Herr Lehrer, sind Sie traurig?

Herr Lehrer, sind Sie traurig?

Band 2

Martin Herzig


EUR 18,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 390
ISBN: 978-3-99064-510-9
Erscheinungsdatum: 04.03.2019
In zwei Bänden beschreibt ein Lehrer seinen oft mühsamen Weg zu einer Schule, die ihre Kinder auf ein Leben als freie, fähige Menschen vorbereitet. Auch sein Einsatz für den Schutz von Mensch und Natur ist eine spannende Herausforderung.
Eine strenge Zeit begann. Ich musste außer meinen Fünftelern noch drei andere Klassen kennenlernen. In der Sechsten fiel es mir leicht, denn ich unterrichtete sie in Geografie, damals noch mit ph geschrieben, Zeichnen und Religion und sah sie täglich. Sie ließen sich auch leicht begeistern, wenn man ihnen etwas zutraute. Als in der Geografie der Schweiz die Pässe auf dem Programm waren, nannte ich keinen Einzigen. Weil gerade die Tour de Suisse lief, lautete eine Frage: „Morgen radeln sie von Bellinzona nach Chur. Sucht auf der Karte die Pässe, die sie überwinden müssen!“ Ein eifriges Studium begann und schon bald fragte Roger: „Dürfen sie nur über einen Pass?“ Ich sagte, die Organisatoren wechselten mit langen und kürzeren Etappen ab, man könne also verschiedene Routen suchen. So erhielt der San Bernardino an der Tafel Gesellschaft von Lukmanier, Gotthard, Oberalp, Nufenen, Furka und nach der Frage, ob sie auch ein Stück weit durch Italien fahren dürften, von Splügen, Maloja, Julier, Albula und Flüela. In einer eigenen Tour durften die Schüler dann weitere Pässe suchen. Im Zeichnen malte die Klasse alle Kantonswappen. An der 1. Augustfeier vor dem Schulhaus hingen sie dann hinter dem Redner. Großrat Malermeister Meyer freute sich und benutzte die farbenfrohe Reihe als Einstieg. So vielfältig wie die Fahnen seien die Kulturen und es sei eine wichtige Aufgabe, diese zu pflegen und zu bewahren für die kommenden Geschlechter.

Auch der Religionsunterricht bereicherte die Geografie. Eine Schweizerkarte zeigte mit blauem Hintergrund die protestantischen Kantone und mit Rot die katholischen. In der Klasse waren zwanzig Schüler protestantisch, fünf katholisch und eines mohammedanisch. In der Religionsstunde erzählten die Kinder, wie es in ihren Kirchen zuging und welche Feiertage es gab. Gespannt lauschte die Klasse den Worten von Aisha, der Iranerin. Bruno erkundigte sich nach der Kleidermode. Er habe in einem Buch Frauen gesehen, die ganz verschleiert waren. Aisha nickte: „Ja, meine Großmutter trägt immer ein Kopftuch, wenn sie das Haus verlässt. Aber ich kam mit fünf Jahren in die Schweiz und durfte unverschleiert ins Freie. Ich kann euch einige Schleier mitbringen.“ In der nächsten Stunde durften die Mädchen ausprobieren, wie man sein Gesicht verhüllt. Ihr Vater war Zahnarzt und die Familie fiel nicht auf durch die Kleidung. Aisha aber wurde später Ärztin. Der Schule blieb sie verbunden, denn nach einigen Jahren als Oberärztin im Inselspital zog es sie zurück ins Dorf. Sie eröffnete eine Praxis, und obwohl die Dorfältesten an ihren Stammtischen im Bären und in der Sonne beteuerten, sie würden nie einen Fuß in eine Weiberpraxis setzen, füllte sich das Wartzimmer rasch. Nach einigen Jahren wählte sie der Gemeinderat sogar zur Schulärztin. Das Verständnis für andere Religionen wurde auch mit eigenen kleinen Aktionen geübt. Eines Morgens warteten Angela und Marlies vor der Tür. Sie teilten mir stolz mit, sie seien zusammen an einer Messe gewesen und an einem Gottesdienst. Marlies war protestantisch und Angela katholisch.

Mit der 7. Klasse war es schwieriger. Obwohl ich kein naturwissenschaftliches Studium hinter mir hatte, übertrug man mir in dieser Klasse die Naturkunde. Ich erfuhr später, dass sich bei der Verteilung der Lektionen niemand um dieses Fach beworben hatte. Die zwei Naturkundelehrer Marcel und Viktor hatten ein weiteres Realfach abgelehnt, da sie schon überlastet waren. Auch stand die Klasse im Ruf, undiszipliniert und faul zu sein. Der Lehrplan bot eine reiche Auswahl an Themen. Ich wählte „Vögel und Wildtiere unserer Heimat“. Um die Klasse neugierig zu machen, bereitete ich mit den Schülern in der ersten Woche eine Exkursion vor. Vorher beschrieb ich dem Klassenlehrer Marcel mein Vorhaben. Er lachte: „Das gibt eine Katastrophe, du kannst froh sein, wenn du alle wieder im Schulhaus hast. Und wie willst du die Schüler dazu bringen, um halb fünf in der Früh zu erscheinen? Zwingen kannst du sie nicht! Und die interessieren sich nicht für Schmetterlinge und Wildschweine. Die haben anderes im Kopf.“ In der ersten Stunde stellte ich mich vor und ließ einmal gefaltete dünne Kartons mit den Namen verteilen. Einige drehten sie mit der leeren Seite gegen mich. Ohne ein Wort ging ich durch die Klasse, drehte die Kärtchen und schaute ihre Besitzer an. Dann öffnete ich die Tafel. Da stand: ein Morgen im Wald. Darunter folgte ein Zeitplan mit Besammlung 04.30 beim Schulhaus, der nötigen Ausrüstung mit Rad, Windjacke, Frühstück. Überrascht lasen die Schüler meine Botschaft. Marlies fragte: „Was machen wir dort?“ „Wir hören das Konzert der Vögel, schauen zu, wie die Sonne aufgeht, beobachten Rehe und Hasen, vielleicht auch einen Fuchs und setzen uns dann um ein Feuer zum Frühstück“, sagte ich. Nun hagelte es Fragen. Ob man eine Wurst bräteln dürfe und ob man Stiefel brauche, was man mache, wenn es am Morgen regne, und ob der Hund auch mitdürfe. In einem lebhaften Gespräch wurde alles geklärt. Die letzte Frage kam von Bernhard: „Muss man da kommen? Die Schule beginnt ja erst um sieben.“ Alle Augen richteten sich auf mich und Bernhard schaute sich stolz um. Ruhig erklärte ich, dass niemand mitmüsse, dass es aber schön wäre, alle dabeizuhaben. „Eure Klasse gehört nicht nur hier im Zimmer zusammen. Ihr wisst es von euren Schulreisen, wie man sich später erinnert und einander davon erzählt. Wie schade, wenn eines fehlt“, schloss ich. Noch einmal meldete sich Bernhard: „Lehrer, ich habe nicht gern Würste. Kann man auch Spiegeleier kochen?“ Ich lächelte: „Natürlich, aber vergiss die Pfanne nicht!“ Nun öffnete ich die zweite Tafel mit dem Schulwandbild „Unser Reh“. „Vieles wisst ihr schon“, munterte ich die Schüler auf. Die Antworten bewiesen mir, dass die Klasse ihren zweifelhaften Ruf verdiente. Nach einigen guten Antworten folgten andere, die mich provozieren sollten und die ihre Absender mit beifälligem Grinsen beschenkten. „Das Reh hat vier Beine“, sagte einer und sein Bankkollege nahm diesen Stil auf: „Das Reh frisst Gras.“ Ein pausbackiger Junge, er hieß Peter, verkündete: „Rehe sind dumm. Die Jungen bleiben liegen, wenn man mäht, und lassen sich zerschneiden.“ Ich begriff, dass es keinen Sinn hatte, wie üblich ein Inventar des bisherigen Wissens aufzunehmen. Deshalb unterbrach ich und schaute die letzten drei Buben nacheinander an: „Man sagt nicht Beine, das wäre zu plump. Und das mit dem Gras ist falsch. Von Gras allein würde das Reh sterben. Wir werden sehen, wie reichhaltig seine Speisekarte ist. Rehe sind nicht dumm. Die Jungen, sie heißen Kitze, können noch nicht flüchten. Ihre einzige Chance gegen den Fuchs oder ausgerissene Hunde ist deshalb, sich absolut still zu halten. Nur nützt das gegen eure Mähmaschinen nichts. Um sie zu retten, habe ich an der vorherigen Stelle mit meiner Klasse die Wiesen abgesucht. Wir werden auch versuchen, einem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Eine Ziege von der Größe eines Rehs hat eine Tragzeit von 150 Tagen. Die Rehgeiß jedoch trägt 300 Tage.“ Ich bemerkte, dass die Klasse unsicher wurde und sich fragende Blicke kreuzten. Normalerweise hätte ich jetzt auftauchende Fragen gesammelt und ergänzt. Diesmal verzichtete ich noch auf die Mitarbeit der Schüler, bereitete selbst eine Liste von Fragen zum Reh vor und ließ sie in der nächsten Lektion ins Heft schreiben. In einem Brief unterbreitete ich den Eltern unser Vorhaben.
Es war ein kalter, aber klarer Morgen, als ich kurz vor halb fünf vor dem Schulhaus vom Rad stieg. Aus der Dunkelheit traten drei Mädchen und gaben mir die Hand. „Wie seid ihr erwacht?“, fragte ich. Marietta lachte: „Die Mutter stellte zwei Wecker, aber ich hätte sie nicht gehört.“ „Mich weckte der Vater, aber ohne Wecker. Er kann erwachen, wann er will“, sagte Monika. Und Maya berichtete, dass ihr Vater Bäcker sei und schon in der Backstube stehe. Weitere Lichtlein strebten dem Schulhaus zu und ich gab Marietta den Auftrag, zu zählen. Als Bernhard vom Rad stieg, gab es ein Gelächter, denn aus dem Rucksack ragte der Stiel einer Bratpfanne. „Vierundzwanzig!“, zählte Marietta, „jetzt fehlt nur noch Walter.“ „Da kommt er!“, rief Toni, „zum Glück, er bringt mir eine Zervelat aus seiner Metzgerei. Hast du sie?“ „Natürlich, und ganz frisch, deine auch, Eugen“, sagte Walter und stieg ab. Ich gab noch die Fahrtformation bekannt. Käthi und Ruth führten das Feld an, alle in Zweierkolonne, ich bildete den Schluss. Den zwei Mädchen schärfte ich ein, höchstens eine Radlänge vorauszufahren und nicht mit einem Ruck zu bremsen, wenn ich rufe. Mein erstes „Halt“ kam vor dem Kanal. Ich stieß das Rad an die Spitze, legte einen Finger an die Lippen und schlich ans Ufer. Dort spähte ich abwärts und winkte, vorzurücken. Ohne ein Wort folgte die Schar und schwenkte seitwärts. Dunkle Klumpen glitten durchs Wasser, hielten an, drehten sich und schwammen zielstrebig abwärts. Vom Weiher her sausten schnelle Schwingen und über uns zogen reißenden Fluges große Vögel mit weißen Streifen in den Flügeln. Weiter unten landeten sie im aufklatschenden Wasser. „Stockenten“, sagte ich leise, „wir fahren weiter bis zur Baumgruppe.“ Es war ein ganzes Wäldchen von Kirschbäumen am Rand einer weiten Mulde. Heute breiten sich dort über viele Hektar die Papierfabrik und die Großmetzgerei aus. Und daneben verläuft die Autobahn. Ich hielt an und deutete hinaus ins Weite. Verdutzt erkannten die Schüler kleine Gruppen von dunklen Punkten. „Sind das alles Rehe?“, fragte Jörg ungläubig. „Ja, ihr könnt sie zählen, und gebt die Feldstecher weiter“, sagte ich. Ein eifriges Suchen begann. „Siebenundzwanzig sind es“, meldete Peter, „vor dem Wald sieht man auch noch ein paar Grüppchen. Schade, die Straße geht mitten durch ihre Weide.“ Ich wies auf einen Grasweg, der die Wiesen in weitem Bogen umschlug. „Wir wollen sie nicht verjagen.“ Ein Grauspecht begleitete uns mit seinem Lachen und ich hielt eine Hand ans Ohr, als wollte ich lauschen. Hoch oben segelten zwei Bussarde und laut schallte ihr Katzenschrei. Ich deutete hinauf und nahm mir vor, im Heft die Flugbilder von Bussard, Rot- und Schwarzmilan darzustellen. Am Waldrand stellten wir die Räder in eine Reihe. Ich winkte die Schar heran. Leise sagte ich: „Gut seid ihr gefahren und man hörte fast nichts. Macht so weiter, wir pirschen uns jetzt zur Waldecke vor.“ Nach wenigen Schritten schon hielt ich an und wies hinaus. Drei Hasen hoppelten im Acker auf uns zu. Plötzlich machte einer kehrt, richtete sich auf und schlug rasend schnell auf seinen ebenfalls auf den Hinterkeulen stehenden Kollegen los. Dieser wehrte sich, sprang zur Seite und alle drei wirbelten durcheinander. Gleichzeitig erstarrten sie, warteten und wieder begann ein wildes Spiel. Schließlich wurde es einem zu bunt und er lief in weiten Sätzen dem Wald zu. Meine Begleiter standen mäuschenstill. Ein Dutzend Schritte vor uns erkannte Mümmelmann die Gefahr, schlug einen Haken und fuhr neben uns ins Holz, gefolgt von den Kameraden. Ich schlich weiter und blieb am Rand eines Weges, der im Wald verschwand, stehen. Im blassen ersten Licht streckten drei Rehe ihre Köpfe in das Kraut. Die Schüler drängten vor und die Rehe verschwanden. Plötzlich schraken wir alle zusammen: Ein lautes, abgehacktes Bellen dröhnte aus dem Dickicht. „Ein Hund!“, sagte Marietta, „so früh schon im Wald?“ Ich schüttelte den Kopf: „Nein, ein Reh, das sich fürchtet.“ Rasch schritt ich weiter, schaute auf die Uhr und nickte. Genau um diese Zeit hatte ich vorgestern auf die Sonne gewartet. An der Waldecke machte ich das Zeichen für Halt. Allein bog ich ums äußerste Haselgestrüpp. Da lag sie vor mir, die Ebene, und darüber das erste Rot. Gleich würde es stärker, ins Orange und Gelb wechseln und gleißend würde der Rand der Sonne erscheinen. Ich beschloss, kein Wort zu sagen, bis sie voll über den fernen Hügeln stand. Ohne zurückzuschauen, winkte ich und fast lautlos schoben sich die Kinder neben mich. Sie verfolgten wie gebannt das Schauspiel, und erst als die riesige Scheibe voll am Himmel stand, regten sie sich. „Verrückt, Wahnsinn, das habe ich noch nie gesehen! Und wie schnell das ging!“ Walter schüttelte den Kopf: „Was da alles passiert, wenn wir schlafen!“ Dreißig Jahre später, an einem schönen Frühlingsmorgen, wartete der Fünftklässler Stefan vor dem Lehrerzimmer auf mich: „Herr Freudiger, am Sonntagmorgen schauten wir den Sonnenaufgang am Waldrand, dort, wo Sie ihn meinem Vater gezeigt haben, es war geil!“, berichtete er. Der Vater war Walter. Jetzt aber wies ich in die Baumwipfel und legtet die Hände hinter die Ohren. Die Köpfe hoben sich und wieder sah ich staunende Augen. Unsichtbar hatte das Vogelkonzert begonnen. Viele Stimmen erfüllten den Frühlingswald. „Das ist wie im Tierpark Dählhölzli in der großen Volière“, rief Käthi. Begleitet vom Orchester über uns, schoben wir die Räder auf eine kleine Lichtung und stellten sie an die Randstämme. „Wir brauchen Holz!“ Ich wies auf die Feuerstelle, die geschützt durch einen Kreis geschwärzter Feldsteine auf ein munteres Feuerchen wartete. „Toni, Ueli, ihr bleibt hier, brecht die Äste und schichtet die feineren und die gröberen an zwei Haufen“, befahl ich. Die Klasse schwärmte aus und bald füllten sich die Stapel. Ich holte mir einige dürre Fichtenzweige und legte die sperrigen Ästchen so hin, dass überall Lücken waren. Darüber baute ich mit feinen Zweigen eine Pyramide. Diese deckte ich mit stärkeren Aststücken. „Jetzt könnt ihr anzünden!“, sagte ich. „Ich habe eine Zeitung!“, rief Eugen. „Wir versuchen es ohne, los!“, sagte ich. Eugen und Toni kauerten sich hin und strichen Zündhölzchen an. Mit den kleinen Flämmchen näherten sie sich den dürren Nadeln. Die ganze Klasse verfolgte die winzigen Feuerzünglein und viele „Oh, Jetzt, Ja“ begleiteten das Aufflammen des ganzen Astwerks. Die Vorderen wichen zurück und auf meinen Wink legte Eugen dickere Aststücke in die Flammen. „Ihr zwei legt noch einmal nach und bewacht das Feuer. Wir brauchen Glut. Wir gehen unterdessen noch einmal an den Waldrand“, sagte ich. Ohne Räder pirschten wir auf einem gewundenen Pfad zum Waldrand. Einige Male hielt ich an, ließ aufschließen, horchen und erklärte einige Vogelstimmen und Sänger. Am Waldrand blieb ich, gedeckt durch niedrige Tännchen, stehen und winkte, links und rechts aufzuschließen. Schräg vor uns zogen drei Rehe mit gesenkten Köpfen, ab und zu aufwerfend und sichernd, ihrem Einstand zu. „Fuchs!“, flüsterte eine Stimme neben mir. Wir folgten Käthis ausgestrecktem Arm. Richtig, über einen geeggten Acker schnürte Reineke. Plötzlich erstarrte er, schlich sachte weiter, machte einen Luftsprung, die Schnauze bohrte sich in die Erde, tauchte heftig schüttelnd auf und deutlich sah man die Beute: eine große Maus. Eilig strebte der Jäger der Waldecke zu und verschwand. „So, ihr habt auch ein Frühstück verdient, ihr geht jetzt zum Feuer, leise braucht ihr nicht mehr zu sein“, sagte ich. Unter lustigem Schwatzen und Lachen gingen sie vor mir her. Ich schnitt noch ein paar Haselruten und am Feuer wurde ich bestürmt mit „Darf ich eine haben zum Bräteln?“ und „Mir auch, bitte!“. Bald trafen sich die Spieße mit den Würsten über dem Feuer. Bernhard aber setzte seine Pfanne in die Glut. Rasch verteilte sich ein Stück Butter und sorgfältig schlug er drei Eier auf und ließ sie hineingleiten. Bald saßen alle in Grüppchen in der Lichtung, schmausten und berichteten von ihren Abenteuern mit Wildtieren und Vögeln. Als es Zeit wurde, aufzubrechen, zeigte ich, wie man mit einem dicken Ast die Glut zerklopfte und um die Steine jedes Ästchen und Dürrblatt wegklaubte. Dann ließ ich nach Abfällen suchen, packen, und als alles ordentlich auf weitere Gäste wartete, schickte ich die Mädchen voraus zum Waldrand: „Dort wartet ihr und geht, wenn nötig, aufs Freiluft-WC“, sagte ich lächelnd. Als die Gruppe verschwunden war, riet ich den Buben, die nach dem reichlichen Teegenuss das Pissoir brauchten, ihre Flüssigkeit über die sterbende Glut abzulassen. Unter großem Gelächter und scharfem Zischen wurde dieser Rat befolgt. Nach einem letzten forschenden Blick deutete ich vorwärts und bald standen wir vereint am Waldrand. „Ihr könnt frei fahren bis zur Kanalbrücke. Vielleicht seht ihr unterwegs noch etwas!“, lautete mein Befehl und grüppchenweise fuhren sie los.
Auf der Brücke trafen wir wieder zusammen. Aufgeregt berichteten sie von weiteren Rehen, von einem großen, grünen Vogel, der sie ausgelacht habe, und einem anderen, der in der Luft mit schnellen Flügelschlägen stillgestanden sei. Und drei oder vier Mal habe hoch am Himmel ein Vogel gesungen, immer der gleiche. „In der nächsten Stunde hört ihr, wem ihr begegnet seid, und auch einige Vögel werden uns besuchen. Ihr habt euch heute Morgen sehr gut benommen, ich danke euch! Und macht den ganzen Vormittag so weiter! Jetzt fahren wir in Zweierkolonne ohne Lücken dem Schulhaus zu! Anführerinnen sind Marianne und Irene. Ich mache den Schluss!“ Zehn Minuten vor dem Läuten war der letzte Siebentklässler im Schulzimmer.
In der ersten Pause beschwerte sich Kollege Grau, die Schüler seien schläfrig und ohne mitzumachen in seiner Geschichtsstunde gesessen. Dabei hätten doch gerade die Schwabenkriege begonnen. Marcel schnalzte mit der Zunge: „In der nächsten Stunde habe ich mit ihnen Mathematik. Ich werde sie fecken und wecken!“ Vor unserer nächsten Stunde legte ich in eine Schublade des Lehrerpults die Präparate von Grün- und Grauspecht und Lerche. Ich hatte sie von Max ausgeliehen und auch seine Tonbänder von Lerche, Specht und Drosseln erhalten. Mit dem Gerät trat ich ein, steckte ohne ein Wort das Kabel an und das Jubellied der Lerche füllte den Raum. „Das ist der Vogel, den wir auf der Heimfahrt gehört haben, genau so hat er gesungen“, meldete sich Anna. Ich nahm die Lerche aus der Schachtel und stellte sie auf den Fenstersims. Maya staunte: „So klein ist sie? Aber das Singen hörten wir ganz deutlich.“ Jürg nickte: „Ich habe sie gar nicht mehr gesehen, so hoch flog sie, aber hören konnte man jeden Ton.“ Nach einem kurzen Gespräch über das Brutgebiet im baumlosen Feld und den großen Abstand der verschiedenen Nester standen an der Tafel die Stichworte „Bodenbrüter“ und „Markieren des Reviers durch Gesang.“ „Jetzt kommt die Stimme, die euch ausgelacht hat“, kündigte ich an. Ein lautes Lachen erfüllte den Raum und gleich folgte aus dem Versteck im Pult der Urheber: ein Grünspecht. Nach meiner Anweisung, dass nur der Sockel berührt werden dürfe, wanderte er von Pult zu Pult, begleitet von einem Gespräch über Wohnort, Nahrung und Trommeln. Mit den Hinweisen „Höhlenbrüter, Markierung durch Trommeln, sogar auf der Blechhaube von Telefonmasten, Meißelschnabel, Stützschwanz“ bereiteten wir den Hefteintrag vor. Ich beschrieb noch den verwandten Grauspecht und spielte seine Stimme vor. Rasch flatterten die Beobachtungen durchs Zimmer: „Leiser, immer tiefer, zuletzt langsamer.“ Nach meiner Aufforderung, die Singtafel nach vorn zu drehen, spielte ich die zwei Spechte nacheinander und ein paar Schüler durften die Stimmen auf die Notenlinien kritzeln. „In der nächsten Stunde seht ihr dann den Vogel, der in der Luft auf der Stelle flatterte, und auch den Bussard. Ihr werdet auch die Drosseln hören und sehen“, sagte ich, „jetzt schreiben wir ins Heft, was ihr wissen müsst.“

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