Nachrichten aus der Provinz

Nachrichten aus der Provinz

Kurzgeschichten und Gedichte

Reto Mathis


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 56
ISBN: 978-3-99048-514-9
Erscheinungsdatum: 21.04.2016
Komische, tragische, melancholische, humorvolle und bissige Kurzgeschichten und Gedichte aus der Feder von Reto Mathis - ein Leckerbissen für defensive Optimisten, verpackt in eine geistreiche, fantasievolle Sprache. Ein echtes Lesevergnügen!
Blau

Es trafen sich zwei Blaufuchs-Rüden
bei Vollmond just um Mitternacht –
Graugänse flogen blau nach Süden,
wer hätte das gedacht.


Enrico Bambola und Einstein

Erich Bäblers außergewöhnliche Begabung zeigte sich bereits im Vorschulalter. Die spielerische Leichtigkeit, mit der er alles visualisieren konnte, was immer er wollte, ließ seinen späteren beruflichen Werdegang schon früh erahnen. In seiner Freizeit saß er meist selbstvergessen mit seinem Malblock am See. Am liebsten zeichnete er Libellen. An solchen Tagen kam er regelmäßig zu spät nach Hause, und wenn ihn seine Mutter fragte, wo er denn gewesen sei, antwortete er stolz: „Ich habe am See gearbeitet.“ Seine Schulzeit brachte er, ohne sonderlich zu glänzen, hinter sich und seine anschließende Lehre als Flachmaler schloss er zur Zufriedenheit seiner Eltern ab. Nun durfte er endlich an die Kunstgewerbeschule. Dort blieb er allerdings nicht lange. Sein Lehrer war ein kompromissloser Verfechter der abstrakten Kunst und zeigte für Erichs Libellenmalerei, in der er es mittlerweile zur wahren Meisterschaft gebracht hatte, kein Verständnis. „Jetzt erst recht!“, sagte er sich und schuf unzählige Libellenkunstwerke, ohne dafür aber die verdiente Anerkennung zu finden. Als ihn seine Eltern nicht mehr finanziell unterstützen konnten, schien er am Ende zu sein, doch brachte ein Besuch im Kunsthaus die große Wende. Dort hatte ein Künstler ein paar Fernsehapparate, ein paar Pappkartons und eine Menge Unrat lieblos zusammengewürfelt. Das Ganze verkaufte er als Installation unter dem Titel „Zerfall D“. Die breitspurigen Erklärungen des Künstlers zu seinem Müllhaufen retteten diesen nicht nur vor der Putzequipe, sondern gaben dem Mann den Status eines genialen kritischen Zeitgenossen, der den Normalsterblichen dabei hilft, die Wahrheit zu erkennen. Da lag viel Kohle drin. Erich Bäbler begriff schnell und legte sich den Künstlernamen Enrico Bambola zu. Dann verpackte er einen Stein, der ihm schon lange im Wege stand, möglichst unsorgfältig mit Abdeckband, kritzelte ein paar mathematische Formeln darauf und nannte ihn „Einstein“.
Seit er keine Libellen mehr malt und mehr über seine Werke spricht, als er an ihnen arbeitet, feiert er große internationale Erfolge. Zurzeit soll gerade seine neuste Arbeit „Zweistein“ in New York zu bewundern sein. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich dabei um zwei unsorgfältig mit Abdeckband verpackte und mit mathematischen Formeln bekritzelte Steine handelt.


Veleno, der Giftzwerg

Veleno war im ganzen Zwergenwald für seinen Jähzorn und seine Streitsucht bekannt, weshalb ihm seine Artgenossen, wenn immer möglich, aus dem Weg gingen. Selbst Riesen zogen es vor, einen weiten Bogen um ihn zu machen, um sich sein Gekeife zu ersparen. Es gab nämlich gar nichts, über das er nicht grundsätzlich anderer Meinung als sein Gegenüber war. Kompromisslos und unüberhörbar beharrte er auf seinem Standpunkt und verteidigte diesen jeweils bis aufs Blut.
Velenos aggressives Verhalten lässt sich vielleicht damit erklären, dass er frustriert und verbittert war, weil er sich in jungen Jahren die Messlatte zu hoch gelegt hatte, als er zum Riesen wachsen wollte, was Zwergen bekanntlich verwehrt bleibt. Möglicherweise war aber auch sein maßloser Fliegenpilzkonsum für seine Bösartigkeit verantwortlich.
Längst hatte er sich damit abgefunden, allein zu sein, und da er niemanden mehr zum Streiten fand, stritt er umso heftiger mit sich selbst.
So vergingen die Jahre, ohne dass sich irgendetwas Nennenswertes geändert hätte. Aber auch an Giftzwergen geht die Zeit nicht spurlos vorbei. Gerade als er wieder einmal vehement seine Stimme gegen sich selbst erheben wollte, klang diese ungewollt sanft und auch die gütigen Worte, die er wählte, schienen nicht seine eigenen zu sein; ja, es gelang ihm nicht einmal mehr, seine Fäuste zu ballen. Mit einem Fliegenpilztee wäre er vermutlich wieder richtig in Fahrt gekommen, aber die Vorräte waren aufgebraucht und den beschwerlichen Fußmarsch ins Fliegenpilztal ließen seine Gelenke nicht mehr zu.
So saß er denn hilflos da und wartete auf die Weisheit. Er hatte gehört, dass sie gelegentlich auch Giftzwerge besuche, um ihnen die Einsamkeit erträglicher zu machen. Aber die Weisheit kam nicht. Nun würde nur noch der Tod zu Besuch kommen, und der Tod war ein ungeliebter Gast und ein schlechter Zuhörer. Dabei wollte Veleno noch viel erzählen, zum Beispiel die Geschichte vom guten Weg, den er selbst so kläglich verfehlt hatte.


Hunde

„Hunde sind schön, aber sie machen viel Arbeit.“ Räto sprach aus Erfahrung.
Er sah in ihnen eine akute Gefahr für seine Freiheit und mochte sie deshalb nicht besonders. Kaum waren sie stubenrein, musste man ständig mit ihnen zum Tierarzt, da sich bereits die ersten Altersbeschwerden bemerkbar machten. Ungebunden fühlte man sich nie mehr und nun musste man neuerdings auch noch mit jedem Welpen in die Hundeschule, um den geforderten Hundehalterausweis zu erwerben. Vergeblich hatte er auf diese Nachteile hingewiesen und seine Familie von einem „Elektro-Hund“ zu überzeugen versucht. „Elektro-Hunde“ seien zugegebenermaßen nicht besonders kuschelig, dafür aber umso einfacher zu halten und durch Batterie-Entnahme jederzeit ruhig zu stellen.
Nun war er bereits zum fünften Mal unfreiwilliger Hundebesitzer. Jeden Tag und bei jeder Witterung kämpfte er sich mit seinem Vierbeiner mürrisch durch die Landschaft, um dann von allen immer wieder hören zu müssen, wie gut ihm das tue. Mit dem Tierarzt war er längst per Du, sah er ihn doch weit häufiger als seine Frau. Trotz allem war ihm der Hund unterdessen derart ans Herz gewachsen, dass sich seine Familie vermehrt für „Elektro-Hunde“ zu interessieren begann.


Traumferien

Spätestens seit der Einführung der Kehrichtsackgebühr ist auf vielen Briefkästen ein Kleber mit der Aufschrift „Werbung, nein danke!“ angebracht. Wir haben bis heute darauf verzichtet, weil ich in der bunten Reklameflut immer wieder Bildmaterial für meine Collagen finde.
Neulich – auf der Suche nach ein paar Zentimetern „Paradiesblau“, mit denen ich mein allzu düster geratenes Bild „Dezemberseele“ etwas heiterer gestalten wollte – blätterte ich in einem Hochglanzkatalog, der „Traumferien für Reisehungrige“ versprach. Das Angebot war so riesig, dass es mir schien, als ob es kein Fleckchen Erde mehr geben würde, welches den Freizeitgestaltern noch nicht in die Hände gefallen war.
Das gewünschte Blau suchte ich vergebens, da auf jede unverbaute Bucht in grellem Orange das „Super-Spar-Angebot für Sonnenanbeter“ gedruckt war.
Ich musste mir das Blaue also selbst zusammenmischen. Schlecht gelaunt holte ich meine Acrylfarben hervor, wusste ich doch, dass die Herstellung von „Paradiesblau“ nebst größtem Geschick sehr viel Geduld erfordert und nur in ganz seltenen Fällen gelingt. Nach den zu erwartenden Fehlversuchen schaffte ich gegen drei Uhr morgens das Wunder und legte mich zufrieden ins Bett, um noch ein wenig zu schlafen, bevor mich unser Hund Tango zum täglichen Morgenspaziergang nötigen würde.
Der Hochglanzkatalog blieb nicht ohne Wirkung: Wenn Traumferien Ferien sind, von denen man träumt, dann hatte ich sie nun, diese Traumferien! Ich träumte, ich hätte am Traumferien-Wettbewerb teilgenommen, ohne auf die klein gedruckten Teilnahmebedingungen geachtet zu haben. Diese besagten, der Gewinner sei verpflichtet, sein Leben lang Gratisferien an den immer gleichen vier Traumdestinationen zu verbringen. Hatte ich bis anhin noch nicht einmal einen Gratiseintritt für ein Gospelkonzert heimischer Laienmusiker gewonnen, so gewann ich ausgerechnet jetzt den Hauptpreis. Von nun an musste ich im Herbst auf Eisbärenjagd nach Alaska, im Winter auf Foto-Safari nach Kenia, im Frühling mit den „Happytune Ramblers“ auf Kreuzfahrt in die Karibik und im Sommer war ich stets im Hotel „Tutto Sole“ in Strepoli, wo ich am Privatstrand täglich etwa acht Stunden gelangweilt vor mich hinschwitzte.
Die Rüttimanns aus Greifensee verbrachten ihre Sommerferien seit Jahren im gleichen Hotel und waren von nun an nicht nur meine Zimmernachbarn, sondern wichen selbst am Strand nie von meiner Seite, um ihr ganzes, ödes Leben lückenlos vor mir auszubreiten.
Seit mir Sonja und René das „Du“ aufgezwungen und mich spontan zu ihrem Tischgenossen auserkoren hatten, fand ich auch im Speisesaal keine Ruhe mehr und so braucht man sich nicht lange zu fragen, wieso ich den Sommer fortan „Rüttimann“ nannte.
Mit René wäre ich ja gerade noch zurechtgekommen, da er – im Gegensatz zu Sonja – dachte, bevor er sprach. Leider kam er nur dann zu Wort, wenn sie das Bedürfnis hatte, kurz auf die Toilette zu gehen, um sich frisch zu machen, was regelmäßig im Zweistundentakt der Fall war. Man hätte seine Uhr danach stellen können. Immerhin blieb dadurch etwas Zeit, um sich von ihrem grellen Sopran zu erholen und das eine oder andere über René zu erfahren. So hörte ich beispielsweise, dass er sich seine Pensionierung ganz anders vorgestellt hatte. Am liebsten wäre er zu Hause, würde dicke Abenteuerbücher lesen, ab und zu einen gemütlichen Jass klopfen, zum Fischen auf den See fahren oder die Ruhe in seiner Jagdhütte genießen. Aber seine Frau hatte eben andere Pläne, und die setzte sie gnadenlos durch.
Sonja brauchte in der Regel etwa eine halbe Stunde, um sich eine neue Schicht Make-up aufzutragen. Für einmal stand sie jedoch bereits nach fünf Minuten wieder da und meinte ganz aufgeregt: „René, Schätzeli, ich hab’s. Wir gehen im Herbst auf Eisbärenjagd nach Alaska. Du brauchst wieder einmal eine neue Herausforderung und Rotwild hast du nun ja schon mehr als genug geschossen. Im Winter machen wir eine Foto-Safari in Kenia. Dort lernst du vielleicht endlich, mit der Digitalkamera umzugehen, die ich dir zu Weihnachten geschenkt habe. Sag doch auch einmal etwas. Immer muss ich alles alleine organisieren!“
René wusste, dass es zwecklos war zu widersprechen, weshalb er bloß abwesend nickte, als Sonja den Rest des Jahres für ihn plante: „Du solltest in deinem Alter nicht mehr zum Fischen auf den See fahren. Es ist besser für deine Gesundheit, wenn wir den Frühling in der Karibik verbringen. Ich habe da an eine richtig schöne Kreuzfahrt gedacht. Auf der ‚little heaven‘ soll es unzählige Möglichkeiten geben, den Tag aktiv zu gestalten: deck walking, deck talking, deck shopping, deck golfing, deck birding usw. Total kreativ, nicht? Und während ich beim Masseur oder bei der Kosmetikerin bin, kannst du im Tanzkurs deine Schritte wieder etwas auffrischen. Ich möchte mich dann in der Galaballnacht nicht mit dir blamieren müssen! Übrigens, rate mal, welches Orchester da aufspielt? – Richtig, die ‚Happytune Ramblers‘, mein Lieblingsorchester. Was für ein glücklicher Zufall!“
Kurz bevor René im Liegestuhl zusammenbrach, erwachte ich schweißgebadet.
Für einmal war ich unserem Hund Tango äußerst dankbar, dass er mich aus diesem Traum gerissen und vor weiteren Urlauben mit Sonja und René befreit hatte.
Ab und zu lerne ich etwas aus gemachten Fehlern. „Werbung, nein danke“ steht jetzt auch auf unserem Briefkasten. Von Sonja und René wurde ich seither verschont und bleibende Schäden hat dieser Albtraum auch nicht angerichtet. Nur auf das Wort „Traumferien“ reagiere ich gelegentlich noch etwas ungehalten.

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