Der Diktator

Der Diktator

Im Schutz des Westens

Hasan Denis Kalkan


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 456
ISBN: 978-3-99064-688-5
Erscheinungsdatum: 12.08.2019

Leseprobe:

Vorbemerkung

Auch wenn die Erzählungen in dem Buch mehr oder minder der soziopolitischen Entwicklung der letzten sechzig Jahre des Landes, dem dieses Buch gewidmet ist, entsprechen, wurden sie doch mit Fantasien und Fiktionen ausgeschmückt, so wie es die Romankunst erfordert. Dass der Verfasser dieses Buches als ein laizistischer Demokrat und Humanist einiges von dem Erzählten als Student und dann als Akademiker selbst erlebte bzw. am eigenen Leibe erfuhr, beeinträchtigt keineswegs die Neutralität und Objektivität des Buches.
Der Verfasser, der sich aufgrund seines Studiums und seiner Ämter im Türkischen Staat als Landeskenner betrachtet, hat durch seine späteren Lebensumstände und Tätigkeiten auch das soziopolitische System des Westens durchblicken können. Was die Geschehnisse im Roman anbetrifft, hat er sich nicht von Emotionen leiten lassen. Er hat sich so weit wie möglich der Wahrheit verpflichtet, wie ihm sein Gewissen vorschrieb, auch hinsichtlich der Fiktionen.
All diejenigen, die die jüngste dramatische Geschichte ihres Landes, nämlich der Türkischen Republik, kennen und auch zum Teil die soziopolitische Entwicklung im Nahen Osten in der gleichen Zeitspanne verfolgt haben, werden kaum Schwierigkeiten haben, das Erzählte im Geiste noch einmal zu erleben.
Dies gilt auch für die humanistischen Intellektuellen der westlichen Welt, die sich mit der soziopolitischen Entwicklung der jüngsten Geschichte des Nahen Ostens einigermaßen beschäftigt haben. Auch sie werden sich in dem Buch, das zum Teil einem Klagelied über das Land gleichkommt, zurechtfinden können.
Das ist ein Roman, in dem die Fakten und Fiktionen ineinanderfließen. Mit anderen Worten ist es eine Fiktion der Wirklichkeit.

Der Verfasser



Zum Gedenken an die aufklärerisch-humanistischen
Denker und Philosophen, die durch die Jahrhunderte hindurch versucht haben, die Menschheit aus der theokratischen und materiellen Sklaverei, damit
auch aus dem eigenen inneren Kerker zu befreien …



Nicht derjenige ist der Gefangene,
dessen Hände und Füße in Ketten liegen,
sondern derjenige, der in seinem inneren Kerker lebt …



ERSTER TEIL
Die Zeit der arglosen Träume


KAPITEL EINS

„Vater“, sagte der Junge mit einer ernsthaften Miene, „unser Geschichtslehrer erzählte gestern in der Klasse, es sei nicht bewiesen worden, dass das Grab von Eyüp al Ansari in der Eyüp Moschee sei.“
„Mein Sohn“, entgegnete der Vater sichtlich verärgert, „was dein Lehrer gesagt hat, interessiert mich gar nicht! Du musst wissen, dass die Knochen von diesem Heiligen in dem Türbe der Eyüp-Moschee begraben sind, der tagtäglich von unzähligen Muslimen besucht wird.“
Der Junge vermochte dem zornigen Blick des Vaters standzuhalten, wenn auch nur sehr kurz. Dann wandte er seinen Blick mit einem Gefühl des verborgenen Stolzes den Männern von der Nachbarschaft zu, die an diesem Spätnachmittag zu Besuch gekommen waren. Da sein Vater Mustafa Efendi, der vor Jahren aus einer fernen Provinz Anatoliens nach Istanbul gezogen war, in einer großen Textilfabrik als Vorarbeiter tätig war und wegen der Schichtarbeit tagsüber die meiste Zeit schlafen musste, sahen seine Freunde und Nachbarn ihn kaum in dem Kaffeehaus der Siedlung. Wenn sich aber eine günstige Gelegenheit anbot, verpassten sie es nicht, ihn aufzusuchen und mit ihm beim Tee über Gott und die Welt zu reden.
Im kleinen Wohnzimmer saßen drei Männer auf dem Kanapee und der Vater mit anderen zwei Männern auf der Couch. Zwischen Couch und Kanapee befand sich ein niedriges, längliches Tischlein, auf dem die Teekanne, Zuckerdose und Gläser standen. Der Junge saß auf einem der Holzstühle an einem Tisch an der Wand, an dem seine jüngeren Geschwister ihre Schulaufgaben machten und lernten; sie waren zu dieser Zeit draußen und spielten mit ihren Spielkameraden auf einem leeren und staubigen Grundstück der armen Siedlung. Jedes Mal, wenn der Erstgeborene vom Internat nach Hause kam, brachte er einige Bücher und Hefte mit, um angeblich am Wochenende bestimmte Schulaufgaben zu machen. Dies diente in der Tat eher der Zufriedenstellung der Eltern, vor allem des Vaters. In Wirklichkeit galt seine Vorliebe dem Fußball. Für sein Talent, für sein Geschick war er schon mit fünfzehn in dem kleinen Fußballclub des Stadtteils bekannt. Mit großer Leidenschaft lief er hinter dem Ball her, wovon der Vater gar nicht begeistert war, weil er nichts vom Fußball hielt. Er hatte sogar eine Abneigung gegen den Fußball.
Der Junge spürte plötzlich ein starkes Bedürfnis, die
Anerkennung der Männer zu gewinnen, auf deren Freundschaft sein Vater einen großen Wert zu legen schien. Er dachte, er könnte dies nur erreichen, wenn er seinen Lehrer verteidigte, den er achtete und hochschätzte. Auf der anderen Seite aber ahnte er, dass dieses widerspenstige Benehmen wie gewöhnlich nicht ohne Konsequenzen bliebe, sogar dass es ihn teuer zu stehen kommen würde. Daher war er nicht ganz entschlossen, ob er dies tun oder lieber lassen sollte. Plötzlich fasste er den Mut. Zumindest wollte er es darauf ankommen lassen. Den Blick zu Boden gerichtet, fuhr er fort: „Aber der Lehrer sagt, einer Legende nach, als die Armee unseres Propheten das Machtzentrum von Byzanz, nämlich Konstantinopel, belagerte, sei der Fahnenträger des muslimischen Heeres, Eyüp al Ansari, bei den Kämpfen vor der Stadtmauer gefallen und zum Märtyrer geworden. Er sei wahrscheinlich irgendwo vor der Stadtmauer begraben worden.“ Nach kurzem Zögern fügte der Junge dann hinzu: „Eyüp al Ansari sei einer der beliebtesten Muslime bei Allah, weil unser Prophet gesagt haben soll, ‚Gesegnet sei jeder, der für die Eroberung Konstantinopels kämpfen würde.‘ Er sei schließlich an der ersten Belagerung als Fahnenträger unseres Propheten mit aller Kraft seines Glaubens beteiligt gewesen.“
„Mein Sohn“, sagte der Vater mit einem müßigen Seufzen, „die Lehrer studieren nur die Geschichtsbücher, die vom Nationalen Schulministerium gedruckt und amtlich anerkannt worden sind. Du sollst solchen Büchern keinen Glauben schenken, weil sie mit dem Islam nichts zu tun haben. Dein Lehrer muss zuallererst die Geschichte unserer Religion richtig lernen und dann darf er solche Aussagen machen.“
Der Junge glaubte, in der Stimme des Vaters einen milden Ton wahrgenommen zu haben. Doch irrte er sich. Sein Vater war im Augenblick damit beschäftigt, den Männern erneut frischen Tee einzuschenken, daher war sein strenger Blick dem Jungen verborgen geblieben. Durch seine falsche Einschätzung fühlte er sich plötzlich erwachsen und stark. In dem Augenblick war er in so einem berauschenden Gefühlsausbruch, dass er nicht in der Lage war, die Folgen seines Hochmutes abschätzen zu können.
„Vater, glaubst du wirklich, dass du alles besser weißt als der Lehrer, der jahrelang die Schulen besucht und studiert hat?“ Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, als seine Mutter plötzlich im Wohnzimmer erschien, um die Teekanne in die Küche zu tragen, damit die Gäste, wie es die Tradition vorschrieb, mit frischem Tee versorgt wurden. Sie hatte ihr Kopftuch enger gezogen als üblich, weil man männliche Besucher im Haus hatte, auch wenn diese die Bekannten von der Nachbarschaft waren. Sie schien die Gespräche durch die halb offene Küchentür mitbekommen zu haben, daher war sie in Sorge um ihren Sohn. Als sie jedoch den letzten mutigen Satz aus dem Munde ihres Sohnes hörte, war sie mehr als besorgt, ja, sie war wahrlich erschrocken. Bevor sie mit der Teekanne in der Hand hinter der Küchentür verschwand, warf sie ihrem Jungen mit liebevollen, aber traurigen und ängstlichen Augen einen flüchtigen Blick zu. Als wollte sie ihn vor dem herannahenden Sturm warnen, als wollte sie ihm die Worte zuflüstern: „Mein Junge, gib Acht, du spielst wieder mit dem Feuer!“
Der Vater war über die herausfordernde Haltung des Jungen unheimlich erstaunt und verärgert zugleich. Das war die größte Frechheit! Wie könnte er es wagen, in Gegenwart der Nachbarn, bei seinen Freunden, ihn, den eigenen Vater, herauszufordern, gar zu beleidigen. Als er plötzlich mit dem rot angelaufenen Gesicht den Sohn anschaute, glaubte der Junge, in den Augen des Vaters tausend Funken, ja, tödliche Blitze gesehen zu haben. Unwillkürlich zuckte er zusammen; ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter, seine Haare standen zu Berge. Es war aber zu spät. Er war sich dessen bewusst, dass er nun daran nichts mehr ändern könnte, wenn er auch seinen Vater tausendmal um Verzeihung bäte. Die einzige Sicherung, wenn auch vorläufig, war die Gegenwart der Männer. Er wünschte sich, dass die Unterhaltung ewig dauerte.
Seit einigen Jahren besuchte er die Imam Hatip Schule, die eine Internat-Schule war, eine Mittelschule, in der Vorbeter und Prediger für die Moscheen ausgebildet wurden. An den Wochenenden und Feiertagen kam er nach Hause, zu den Eltern. Nun würde er gerne sofort verschwinden, um der Gefahr, von dem Vater schwer bestraft zu werden, zu entgehen, aber er kam erst heute, nämlich Samstagnachmittag, nach Hause, daher könnte er nicht einfach aufstehen und sagen, er müsse jetzt zurück zur Schule, d.?h. zum Internat. Dennoch war er sich ganz sicher, in Gegenwart der Männer würde sein Vater gegen ihn keine Hand erheben, er würde ihn auf keinen Fall vor den Besuchern schlagen. Mit gesenktem Kopf wartete er auf den Wutausbruch des Vaters, der allerdings nicht lange auf sich warten ließ.
„Du Schwachkopf!“, brüllte der Vater, „dass die Lehrer lange Jahre die Schulbank gedrückt oder studiert haben und dazu noch teure, gebügelte Anzüge und Krawatten tragen, bedeutet noch lange nicht, dass sie alles besser wissen als wir. Du sollst es dir unbedingt in deinen dicken Schädel eingravieren, dass unser Wissen auf der Grundlage des islamischen Glaubens beruht, nicht auf dem ketzerischen Wissen, das in den sogenannten modernen Hochschulen und Universitäten gelehrt wird.“
Der Ton des Vaters war so bedrohlich, dass jedes Wort wie ein Hammer auf den Kopf des Jungen einschlug. Trotzdem wollte er nicht klein beigeben, vor den Männern schon gar nicht. Er spürte, dass sie ihn mit einer versteckten Bewunderung beobachteten. Er glaubte, er würde sein Gesicht verlieren, wenn er nachgäbe. Aber daran, dass es in dem Moment auch seinem Vater darum ging, vor seinen Freunden das Gesicht zu wahren, dachte er gar nicht; all das schien ihm gleichgültig zu sein.






Vorbemerkung

Auch wenn die Erzählungen in dem Buch mehr oder minder der soziopolitischen Entwicklung der letzten sechzig Jahre des Landes, dem dieses Buch gewidmet ist, entsprechen, wurden sie doch mit Fantasien und Fiktionen ausgeschmückt, so wie es die Romankunst erfordert. Dass der Verfasser dieses Buches als ein laizistischer Demokrat und Humanist einiges von dem Erzählten als Student und dann als Akademiker selbst erlebte bzw. am eigenen Leibe erfuhr, beeinträchtigt keineswegs die Neutralität und Objektivität des Buches.
Der Verfasser, der sich aufgrund seines Studiums und seiner Ämter im Türkischen Staat als Landeskenner betrachtet, hat durch seine späteren Lebensumstände und Tätigkeiten auch das soziopolitische System des Westens durchblicken können. Was die Geschehnisse im Roman anbetrifft, hat er sich nicht von Emotionen leiten lassen. Er hat sich so weit wie möglich der Wahrheit verpflichtet, wie ihm sein Gewissen vorschrieb, auch hinsichtlich der Fiktionen.
All diejenigen, die die jüngste dramatische Geschichte ihres Landes, nämlich der Türkischen Republik, kennen und auch zum Teil die soziopolitische Entwicklung im Nahen Osten in der gleichen Zeitspanne verfolgt haben, werden kaum Schwierigkeiten haben, das Erzählte im Geiste noch einmal zu erleben.
Dies gilt auch für die humanistischen Intellektuellen der westlichen Welt, die sich mit der soziopolitischen Entwicklung der jüngsten Geschichte des Nahen Ostens einigermaßen beschäftigt haben. Auch sie werden sich in dem Buch, das zum Teil einem Klagelied über das Land gleichkommt, zurechtfinden können.
Das ist ein Roman, in dem die Fakten und Fiktionen ineinanderfließen. Mit anderen Worten ist es eine Fiktion der Wirklichkeit.

Der Verfasser



Zum Gedenken an die aufklärerisch-humanistischen
Denker und Philosophen, die durch die Jahrhunderte hindurch versucht haben, die Menschheit aus der theokratischen und materiellen Sklaverei, damit
auch aus dem eigenen inneren Kerker zu befreien …



Nicht derjenige ist der Gefangene,
dessen Hände und Füße in Ketten liegen,
sondern derjenige, der in seinem inneren Kerker lebt …



ERSTER TEIL
Die Zeit der arglosen Träume


KAPITEL EINS

„Vater“, sagte der Junge mit einer ernsthaften Miene, „unser Geschichtslehrer erzählte gestern in der Klasse, es sei nicht bewiesen worden, dass das Grab von Eyüp al Ansari in der Eyüp Moschee sei.“
„Mein Sohn“, entgegnete der Vater sichtlich verärgert, „was dein Lehrer gesagt hat, interessiert mich gar nicht! Du musst wissen, dass die Knochen von diesem Heiligen in dem Türbe der Eyüp-Moschee begraben sind, der tagtäglich von unzähligen Muslimen besucht wird.“
Der Junge vermochte dem zornigen Blick des Vaters standzuhalten, wenn auch nur sehr kurz. Dann wandte er seinen Blick mit einem Gefühl des verborgenen Stolzes den Männern von der Nachbarschaft zu, die an diesem Spätnachmittag zu Besuch gekommen waren. Da sein Vater Mustafa Efendi, der vor Jahren aus einer fernen Provinz Anatoliens nach Istanbul gezogen war, in einer großen Textilfabrik als Vorarbeiter tätig war und wegen der Schichtarbeit tagsüber die meiste Zeit schlafen musste, sahen seine Freunde und Nachbarn ihn kaum in dem Kaffeehaus der Siedlung. Wenn sich aber eine günstige Gelegenheit anbot, verpassten sie es nicht, ihn aufzusuchen und mit ihm beim Tee über Gott und die Welt zu reden.
Im kleinen Wohnzimmer saßen drei Männer auf dem Kanapee und der Vater mit anderen zwei Männern auf der Couch. Zwischen Couch und Kanapee befand sich ein niedriges, längliches Tischlein, auf dem die Teekanne, Zuckerdose und Gläser standen. Der Junge saß auf einem der Holzstühle an einem Tisch an der Wand, an dem seine jüngeren Geschwister ihre Schulaufgaben machten und lernten; sie waren zu dieser Zeit draußen und spielten mit ihren Spielkameraden auf einem leeren und staubigen Grundstück der armen Siedlung. Jedes Mal, wenn der Erstgeborene vom Internat nach Hause kam, brachte er einige Bücher und Hefte mit, um angeblich am Wochenende bestimmte Schulaufgaben zu machen. Dies diente in der Tat eher der Zufriedenstellung der Eltern, vor allem des Vaters. In Wirklichkeit galt seine Vorliebe dem Fußball. Für sein Talent, für sein Geschick war er schon mit fünfzehn in dem kleinen Fußballclub des Stadtteils bekannt. Mit großer Leidenschaft lief er hinter dem Ball her, wovon der Vater gar nicht begeistert war, weil er nichts vom Fußball hielt. Er hatte sogar eine Abneigung gegen den Fußball.
Der Junge spürte plötzlich ein starkes Bedürfnis, die
Anerkennung der Männer zu gewinnen, auf deren Freundschaft sein Vater einen großen Wert zu legen schien. Er dachte, er könnte dies nur erreichen, wenn er seinen Lehrer verteidigte, den er achtete und hochschätzte. Auf der anderen Seite aber ahnte er, dass dieses widerspenstige Benehmen wie gewöhnlich nicht ohne Konsequenzen bliebe, sogar dass es ihn teuer zu stehen kommen würde. Daher war er nicht ganz entschlossen, ob er dies tun oder lieber lassen sollte. Plötzlich fasste er den Mut. Zumindest wollte er es darauf ankommen lassen. Den Blick zu Boden gerichtet, fuhr er fort: „Aber der Lehrer sagt, einer Legende nach, als die Armee unseres Propheten das Machtzentrum von Byzanz, nämlich Konstantinopel, belagerte, sei der Fahnenträger des muslimischen Heeres, Eyüp al Ansari, bei den Kämpfen vor der Stadtmauer gefallen und zum Märtyrer geworden. Er sei wahrscheinlich irgendwo vor der Stadtmauer begraben worden.“ Nach kurzem Zögern fügte der Junge dann hinzu: „Eyüp al Ansari sei einer der beliebtesten Muslime bei Allah, weil unser Prophet gesagt haben soll, ‚Gesegnet sei jeder, der für die Eroberung Konstantinopels kämpfen würde.‘ Er sei schließlich an der ersten Belagerung als Fahnenträger unseres Propheten mit aller Kraft seines Glaubens beteiligt gewesen.“
„Mein Sohn“, sagte der Vater mit einem müßigen Seufzen, „die Lehrer studieren nur die Geschichtsbücher, die vom Nationalen Schulministerium gedruckt und amtlich anerkannt worden sind. Du sollst solchen Büchern keinen Glauben schenken, weil sie mit dem Islam nichts zu tun haben. Dein Lehrer muss zuallererst die Geschichte unserer Religion richtig lernen und dann darf er solche Aussagen machen.“
Der Junge glaubte, in der Stimme des Vaters einen milden Ton wahrgenommen zu haben. Doch irrte er sich. Sein Vater war im Augenblick damit beschäftigt, den Männern erneut frischen Tee einzuschenken, daher war sein strenger Blick dem Jungen verborgen geblieben. Durch seine falsche Einschätzung fühlte er sich plötzlich erwachsen und stark. In dem Augenblick war er in so einem berauschenden Gefühlsausbruch, dass er nicht in der Lage war, die Folgen seines Hochmutes abschätzen zu können.
„Vater, glaubst du wirklich, dass du alles besser weißt als der Lehrer, der jahrelang die Schulen besucht und studiert hat?“ Er hatte den Satz kaum ausgesprochen, als seine Mutter plötzlich im Wohnzimmer erschien, um die Teekanne in die Küche zu tragen, damit die Gäste, wie es die Tradition vorschrieb, mit frischem Tee versorgt wurden. Sie hatte ihr Kopftuch enger gezogen als üblich, weil man männliche Besucher im Haus hatte, auch wenn diese die Bekannten von der Nachbarschaft waren. Sie schien die Gespräche durch die halb offene Küchentür mitbekommen zu haben, daher war sie in Sorge um ihren Sohn. Als sie jedoch den letzten mutigen Satz aus dem Munde ihres Sohnes hörte, war sie mehr als besorgt, ja, sie war wahrlich erschrocken. Bevor sie mit der Teekanne in der Hand hinter der Küchentür verschwand, warf sie ihrem Jungen mit liebevollen, aber traurigen und ängstlichen Augen einen flüchtigen Blick zu. Als wollte sie ihn vor dem herannahenden Sturm warnen, als wollte sie ihm die Worte zuflüstern: „Mein Junge, gib Acht, du spielst wieder mit dem Feuer!“
Der Vater war über die herausfordernde Haltung des Jungen unheimlich erstaunt und verärgert zugleich. Das war die größte Frechheit! Wie könnte er es wagen, in Gegenwart der Nachbarn, bei seinen Freunden, ihn, den eigenen Vater, herauszufordern, gar zu beleidigen. Als er plötzlich mit dem rot angelaufenen Gesicht den Sohn anschaute, glaubte der Junge, in den Augen des Vaters tausend Funken, ja, tödliche Blitze gesehen zu haben. Unwillkürlich zuckte er zusammen; ein Schauder lief ihm den Rücken hinunter, seine Haare standen zu Berge. Es war aber zu spät. Er war sich dessen bewusst, dass er nun daran nichts mehr ändern könnte, wenn er auch seinen Vater tausendmal um Verzeihung bäte. Die einzige Sicherung, wenn auch vorläufig, war die Gegenwart der Männer. Er wünschte sich, dass die Unterhaltung ewig dauerte.
Seit einigen Jahren besuchte er die Imam Hatip Schule, die eine Internat-Schule war, eine Mittelschule, in der Vorbeter und Prediger für die Moscheen ausgebildet wurden. An den Wochenenden und Feiertagen kam er nach Hause, zu den Eltern. Nun würde er gerne sofort verschwinden, um der Gefahr, von dem Vater schwer bestraft zu werden, zu entgehen, aber er kam erst heute, nämlich Samstagnachmittag, nach Hause, daher könnte er nicht einfach aufstehen und sagen, er müsse jetzt zurück zur Schule, d.?h. zum Internat. Dennoch war er sich ganz sicher, in Gegenwart der Männer würde sein Vater gegen ihn keine Hand erheben, er würde ihn auf keinen Fall vor den Besuchern schlagen. Mit gesenktem Kopf wartete er auf den Wutausbruch des Vaters, der allerdings nicht lange auf sich warten ließ.
„Du Schwachkopf!“, brüllte der Vater, „dass die Lehrer lange Jahre die Schulbank gedrückt oder studiert haben und dazu noch teure, gebügelte Anzüge und Krawatten tragen, bedeutet noch lange nicht, dass sie alles besser wissen als wir. Du sollst es dir unbedingt in deinen dicken Schädel eingravieren, dass unser Wissen auf der Grundlage des islamischen Glaubens beruht, nicht auf dem ketzerischen Wissen, das in den sogenannten modernen Hochschulen und Universitäten gelehrt wird.“
Der Ton des Vaters war so bedrohlich, dass jedes Wort wie ein Hammer auf den Kopf des Jungen einschlug. Trotzdem wollte er nicht klein beigeben, vor den Männern schon gar nicht. Er spürte, dass sie ihn mit einer versteckten Bewunderung beobachteten. Er glaubte, er würde sein Gesicht verlieren, wenn er nachgäbe. Aber daran, dass es in dem Moment auch seinem Vater darum ging, vor seinen Freunden das Gesicht zu wahren, dachte er gar nicht; all das schien ihm gleichgültig zu sein.






5 Sterne
Der Diktator im Schutz des Westens - 10.11.2019
A. S.

Wie in seinem letzten Roman "Der nackte Imperator" beschäftigt sich der Autor auch diesmal mit dem Werdegang eines Diktators auf psychologisch tiefstem Niveau, hellseherisch und politisch aufklärend: Diktatoren sind nicht vom Himmel gefallen, sondern Produkte des gegenwärtigen Systems bzw. Zeitgeistes. Darüber hinaus werden die Diktatoren wegen der wirtschaftlichen und strategischen Interessen von gewissen westlichen Mächten nicht nur geduldet, sondern auch tatkräftig unterstützt.

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