.“ Mark macht eine schlaue Miene zur selbst ersonnenen Weisheit, beobachtet genau Mutters Kopfbewegungen vom Toilettendeckel aus. Dosen, Fläschchen, Pflasterrollen wandern aus dem Schrank. Das Gesuchte fehlt.
Mutters Haarsträhnen fliegen im Nacken sachte hin und her. Das hochgesteckte, braun gewellte Haar verliert die Form. Als sich die Mutter bückt, verschwinden Kopf und Schultergürtel, ein rundes Etwas ist nur noch zu sehen. Aber die gesuchte Flasche bleibt verschwunden.
„Nein, das gibt’s ja nicht, hier ist sie, sie ist heruntergefallen und lag hinter dem Wäschekorb.“
„Schade“, gestikuliert Mark abwehrend mit den Händen. Prophylaktisch kneift er Augen und Mund zusammen. Es folgt ein langes „Aaaaa“ und „Ohhhhh“. „Es reicht, es reicht!“ fluchtartig springt Mark auf. „Setz dich, ich bin noch nicht fertig.“
„Nee, bitte nicht noch mehr.“ Seine kurzen Haare sträuben sich in alle Himmelsrichtungen.
„Ich verbinde noch das Knie, sonst ist gleich alles wieder blutverschmiert.“ Marks dunkelblaue Augen verschwinden unter den Lidern. Gewöhnlich strahlen sie wie zwei Sterne, durchzogen vom weißen Netzmuster, das alles Interessante in der Welt widerspiegelt.
Endlich klebt die Mullkompresse. Schmerzgeprüft erhebt sich Mark langsam, er wagt das verletzte Bein nicht zu benutzen. „Wie soll ich denn laufen? Ohhhh“, jammert er.
Aber der Schmerz überlebt nur zwei, drei Schritte und Mark hüpft auf dem Flur zur Küche. Der Kuchen wartet.
Etwas verspätet sitzen dann alle am Kaffeetisch. Tante Lenchen hat es sich auf dem gepolsterten Stuhl bequem gemacht.
„Der Kuchen in eurem Hause bleibt ein Genuss. Wie du das immer schaffst“, bewundert Tante Lenchen Frau Schulzes Backkunst.
Die Mutter lächelt versonnen und legt jedem ein Stück Kuchen auf den Teller. Es klingelt.
„Erwartest du jemanden? Ich gehe schon.“ Herr Schulze ist auf dem Weg zur Tür und kommt kurze Zeit später wieder. „Gib doch bitte mal ein Stück Kuchen.“
„Was hast du vor, willst du etwa noch jemanden einladen?“
Herr Schulze verschwindet mit einem Stück von dem heiß geliebten Kuchen.
„Na, so was“, bemerkt selbst Tante Lenchen.
Der Vater kehrt zurück und setzt sich ohne ein weiteres Wort auf seinen Stuhl. Sie beginnen in gemütlicher Runde zu plaudern, und ehe sie sichs versehen haben, ist über eine Stunde vergangen, dass sie am Kaffeetisch gesessen haben.

„Vati, wie ist es mit der marxistisch-leninistischen Philosophie? Wir haben jetzt alle gleiche Rechte, das ist doch nur im Sozialismus so, oder?“
Erwartungsvoll richtet Sandra ihre Augen auf den Vater.
„Ja, das war schon eine prima Idee, die Marx hatte. Aber es gibt Länder, die soziales Denken umgesetzt haben und dennoch nicht zum kommunistischen Lager zählen. Konfuzius in Asien zum Beispiel oder Platon in Griechenland, schon vor unserer Zeitrechnung. Sie konnten ihre Ideen nur periodisch umsetzen, so auch heute. Bessere Bedingungen sind von vielen Umständen abhängig. In Schweden leben sie heute in sehr sozialen Verhältnissen.“
„Günther, du belastest das Kind“, wirft die Mutter dazwischen.
„Davon reden wir nur hier unter uns, das ist nicht für draußen gedacht, das weiß Sandra. Irgendwo muss man seine Gedanken schließlich äußern dürfen.“
„Ist Marx dann der intelligentere Reformer?“ Sandra hängt ihren Gedanken nach.
„Das kann man so sagen. Marx’ Philosophie ist durchdachter, er war ein studierter, kluger Mann, während später Lenin und Stalin ihre Macht skrupellos durchsetzten, und Gorki sagte es treffend: ‚Sie sind vom Gift der Macht infiziert.‘“

Erneut klingelt es an der Tür. „Aber jetzt gehe ich“, sagt Frau Schulze. Herr Schulze geht ihr nach. „Ihr bleibt hier“, wendet er sich an die Kinder.
„Was ist heute bloß los?“, fragen sich die Zurückgebliebenen.
Mark lauscht am Schlüsselloch. „Sie schleppen etwas Schweres.“ Jetzt telefoniert Vati. Sie sind so aufgeregt.
Die Mutter kommt zurück. „Was macht ihr an der Tür? Marsch, zurück! Es tut mir leid für dich, Tante Lenchen.“
„Ist denn etwas Schlimmes passiert?“, fragt diese erstaunt.
„Stell dir vor, der Mann, der vor zwei Stunden schon mal klingelte, es war ein Bettler, der aber Nahrung ablehnte, er wollte Geld. Jetzt ist er wieder da, liegt krampfend vor der Tür, ob echt oder simuliert, bleibt dahingestellt, wir haben den Krankenwagen gerufen, sie kommen gleich.“
Für einige Zeit lassen sie den Fremden unbeobachtet im Wohnzimmer auf der Couch liegen, bis schließlich der Notarzt eintrifft und ihn mitnimmt.
Aber das Ungeheuerliche stellt sich im Nachhinein heraus: Im Wohnzimmerbüfett verwahrt Frau Schulze immer das Haushaltsgeld auf, es sollte bis Ende des Monats reichen, nun ist und bleibt es verschwunden. Das lässt nur eine Vermutung zu: Es war der Bettler.
So gab es manch ungewöhnliche Stunde in dem kleinen Pfarrhaushalt.
Die Verhältnisse waren bescheiden, jedes Geldstück wurde von Frau Schulze gezählt und sorgfältig notiert, damit es für den ganzen Monat reichte.
Gelegentlich kamen Päckchen aus dem Westen oder getragene Kleidung von der Verwandtschaft und von Freunden der Eltern oder auch Lebensmittel, es war immer etwas Besonderes.
Rot konnten sie es im Kalender anstreichen, wenn die Mutter ein Eis spendierte oder ein Besuch im Kino genehmigt wurde, aber jeder Film durfte nur einmal gesehen werden, und wenn er auch noch so spannend war.

Die Sommerferien nahen. Frau Schulze verkündet: „Wir werden nächste Woche eine Wanderung starten.“
„Nee, dazu habe ich keine Lust, nicht schon wieder auf den Inselsberg, da waren wir erst im letzten Jahr.“
„Wir suchen uns diesmal einen anderen Weg, das wird mehr Spaß machen.“
„Nur wenn es denn unbedingt sein muss“, Sandra schmollt.
Zur Geselligkeit lädt Herr Schulze einen Bekannten ein, ein leidenschaftlicher Wandergeselle.
Frau Schulze packt alle notwendigen Utensilien und den so begehrten Kuchen ein. Als Tagesproviant soll der selbst gemachte Kartoffelsalat mit Wiener Würstchen dienen, belegte Brote für zwischendurch, Äpfel aus dem eigenen Garten, Tee und Wasser für den Durst.
Einen Regenschutz für jeden, falls die Wetterprognose eintreffen sollte. Gedruckte Wanderkarten gab es zu jener Zeit noch keine, die Erfahrung zählte oder gelegentliche, verwitterte Wanderhinweisschilder, ganz zu schweigen von irgendwelchen Markierungen der einzelnen Wege. Und bei denen, die auszumachen waren, wusste man nie genau, führte der nun zum Inselsberg oder zur Teufelsschlucht?

Aber das alles stört nicht weiter, unser sechsköpfiger Trupp zieht in bester Stimmung bei wolkenverhangenem Himmel los.
„Die verziehen sich bald, das wird ein strahlender Tag heute, ihr werdet sehen“, lässt Vater Schulze verlauten.
Herr Wagner, dem die Wandererfahrung in Muskeln und Knochen steckt, erzählt ohne Ende: „Hexentanzplatz, Heuberg, Inselsberg, dorthin bin ich unzählige Male gewandert.“
„Na, dann kann ja nichts mehr schiefgehen“,sagt Frau Schulze zuversichtlich.
In dem Moment beginnen Regentropfen vom Himmel zu fallen. Die Stimmung der Kinder sinkt, aber Vater Schulze bleibt optimistisch.
Frau Schulze holt die Regencapes hervor, die sich jeder überzieht, außer Herrn Schulze, der meint: „Lass nur, das lohnt sich nicht.“
Und er soll recht behalten, nach einem kurzen Fußmarsch verschwinden die dunklen Wolken, ein Sonnenstrahl stiehlt sich hindurch, bricht die Wolkenwand. Erhaben wölbt sich der siebenfarbige Bogen über den Köpfen unserer Wanderer, als wollte er Ost und West miteinander vereinen.
„Sieh mal, dort hoppelt ein richtiger Hase“, staunt Dörte, das jüngste der Kinder. Sie kauert sich ins Gras und bewundert die federnden Sprünge des Langohrs. Dörte streift sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ihre dicken Zöpfe fallen in den Nacken.
Der Vater hockt sich neben sie. „Dort kommt das Weibchen, es ist sogar ein Pärchen.“ Behände verschwinden die Hasen im Gebüsch.
Die anderen sind bereits weitergegangen, Sandra und Mark wollen schnell ans Ziel, den Marsch hinter sich haben. Dann gibt es endlich etwas zu essen.
Herr Wagner empfängt die beiden Nachzügler „Sehen Sie, wie viel Holz hier abgetragen wurde? Es ist entsetzlich.“ „Und alles für die Russen, in den Osten wird es abtransportiert, als ob Sibiriens Wälder nicht groß genug sind.“ „Ja, das sind unsere Kriegstribute, die werden im vollen Umfang abkassiert.“

„Wir können eine Abkürzung nehmen“, Herr Schulze bleibt stehen, „hier geht auch ein Weg lang.“
„Und der führt auch zum Inselsberg?“ Sandra bleibt skeptisch.
„Ich glaube, wir kommen eher vom Weg ab“, gibt Herr Wagner zu bedenken.
„Ach was, das ist eine Abkürzung, der Weg führt schräg hindurch in die Richtung, in die wir wollen, und wir kommen schneller an.“
Gesagt, getan. Unser Trupp biegt vom Wege ab.
Aber Herr Wagner behält recht, der Weg führt in eine falsche Richtung, wird streckenweise schwer begehbar, von irgendwelchen eventuellen Wegweisern ganz zu schweigen. Die Kinder stöhnen, eines mehr als das andere. „Nie wieder gehe ich mit euch wandern, das ist eine Qual, alles andere als Spaß!“, beklagt sich Sandra.
Das Schicksal gestaltet sich aber doch noch human, nach einer Stunde Fußmarsch zeigt sich ein Hinweisschild, von dort sollen es nur noch 45 Minuten sein. Aufatmend gehen die sechs mühsam weiter.
Tatsächlich lässt sich bald die Spitze des Inselsberges, der Funkturm, erkennen. Erschöpft schleichen sie die letzten Meter, das Gepäck fällt neben der Bank zu Boden. Mark aber hält es nicht lange am Platz aus. Er rennt drauflos und hat bereits das Beste entdeckt: ein Fernrohr. „Dort kannst du bis in den Westen sehen“, verkündete er. „Ja schön, dann schau mal.“ „Aber es kostet was, 20 Pfennige.“
„Also jetzt essen wir erst mal und anschließend gehen wir alle und jeder schaut durchs Fernrohr“, entscheidet der Vater.
„Dann müsst ihr schnell essen.“
„Lass uns jetzt mal in Ruhe, Junge.“
Aber mit seinem Würstchen in der Hand rennt Mark schon wieder los.
„Bleib jetzt hier, bis du fertig gegessen hast, es ist noch genug Zeit“, mahnt die Mutter.
Nach einer Stunde des Ausruhens und der leiblichen Stärkung brechen die sechs auf.
Frau Schulze stellt mit Erschrecken fest: „Es geht auf fünf Uhr zu, schaffen wir es bis zur letzten Bahn?“
„Nur keine Panik.“ Herr Schulze sieht es wie gewohnt optimistisch.
Der Weg ins Tal wird jedoch lang und länger, mal sieht es so aus, als wären sie am Ende angelangt, dann reiht sich wieder eine lange Schlucht an die andere – ein schlängelnder Abstieg.
Die Abendsonne schimmert inzwischen rot-golden durch die hohen Wipfel.

Zum Zeitvertreib erzählt Herr Wagner aus seinem inhaltsreichen Leben.
„In früheren Zeiten, als die Mauer noch nicht so dicht war wie heute, bin ich viel in der Welt umhergereist, das nächtliche Leben in der Wüste ist nicht so ruhig oder langweilig, wie man denkt, das ist ein außerordentliches Treiben, Schleichen, Suchen und Packen und Verzehren. Das muss man erlebt haben.“
„Toll, das möchte ich auch gern mal, vielleicht wenn ich so alt bin wie du; junge Leute dürfen ja nur aus politischen Gründen und unter politischen Vorwänden ins Ausland reisen.“
„Ja, das ist sehr schade, hoffentlich ändert sich mal etwas daran; so viel Lüge, wie heutzutage propagiert wird, kann nicht lange existieren. Wenn ich mit meinem Chef über Derartiges rede, dann zeigt er mir einen Vogel. Für das Ausland und andere Kulturen hat er keinen Sinn, Hauptsache die politische Meinung stimmt.“
„Das finde ich auch immer so grässlich, dieses einseitige Denken. Kommunismus über alles und danach Disco, Kino oder Kneipen, weiter reicht der Horizont nicht. Den meisten genügt es.“

Die Abendglocken beginnen zu läuten, als die sechs in die Bahn steigen. Bei Dämmerung erreichen sie ihr Zuhause.
„Ich gehe gleich ins Bett, Mutti, ich möchte nichts mehr essen.“ Mark ist erschöpft und müde. Er ist der Erste, der schläft, die Mutter streicht zärtlich über sein Haar.
Zum Glück sind noch Ferien und die Kinder können ausschlafen. Mark, sonst ein Frühaufsteher, schläft allerdings ungewöhnlich lange.
Die Wanderung hat ihn strapaziert, denkt die Mutter, bis sie gedämpfte Stimmen oder Töne aus seinem Zimmer hört.
Da steht sie postwendend im Zimmer. Mark hört Radio, liegt bäuchlings auf seinem Bett. Die Stimmen stammen vom Kofferradio.
„Wer hat dir das erlaubt?“, fragt die Mutter erbost. Gewöhnlich steht das Radio in Vaters Arbeitszimmer, der Mutter verschlägt es fast die Sprache.
„Ich dachte, jetzt hört sowieso keiner Radio, da habe ich es mir mal genommen, wollte es nur kurz ausleihen“, entschuldigt sich Mark.
„Jetzt raus aus dem Bett, aber ein bisschen plötzlich. In Zukunft fragst du Vati, ob du das darfst. Das Radio ist noch neu.“
Der Vater nimmt es mit Humor, für ihn ist es lediglich wichtig, mittags die Nachrichten zu hören.

Die Tage nehmen ihren gewohnten Lauf, bald gehen die Sommerferien zu Ende.
Sechs Wochen später, Frau Schulze bereitet das Abendbrot vor, klingelt es. Eine ungewohnte Zeit für unangekündigten Besuch.
Frau Milde, Marks Klassenlehrerin, steht vor der Tür. Erstaunt blickt Frau Schulze auf.
„Es tut mir leid, Sie jetzt noch zu stören, aber ich komme wegen eines Problems.“
Frau Milde, Anfang dreißig, beliebt bei Schülern und Eltern für ihr pädagogisches Geschick, folgt Frau Schulze ins Wohnzimmer.
„Nehmen Sie doch bitte Platz. Das Problem hängt hoffentlich nicht mit unseren Kindern zusammen.“
Frau Schulze kann sich nichts Derartiges vorstellen.
„Doch, das ist es ja gerade, Mark ist das Problem.“ Frau Milde macht eine Pause.
„Mark und Klaus, Sie kennen den Jungen vielleicht, Klaus Wallerer, die Mutter ist alleinerziehend, der Junge gern zu Streichen aufgelegt. Die beiden haben sich Streichhölzer besorgt. Sie spielten im Klassenraum mit offenem Feuer. Die Mitschüler johlten begeistert, den Klassenraum erfüllte eine Dunstglocke mit Qualm und Gestank. Sie hatten Verschiedenes abgebrannt. Das ist verboten und gefährlich.“
Frau Schulze verschlägt es die Sprache. Sie hat Mühe, auch nur ein Wort davon zu glauben.
„Was geschah dann?“, bringt sie mühsam hervor.
„Die beiden Jungen bekamen einen Eintrag ins Hausaufgabenbuch, der von den Eltern unterschrieben werden sollte. Mark tat es nicht, die Seite fehlte am nächsten Tag in seinem Hausaufgabenbuch.“
„Das ist ja unglaublich, was Sie da erzählen“, entgegnet Frau Schulze empört.
„Mark hatte eine imposante Entschuldigung dazu: ‚Meinen Vater hat die Wut gepackt, als er es las, und er riss die Seite heraus.‘“
„Wenn Sie es mir nicht selbst erzählen würden, ich könnte es nicht glauben.“
„Deshalb musste ich heute Abend noch kommen, damit wir das klären.“
„Vielen Dank für Ihre Mühe. Wir werden mit Mark sprechen.“
„Seien Sie nicht zu hart, Mark ist ein lieber Junge, der gern Dummheiten im Kopf hat.“
„Aber das geht zu weit: Eltern und Lehrer belügen, nein, das geht zu weit, er wird eine gehörige Strafe bekommen.“
„Er ist ein guter Kerl, der öfter mal übers Ziel hinausschießt. Sprechen Sie einfach in Ruhe mit ihm.“
„Haben Sie herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, und besonders für Ihr Verständnis.“
Frau Schulze fühlt sich niedergeschlagen, ist erschrocken. Sie liebt Ordnung, geregelte Abläufe, eine wohlsituierte Familie und erlebt nun diesen krassen Zwischenfall.
Beim Abendessen wird heute wenig gesprochen. Mark ahnt, dass ihm etwas blüht.
Später reden Vater und Mutter über den Vorfall, diskutieren lange. Mark bekommt für eine Woche Hausarrest, für ihn die härteste Strafe.
„Das wird hoffentlich fruchten“, schließt die Mutter das Gespräch ab.
Am letzten Tag darf Mark als kleine Freude Radio hören, doch welchen Sender er hört, entgeht den Eltern.

Das könnte ihnen auch gefallen :

Verschiedenes aus dem Alltag

Martin Coprax

Der Selbstfahrer

Buchbewertung:
*Pflichtfelder