Unentdeckte Leidenschaften

Unentdeckte Leidenschaften

Franco Massari


EUR 21,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 396
ISBN: 978-3-99146-203-3
Erscheinungsdatum: 09.10.2023

Kundenbewertungen:

Nun muss ich wirklich anfangen; meine Zeit ist knapp.
Doch vor allem, weil die auf dem Tisch verstreuten Kekskrümel (ich habe den Kopf darauf gelegt) mich unangenehm an meiner Stirn kratzen. Ich muss euch jedoch alles beschreiben, bevor ich den Kopf wieder hebe.
Ihr werdet euch fragen, wer ich bin und weshalb ich meinen Kopf auf den nicht ganz sauberen Tisch gelegt habe. Alles zu seiner Zeit. Jedoch muss ich euch ein Detail mitteilen, und zwar ist der verdammte Tisch absolut kein Luxustisch, sondern einer mit einer Oberfläche aus preiswertem Material, wohl aus Laminat.
Ich bin Professor. Nicht für Medizin oder andere wissenschaftliche Fächer; ich bin Universitätsdozent. Neun Personen haben mich kontaktiert. Eine nach der anderen natürlich, doch einen ganzen Tag lang nach meinen Vorträgen im Fernsehen zu einem speziellen Thema der antiken Griechen: Kennst du dich selbst, hm … aber mit meinen außergewöhnlichen Abschweifungen. Also zehn vertraulich zu untersuchende Personen. Ich sage zehn, denn der Zehnte wäre ich selbst.
Mit den restlichen neun vereinbarte ich keinen Termin, ich lud sie alle zusammen ein. In mein Studio? Sofa wie bei Freud? Nein, ins Münchener Dantebad.
Schwimmen? Bitte unterschätzt nicht meine Intelligenz. Die Versammlung findet im Dantebad in der Nacktbadezone statt. Ohne Kleidung argumentiert man vernünftiger. Die Farben, die Muster der Stoffe, Dinge, die das Auge mit falschem Instinkt aufnimmt, verführen zu unnötigen Ausflüchten … all dies wird durch die Nacktheit eliminiert, sodass sich der unbekleidete Körper auf ganz natürliche Weise anderen nackten Körpern zuwendet.
Wer sind diese neun? Haben sie äußerlich etwas gemeinsam? Nein. Es wird ein intellektuelles Oktoberfest sein. Denn so wie auf dem Oktoberfest die unterschiedlichsten Typen zusammensitzen, trinken und grölen, so werden sich meine neun am Ende an einem einzigen Punkt vereint fühlen durch etwas Unbekanntes, das in ihrem intimen Inneren ruht und sich ihnen bis zu einem bestimmten Moment allmählich offenbaren wird. Gefährlich verführerisch, gewaltsam, wunderschön.
Doch wie sollen sie sich unter so vielen nackten Badegästen finden, um zusammen auf mich zu warten? Jeder von ihnen wird als Erkennungszeichen ein Buch in der Hand halten. Folglich schließen sie daraus, dass sich sämtliche Unbekleideten mit Buch in der Hand mit derselben Absicht dort befinden. Was für eine gemeinsame Absicht, wenn sie doch untereinander so verschieden sind? Sie werden sich beobachten, wobei sie versuchen, sich zu verstehen, bevor sie anfangen, miteinander zu sprechen.
Indessen Diskretion; nur die Vornamen. Ich bin Georg, dann sind da noch Orpheus, Dorothea, Klaus, Verena, Markus, Jutta, Irmgard, Lucius und eine Unbekannte. Vier Männer und fünf Frauen; zehn insgesamt, sollte ich im Dantebad dazustoßen können. Doch heute ist es mir unmöglich, mich dorthin zu begeben. Wieso denn? Ihr werdet es verstehen beim Weiterlesen.
Natürlich verstehe ich sehr gut, dass das alles für die neun ein wenig peinlich sein kann, im Anbetracht der anfänglichen Abwesenheit des Professors und Erfinders dieses eigenartigen Treffens. Und jeder von ihnen wird durchdrungen sein von zwei intimen Empfindungen: Die eine bedeutet, dass man sich lieber allein mit dem Professor getroffen hätte; die andere ist die Neugier zu erfahren und zu verstehen, was für ein Merkmal der Zusammengehörigkeit und Verwandtschaft zwischen ihren Persönlichkeiten von unterschiedlichem Sex und Aussehen existieren könnte. In der Tat muss jeder, der ein Buch in der Hand hält, unbedingt etwas an sich haben, irgendein gemeinsames Element. Es ist also notwendig, auf die Ankunft des berühmten Professors zu warten, um zu verstehen.
Und weil dieser sich verspätet, betrachten sich die neun Leute verstohlen, schauen von einem zum anderen, anfangs ohne etwas zu sagen. Lucius könnte versuchen herauszufinden, was für ein Buch Markus, eine streng blickende Person, in der Hand hält, jemand der nicht unbedingt sympathisch wirkt. Es könnte ein Buch über Psychologie oder ähnliche Themen sein. Dann würde sein Blick zu Verena wandern, die erotisch faszinierendste Frau der Gruppe. Verena scheint nicht an einer Annäherung an ihn interessiert zu sein, lieber wäre ihr wohl ein Willkommenslächeln und ein Wort von Klaus, einem athletisch wirkenden Mann von Welt. Und die Unbekannte? Statt eines Buches hält sie in der Hand eine zusammengerollte Zeitschrift, Brigitte oder vielleicht Freundin. Wer weiß, wahrscheinlich handelt es sich um einen naiven Versuch, zu viel Öffentlichkeit zu vermeiden. Das heißt, wenn sie in eine Zeitschrift statt eines Buches in der Hand hält, könnte sie auch nicht zur Gruppe gehören. Diese Vorsicht nur für den Fall, dass die Presse mit von der Partie ist. Jutta und Dorothea, zwei typische Vertreterinnen einer respektablen höheren Gesellschaftsschicht, zwei nicht hässliche, doch absolut normal aussehende Damen, würden als Erste eine Konversation beginnen, ganz formal, zum Beispiel über die Verspätung des erwarteten Professors, wobei sie vorläufig vermeiden würden, sich gegenseitig nach dem Grund ihrer Anwesenheit zu befragen. Oder Jutta könnte sympathische Neugier bezüglich des italienischen Kochbuchs zeigen, das Dorothea mitgebracht hatte; und diese würde vielleicht Interesse an Juttas Abhandlung über die Emanzipation der Frau im 19. Jahrhundert simulieren. Der uninteressanteste von allen scheint Orpheus, genannt Orfi, zu sein. Er wird abseits von den anderen irgendwo auf unbequemem, stacheligem Gras der Wiese sitzen. Er ist schon älter, dicklich; die fünf anwesenden Herren haben ihn nur flüchtig angeschaut, vielleicht ohne freundlich zu lächeln. Ohne den Smoking und der schwarzen Fliege am Kragen ist er nicht zu erkennen. Außerdem gibt es ein Element, das nicht zu Orfi passt, das ist die Unscheinbarkeit seines Penis, durch seine Sitzposition im Gras verdeckt durch den vorstehenden Bauch.
Um diese Vorrede zu beenden und euch mein Wesen zu erklären, muss ich leider sagen, dass die peinliche Situation der neun Nackten mich in diesem Augenblick überhaupt nicht interessiert. Zuerst muss ich über den wichtigsten Menschen sprechen: über mich selbst.
Eine Wahrnehmung ist nichts Konkretes, niemand kann sie greifen und vor allem nicht mit Sicherheit erklären.
In diesem Moment ist mir auch nicht daran gelegen. Ebenso kann ich nicht wissen, dass wer auch immer dies liest, mich versteht. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist der Umstand, dass ich erzählen möchte, denn für gewöhnlich spreche ich mit niemandem über gewisse Eindrücke.
Wenn ich dies nun tue, dann weil ich schlussendlich denjenigen werde Auskunft geben müssen, die mich zu einem gewissen Vorfall befragen werden.
Damit wir uns recht verstehen, vielleicht kommt es nicht dazu, denn ich hätte beste Gründe dafür, mir jede Schuldzuweisung zu verbitten, von jedem, der mich dazu befragt, und mich lautstark und so effektvoll zu entrüsten, dass sie sich entschuldigen müssten, was ich natürlich gleichgültig hinnehmen würde, hochmütig mit Gönnermiene, die jedes Bedürfnis eine weitere Befragung durchzuführen im Keim erstickte. Aber es könnte dazu kommen. Also kehren wir zurück zur bereits erwähnten Wahrnehmung.
An dieser Stelle bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Eingebungen von gestern Abend zu erörtern, besser gesagt: von gestern Nacht. Oder zumindest von einem der vergangenen Abende, ich erinnere mich nicht genau. Überprüft euch nun bitte nicht so pedantisch, wann sich das alles zugetragen hat. Oder, wohlgemerkt, ob es sich zugetragen hat.
Wäre es denn von Bedeutung, ob es passiert ist oder nicht? Wir sprechen hier von Eingebungen, von einem Strauß an Impressionen, wie in bestimmten Momenten empfangen werden, aus und Schluss.
Und das Tragische, oder Lächerliche, das ich gleich darlegen werde, beschränkt sich allein auf Eindrücke. Denn von den seltsamen Eindrücken, und einzig aufgrund von Eindrücken, wird man zu einer Frage nach einer möglichen Beteiligung oder gar direkten Tat meinerseits gelangen, in einem Fall, der sich hier, in meinem Haus, zugetragen zu haben scheint, an jenem Abend, wie ich sagte, vielleicht nicht gestern, aber einige Abende zuvor.
Aber ich bitte euch, binden wir keinen Strauß aus Eindrücken, als seien Ihnen alle gleich und lebendig. Eindrücke, meine Eindrücke, sind das Ergebnis eingehender Betrachtungen und betreffen etwas, von dem nicht leicht zu verstehen ist, ob es sich zugetragen hat.
Ist das schwer zu verstehen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Versucht Ihr zumindest, mir zu folgen. Im Lesesaal an der Universität bin ich gezwungen, meinen Studenten Thesen zu unterbreiten und mit erhobener Stimme – was dem Dargelegten den Glorienschein einer historischen Authentizität verleiht – präzise Erläuterungen der Religionen antiker Völker darzustellen. Also der vorchristlichen Völker, damit wir uns recht verstehen.
Es sind eintönige Daten, immer die gleichen, begleitet von Bildern, die Ruinen zeigen oder Fragmente von Tempeln oder Ähnlichem. Und ich muss gestehen, dieser Beruf ödet mich mehr und mehr an. Mich, den Dozenten? Aber sicher, denn ich erläutere Einzelheiten und Details eines großen Ganzen, ohne mich je dessen Grund so weit zu nähern, dass es ein wirkliches Interesse auslösen würde. Welches wiederum die christliche Orthodoxie erschüttern würde.
Ihr denkt, ich beziehe mich auf Gott? Nicht im Traum! Gott interessiert mich im Moment nicht. Ich schrieb eben „Geschichte der Religionen“ und nicht „Geschichte Gottes“.
Worum geht es also?
Um etwas, das fast wie eine Verirrung der Lehre als konkrete Materie erscheint. Ich muss wiederholen, es handelt sich hierbei allein und ausschließlich um einen Eindruck. Oder um mehrere Eingebungen, aber immer zum selben Thema. Was wiederum nicht konkret ein Thema ist, sondern mehr ein unheimliches und ungreifbares Schimmern. Und darüber muss ich – entgegen meiner eigenen Gewohnheiten – sprechen, auch wenn es mir zuwider ist.
„Sein oder nicht sein“, fragte sich ein Engländer vor langer Zeit. Die Antwort darauf ist nicht schwer, sogar ein Fahrradtechniker oder eine Gemüsehändlerin könnten darauf antworten. Viel schwieriger ist folgendes Thema: Erinnern oder sich nicht erinnern können …
An was? Jenes, was man in geduldigen und zahllosen eingehenden Experimenten in den Vollmondnächten der babylonischen und ägyptischen Ebene herausgefunden hat …
Nun denkt Ihr vermutlich, es mit einem langweiligen Professor zu tun zu haben, der pseudo-historische Ideen aufzählt, die jeder einzelne überdies bequem übers Internet herausfinden könnte. Das trifft nicht zu. Denn es geht um etwas anderes. Es geht, nur um eines der vielen Details zu nennen, um Urin.
Ekelt euch das? Ich hoffe nicht! Viele Inder trinken morgens ihren eigenen Urin. Warum? Aus Gewohnheit. Seit wann? Und das ist der Punkt. Seit dem Tag, an dem der Hominid, halb Mensch, halb Tier, sich auf seine zwei Beine erhob und der erste Mensch wurde. Und er behielt diese einzigartige Angewohnheit bei, die keine war. Die, wie ihm der tierische Instinkt einst gesagt hatte, ihn von einer Krankheit heilte oder vor den Gefahren durch eine Verletzung bewahrte. Er trank also seinen eigenen Urin und kaute jene Kräuter, die ihm sein Instinkt verschrieb, wie heute der Hausarzt, wenn er ein Rezept ausstellt.
Und was bedeutet das? Vor allem, dass einige Geheimnisse der Natur ganz selbstverständlich von den Hominiden angenommen wurden. Und jene Geheimnisse, die sich bei den meisten immer tiefer ins Gedächtnis gruben, bis sie schließlich ganz verblassten, konservierten sich in der akkuraten Erinnerung einiger weniger, der Auserwählten, der Erfinder der Religionen und schließlich Wächter jener Tempel, in denen sie eifersüchtig bewahrt und gehütet wurden.
Ein okkultes und mächtiges, nicht sichtbares Wissen, das zwischen den Tempelmauern herumgeisterte und von den Priestern, Wächtern und Herren in festgelegten Momenten heraufbeschworen wurde.
Aber, o weh, ich vergesse ja ganz meine Frau und meine Gäste!
Tja, um mich meinen Überlegungen beziehungsweise einzelnen Gedanken zum eben ausgeführten Thema widmen zu können, bin ich in den Garten gegangen und habe dafür kurzzeitig das Fest verlassen, oder die Party, wie auch immer man die Ansammlung aus Freunden, Kollegen und Bekannten auf unseren Sofas und Sesseln unserer beiden Empfangsräume nennen mag.
Inzwischen mögt Ihr verstanden haben, dass sich meine nächtlichen Meditationen im Dunkel des Gartens nicht um babylonische Tempelruinen drehen, sondern um das, was sich in ihrem Inneren bewegt, wenn die Priester ihre geheimen Riten vollzogen. Und um das Unbewusste, Unverstandene, Ungreifbare und dennoch Existente, das sie bis heute umgibt … noch immer, nach mehr als 5 000 Jahren … Ihr versteht? Noch nicht, aber das macht nichts.
Nun, hier war ich stehen geblieben, bei meinen Gästen beziehungsweise: Da waren Gäste. Ich habe noch ihre Geräusche in den Ohren, die Lacher und all jene nervösen Töne und Satzfetzen, die heraus in den Garten dringen. Meine Frau führt das Wort, um es so zu sagen. Ich habe sie meinem intelligentesten und begabtesten Studenten vorgestellt, um sie abzulenken. Ich meine, er hat eine Schwäche für sie. Das meine ich? Wie scheinheilig! Ganz direkt gesprochen könnte dieser Student die Möglichkeit eines Abenteuers mit der noch jugendlichen Gattin seines Professors erwogen haben. Nun, wer weiß.
Tatsächlich muss ich sagen, dass meine Frau noch immer attraktiv ist. Aber verlieren wir uns nicht in Nebensächlichkeiten. Meiner Meinung nach hat sich die Party über die nötige Länge hinausgezogen. In diesen Fällen, wenn die Atmosphäre entspannter und angenehm ist und die Unterhaltungen sich in den beiden großen Räumen, die nur durch eine filigrane Keramikwand getrennt sind, die zugleich getrennte und dennoch verbundene Unterhaltungen erlaubt, ist es ein Leichtes, von hier nach da und von Gruppe zu Gruppe zu schlendern. Ein Kompliment an eine Dame, ein Scherz, eine freundliche Stichelei zu ein paar Männern, die im Stehen rauchen und trinken und so weiter. Bis man sich mit maximaler Nonchalance durch die Terrassentür in den Garten hinausstiehlt und die Leuchtreflektoren auf den Pflanzen ausschaltet. So bleibt die Bank im Wintergarten mit seinen geöffneten Fenstern im Dunkeln und ich kann mich in Ruhe dort niederlassen.
Kein Nachdenken im Haus oder im Büro der Universität ist vergleichbar mit den frostigen, von irdischem Gelaber ungestörten Gedankenflüssen, die sich nachts zwischen den Pflanzen erleben und erleiden lassen. Denn es war genau zwischen den Pflanzen und durch jene, dass einige Auserwählte unter den frühen Tiermenschen, die Vorreiter des homo sapiens, die Geheimnisse der Natur sicherten, um sich durch sie über die anderen zu erheben, zu Schamanen und dann Priestern und Herren über Wohl und Übel in den Tempeln zu werden.
Den ätherischen Lebenssaft, nicht wahrnehmbar und dennoch vorhanden, den die Natur ins Dunkel verströmt, konnte der Mensch nicht mehr wahrnehmen. Und jenen der Steine? Es ist mehr ewige Spiritualität in den Steinen von Stonehenge als im kosmetisch bemalten Marmor des Petersdoms.
Doch ich will nicht mit Fachwissen übertreiben, das euch vermutlich langweilt. Zudem muss ich mich um meine Gäste kümmern. Leider muss ich mich aus einem perfekten, spekulativen Gedankengang herausreißen, um einer Menge unbedeutender Leute Getränke zu servieren.
Apropos, wozu überhaupt diese Party, werdet Ihr fragen. Irgendein besonderer Anlass? Vielleicht. Um ehrlich zu sein, ist es eine Erinnerung daran gar nicht wert. Eine Party spielt eine Rolle und fertig. Ich glaube, dass meine Frau mir dazu geraten und zudem einige ihrer Freundinnen eingeladen hat, die mich nicht ausstehen können. Ich glaube auch, dass ich an einem gewissen Punkt des sogenannten Hergangs ein leeres Glas nehmen und mit einem Löffel zwei, drei Mal dagegen schlagen muss mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit der Menschen auf mich zu richten und also zu sprechen und etwas Banales zu sagen mit einer Art inspirierter Pointe am Ende, die – natürlich – alle sich bemühen, nicht banal zu finden. Wobei ich denke, dass niemand es mir übel nehmen würde, sollte ich mich jetzt um diese Rede drücken, denn mittlerweile sind alle miteinander vertraut, trinken, überschlagen die Beine und essen frittierte Teigtaschen, eine Spezialität unseres aktuellen italienischen Hausmädchens. Doch nein, ich muss unbedingt sprechen, nun erinnere ich mich, warum. Ich muss eine kleine Einlage meiner Frau auf dem Klavier ankündigen. Nun ja, ich denke, es ist noch etwas Zeit. Es muss nicht sofort sein. Als ich wieder in den Empfangsraum hineingegangen bin, habe ich zudem weder meine Frau noch den Studenten entdecken können. Das aber ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass meine Rückkehr aus dem Garten nach einer gewissen … nun ja … langen Zeit niemanden irritiert hat. Vielleicht hat auch jemand mein Verschwinden durch die Terrassentür bemerkt und ist, da er mich eine Zeitlang nicht gesehen hat, von einer galanten Begegnung mit Dame in der Trautheit im Säulengarten im pompejanischen Stil ausgegangen. Wahrscheinlicher ist aber, dass mich niemand bemerkt hat. So kann ich mich nach ein paar Minuten und einem Toast auf die gleiche Weise noch einmal davon machen, von Gruppe zu Gruppe, hier und da anstoßend.
Es wäre auch besser, wenn meine Frau sich wieder blicken ließe, denn sie versteht es auf glänzende Weise, die Gäste zu unterhalten. Meine Frau kann sich liebenswürdig und vor allem mit Grazie auch über die unbedeutendsten Themen austauschen und lachen, lachen, dass sie die schönen weißen Zähne ihres wohlgeformten, sinnlichen Mundes zeigt. Ich dagegen beginne ungern eine beliebige Konversation nur um des Redens willen.
Auch der Student ist nicht zu sehen. Tja, wo mag er sich wohl verstecken? Ich bin sicher, dass Sie bereits eine Antwort auf diese Frage gefunden haben. Man könnte wohl sagen, dass unsere Gäste völlig sich selbst überlassen sind. Ob sie das wohl bemerkt haben? Nein, darin liegt ja der Trick. Diesen viel zu großen Raum habe ich in zwei unterteilt, indem ich eine niedrige Trennwand aus Keramik eingezogen habe, sodass wer sich in der einen Hälfte des Raumes in einem Sessel niederlässt, nicht genau sehen kann, wer sich in der anderen Hälfte aufhält. Das heißt, die Gäste im ersten Teil des Raumes müssen davon ausgehen, dass der Hausherr sich im anderen aufhält und umgekehrt.
Das bedeutet, ich kann in Ruhe ins Dunkel des Gartens zurückkehren. Regungslos im Schatten verharren, in Kontakt mit dem Wesen der Pflanzen, die als amorphe Kreaturen versuchen, in der Finsternis zu offenbaren … ja, was nur? Ihre Natur, ihr Leben und die Dramen, die sich in ihnen abspielen. Ah! Könnte ich nur zu diesem ursprünglichen Wissen zurückkehren, das sich mit der Evolution verflüchtigt hat, aber das ja doch unterbewusst gespeichert ist. Jene stummen, unformulierbaren und seit Jahrtausenden von niemandem geahnten Botschaften … Wo sind heute jene Priester, die sie verstanden, die sie in den babylonischen Tempeln beherrschten? Man sagt, diese Priester vermochten es, den Ast eines Baumes auf den Boden zu werfen und ihm zu befehlen, sich in eine geschmeidige, flinke Schlange zu verwandeln. Welche Macht, welche Kraft verbarg sich nur in den priesterlichen Gedanken? In ihrem unbewegten Schweigen, wenn das Wort eine ersehnte und schreckliche Seltenheit war? Und das Wort, der Spruch kamen von ihren Lippen wie Beschwörungen … Unsere viel gestikulierenden Politiker dagegen, die ihre Hände verwenden wie Hunde mit dem Schwanz wedeln, verwirbeln so nur die Reinheit des dargestellten Gedankens.
Das Unterbewusste. Das Unterbewusste, das in der Natur verschlossen ist, erkennen und ausdrücken können! Sigmund Freud setzte sich mit dem peinlich miefigen Unterbewussten der weiblichen Vagina auseinander, wie ein Hund am Urin von Artgenossen wittert. Aber das Unterbewusstsein der Natur, in deren Vagina kein einfältiges Individuum des Computerzeitalters einzudringen vermag … Das ist das Problem: Ob es heutzutage noch möglich wäre, die Undurchdringlichkeit seines Denkens zu erreichen? Seine Schärfe? Ich höre ungewöhnliche Geräusche. Ich muss gezwungenermaßen zurück in den Wohnraum.
Jedenfalls muss ich noch etwas Seltsames mitteilen. Während meiner Gedankenspiele, und damit meine ich jene innerhalb eines idealen, leeren, mit Halblicht gefüllten Tempels, merke ich, dass ich nicht alleine bin. Jemand hinter einer Säule beobachtet mich. Wer kann es sein? Ein Priester? Er ist nicht zu erkennen, ich sehe nur ein halbverborgenes Profil und entdecke sogleich eine Hakennase und zwei fürchterlich spähende Augen.

Das könnte ihnen auch gefallen :

Unentdeckte Leidenschaften

Jürg Hulliger & Daniel Ruf

Kleider machen den Herrn

Buchbewertung:
*Pflichtfelder