Ohrenwackler und Zungennasenbohrer

Ohrenwackler und Zungennasenbohrer

Sabine Claaßen


EUR 16,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 144
ISBN: 978-3-99146-123-4
Erscheinungsdatum: 31.05.2023
Karl ist gerne für sich. Doch als Alma in die Nachbarschaft zieht und die beiden Drittklässler sich allmählich anfreunden, stellt dies nicht nur sein gewohntes Leben auf den Kopf. Die Mitschülerin leidet nämlich an einer Krankheit. Kann Alma diese besiegen?
Erstes Kapitel

Karl war acht Jahre alt und auf den ersten Blick war er auch haargenau so, wie Kinder in diesem Alter sein sollten, nicht größer, aber auch nicht kleiner, nicht dicker und auch nicht dünner.
Der Junge hatte braune Haare, die sich am Hinterkopf wirbelten und dem Kamm trotzten.
Er hatte hellgraue Augen mit grünen Sprenkeln, seine Nase wies beinahe gerade in die Höhe, seine Unterlippe war etwas fülliger als die Oberlippe, sodass sie ein bisschen überstand und Karl einen leicht schmollenden Gesichtsausdruck verlieh.
Auffallend waren Karls Ohren, die in Größe und Form aus dem Ruder gelaufen waren. Sie waren um die Muschel herum weit ausufernd und standen wie Segel vom Kopf ab.
Dennoch war Karl mit seinen Ohren sehr zufrieden, denn er konnte mit ihnen wackeln, ohne seine Hände zu gebrauchen.
Er musste sich nur konzentrieren, die Stirn in Falten legen, und schon wackelten die Ohren. Auch sein Großvater, sein Vater und sogar sein kleiner Bruder konnten freihändig mit den Ohren wackeln und alle hatten Ohren, die an ein Sonnensegel erinnerten.
Karl war ein ruhiger Junge, der sich gern allein beschäftigte.
Er liebte die Geschichten über Michel aus Lönneberga, aber er war kein Michel aus Lönneberga.
Karl lebte in einer Kleinstadt in einem sehr großen Haus.
Das Haus existierte schon seit vielen, vielen Generationen.
Karls Urururgroßeltern hatten es im 19. Jahrhundert, also genau genommen im Jahr 1854, erbaut.
Das kann so genau gesagt werden, weil es schriftlich hinterlegt ist.
Seit dem Jahre 1854 lebte Familie Schäfer von Generation zu Generation in diesem Haus.

Seit dem Jahre 1854 gab es in dem großen Haus ein Beerdigungsinstitut, das ebenfalls von Generation zu Generation weiterwanderte und nun von Karls Vater betrieben wurde.
Die Großeltern des Jungen hatten sich bereits zur Ruhe gesetzt und waren vor zwei Jahren an die Ostsee gezogen, hatten dort ein kleines Haus gekauft und genossen ihren Lebensabend, wie der Großvater zu sagen pflegte.
Und Karl genoss den Urlaub an der Ostsee.
Im Sommer war er zum ersten Mal ganz allein bei den Großeltern gewesen. Der Großvater hatte ihn mit dem Zug abgeholt.
Die Großmutter hatte ihm jeden Morgen Grießbrei gekocht, der schmeckte, als hätte ein außerirdisches Wesen ihn mit außerirdischen Zutaten gewürzt. Himmlisch! Das war das passende Wort. Großmutters Grießbrei schmeckte, als wäre er aus dem Himmel direkt in den Kochtopf geschwebt, und niemand war fähig, solchen Grießbrei zu kochen als einzig und allein Karls Großmutter an der Ostsee.
Der Großvater zeigte ihm die Kunst des Angelns. Neben Muscheln suchte Karl besondere Steine am Strand und fand einmal sogar einen kleinen Bernstein; dieser Bernstein sei etwas ganz Besonderes, so sagte es ihm der Großvater und er riet ihm, den Bernstein gut aufzubewahren und ihn eines Tages einem ganz besonderen Menschen zu schenken.
Karl nahm diesen Rat sehr ernst. Zwar hatte er noch keine Ahnung, wer dieser besondere Mensch sein sollte, aber der Großvater versicherte ihm, dass er das merken würde, sobald die Zeit reif und der besondere Mensch in sein Leben getreten sei.
Im Schuppen des Großvaters fand Karl eine kleine Holzkiste, die er mit einer leuchtend blauen Farbe anmalte und mit Muscheln beklebte. Nun sah die Holzkiste aus wie ein kleiner Ableger des Meeres.
Von der Großmutter bekam er ein leuchtend gelbes Stück Seidenpapier, in das er behutsam den Bernstein wickelte und vorsichtig in die Holzschachtel legte. Da lag er wie in einem Sonnenbett und konnte mit Karl zusammen auf den besonderen Menschen warten.

So war der Urlaub ins Land gezogen, bis die Ferien sich dem Ende zuneigten und der Großvater ihn mit dem Zug wieder nach Hause brachte und Karl in die dritte Klasse kam.
Wie man sich vorstellen kann, waren Karls Eltern auch sehr aufgeregt und konnten es kaum erwarten, bis ihr Sohn wieder nach Hause gebracht wurde, schließlich war es das allererste Mal, dass er so lange von ihnen getrennt war.
Karl hatte für seine Mutter eine Muschelkette gebastelt und für den Vater eine große Muschel gefunden, aus der man das Meer rauschen hören konnte, wenn man sie dicht ans Ohr hielt.
Vom Bernstein allerdings erzählte er weder dem Vater noch der Mutter etwas, sondern verstaute ihn in seinem Geheimversteck, das außer ihm niemand kannte und dessen Standort natürlich auch an dieser Stelle nicht verraten werden kann, zumindest jetzt noch nicht.

Karls Mama hieß Eva Maria Schäfer.
Früher hieß sie Eva Maria Pfannkuchen, was Karl sehr viel lustiger fand, und ehrlich gesagt hätte er viel lieber Pfannkuchen als Schäfer geheißen.
Aber dann hätte das Beerdigungsinstitut auch Pfannkuchen heißen müssen und das hätte Karls Vater sehr unpassend gefunden, denn wer würde sich schon gern von einem Pfannkuchen beerdigen lassen?
So musste sich Karl mit dem Nachnamen Schäfer zufriedengeben.
Aber die Pfannkuchen waren in der Verwandtschaft noch lange nicht ausgestorben. Mutters Brüder hießen allesamt Pfannkuchen und seine Cousinen und sein Cousin auch. Da gab es eine Henriette Pfannkuchen, einen Kasimir und einen Emil Pfannkuchen und, ganz frisch auf der Welt, Rosalie Pfannkuchen.
Am allerbesten aber war die Pfannkuchenoma, bei der es sich natürlich um die Mutter von Karls Mutter handelte.
Früher gab es auch einen Pfannkuchenopa, aber der war schon vor vier Jahren gestorben und Karl konnte sich kaum noch an ihn erinnern.
Karls Pfannkuchenoma lebte in der gleichen Ortschaft, nur wenige Straßenzüge von Schäfers entfernt, und es erübrigt sich wohl zu sagen, dass sie die besten Pfannkuchen aller Zeiten herstellen konnte. Darauf legte sie auch großen Wert, denn das schuldete sie schließlich ihrem Namen, so erklärte sie es stets, und Karl fühlte sich „vom Schicksal verwöhnt“.
Diesen Satz hatte er neulich gehört und er hatte ihm so gut gefallen, dass er lange und ausgiebig über ihn nachgedacht hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, dass das Schicksal, was genau das auch sein mochte, ihn mit seinen Eltern und Großeltern tatsächlich verwöhnt hatte, auch wenn er den Pfannkuchenopa lieber noch hier auf der Erde gehabt und nicht nur vor seinem Himmelsfenster gewusst hätte, aber das war nun einmal so, daran war er gewöhnt.
Nun war aber Karl nicht das einzige Kind seiner Eltern.
Eva Maria Schäfer geborene Pfannkuchen und Konstantin Schäfer hatten drei Kinder und sie waren auf ihre drei Kinder mächtig stolz, auf jeden einzelnen. Karl allerdings war der Meinung, dass das Schicksal, welches ihn mit seinen Eltern und auch mit seinen Großeltern so außerordentlich verwöhnt hatte, sich bei seinen Geschwistern nicht allzu viel Mühe gegeben hatte. Karl hatte einen Bruder und eine Schwester.
Seine Schwester hieß Maja und war drei Jahre alt. Sie trug meistens Ringelstrumpfhosen sowie Pippi Langstrumpfzöpfe und die meisten Menschen fanden das kleine Mädchen witzig. Und lieb. Karl fand Maja auch ganz in Ordnung, wenn da nicht diese eine Sache wäre, von der etwas später berichtet werden soll.
Auch Karls jüngere Schwester hatte diese besonderen Ohren, die an ein Sonnensegel erinnerten, was auch verständlich ist, denn wenn ein Schäfer und ein Pfannkuchen sich zusammentun und Kinder bekommen, gibt jeder seine speziellen Dinge weiter. Und die Schäferschen Ohren waren eben so speziell, dass alle Kinder sie gratis mitgeliefert bekamen. Nur im Unterschied zu ihren Brüdern konnte Maja nicht freihändig damit wackeln, das war, wie schon erwähnt, ausschließlich den männlichen Schäfers vorenthalten.
Dafür hatte sie aber eine andere Gabe erhalten, die problemlos dem freihändigen Ohrenwackeln der Brüder Paroli bieten konnte.
Maja konnte ihre Zunge ausfahren wie eine Schlange und damit in der Nase bohren, bis das Kleinhirn Walzer tanzte. Das zumindest behauptete die Mutter, wenn Majas Zunge mal wieder in einem Nasenloch verschwunden war. Somit kann mit Fug und Recht gesagt werden, dass niemand solch eine bewegliche Zunge und solch ein musikalisches Kleinhirn hatte wie die kleine Maja.
Maja war ein sonniges Wesen und konnte in allen Tonarten lachen und Karl mochte seine kleine Schwester wirklich gern, wenn nur diese eine Sache nicht wäre, die nun unweigerlich auf den Tisch kommen muss.
Seine Schwester konnte zwar in allen Tonarten lachen, aber schreien konnte sie nur in einer einzigen Tonart. Seit Maja auf der Welt war, schon als kleines Baby, hörten sich ihre Schreie an wie das Pfeifen eines Teekessels oder der Bohrer beim Zahnarzt.
Anfangs dachte die Familie, dass das Mädchen aus ihren spitzen Schreien herauswachsen würde wie aus einem Kleidungsstück. Das war aber leider nie geschehen und mit der Zeit gewöhnten sich alle an diese spitzen Schreie. Alle, außer Karl. Wenn Maja ihre Schreistimme anstimmte, begann in seinem Kopf ein Motor zu summen, der ihm fast körperliche Schmerzen bescherte.
Die Mutter meinte, Majas Schreien würde Karl vielleicht an die Töne eines Brutkastens erinnern.
Karl war nämlich zu früh geboren und musste die ersten Monate seines Lebens im Brutkasten sozusagen nachreifen. So wie man eine unreife Orange oder Tomate zum Reifen in die Sonne legt, verfrachtet man zu früh geborene Babys in den Brutkasten, der natürlich eine gewisse Wärme haben muss. Kühlt der Brutkasten aus irgendwelchen Gründen aus, fängt er an zu piepsen wie ein Teekessel oder der Bohrer beim Zahnarzt.
Und deshalb dachte Karls Mutter, dass Majas Schreien Karl im Unterbewusstsein an die Zeit im Brutkasten erinnerte.
Aber was auch immer es war, er konnte ihr Schreien nicht ertragen und zum guten Glück hatte sein Vater die Lösung des Problems gefunden. Zwar konnte auch er nichts an Majas Tönen ändern, aber er schenkte Karl Kopfhörer, die immer in seiner Nähe waren.
Wenn Majas spitze Schreie ertönten, setzte sich Karl seine Kopfhörer auf und hörte Dornröschen, Peter Pan oder Tischlein deck dich. Alle waren zufrieden und guter Hoffnung, dass Maja mit zunehmendem Alter doch noch eine weniger schrille Schreistimme erhalten würde.
Diese Hoffnung sollte sich allerdings lange, lange, wirklich sehr lange nicht erfüllen, aber das wusste ja zum guten Glück noch keiner.
Nun gab es aber noch einen Bruder, und der war ein Kapitel für sich.
Karls Bruder hieß Henry, er war fünf Jahre alt und in allem das Gegenteil von seinem älteren Bruder.
Wenn vorhin erwähnt wurde, dass Karl kein Michel aus Lönneberga war, handelte es sich bei Henry um einen Jungen, bei dem ein Michel aus Lönneberga noch in die Lehre hätte gehen können.
Mehr gibt es dazu nicht zu sagen, denn jeder, der den Michel aus Lönneberga kennt, weiß nun auch, mit wem er es bei Henry, dem kleinen Bruder von Karl, zu tun hat.
Henry, das war ein Kaliber, das man niemals auf die leichte Schulter nehmen durfte, und der tatsächlich als Herausforderung der besonderen Art zu sehen ist.

Doch nun soll auch das Vorgeplänkel ein Ende haben, denn die Geschichte ist längst aus ihren Startlöchern geschlüpft, um sich zu recken, zu strecken und genüsslich Raum samt Gehör, Platz, Zeit und Herz inklusive einzunehmen.



Zweites Kapitel

Karl stand gemächlich von seinem Platz am Küchentisch auf und schlurfte ins Bad, um seine Zähne zu putzen, sein Gesicht zu waschen und die widerspenstigen Haare zu kämmen.
Anschließend ging er in den Flur und zog seine Schuhe und seine Jacke an, setzte seine heißgeliebte Schildkappe auf den Kopf und den Schulranzen auf den Rücken.
Es gab Tage, an denen es Karl schwerfiel, all diese täglichen Arbeiten zu verrichten. An solchen Tagen schien nichts zu funktionieren und alles tropfte träge dahin. Dann würde er sich am liebsten mit seinen Kopfhörern und seinen Geschichten verkriechen, und die Mutter nannte solche Tage Kaktustage, weil sie ihr spitz und spröde erschienen, wie ein Kaktus in der Wüste.
Aber der Tag, an dem diese Geschichte aus ihren Startlöchern schlüpfte, war ganz und gar kein Kaktustag.
Im Gegenteil, es handelte sich um einen nahezu perfekten Tag.
Karl hatte gefrühstückt und all seine morgendlichen Tätigkeiten verrichtet. Nun war er sogar noch fünf Minuten zu früh dran, aber weil er schon gestriegelt und geschniegelt war, verabschiedete er sich von seiner Mutter und begab sich auf den Weg zur Schule.
Bevor er um die Ecke bog, drehte er sich noch einmal um. Wie jeden Morgen stand seine Mutter auch diesmal da und winkte. Und Karl winkte zurück.
Karls Mutter machte sich oft Sorgen um ihn.
Das lag zum einen daran, dass er die ersten Monate seines Lebens im Brutkasten leben musste, und zum anderen lag es wohl daran, dass Karl auf den zweiten Blick und auch auf den dritten und vierten Blick doch anders war als andere Kinder seines Alters.
Er hatte andere Interessen, mochte ruhige und gediegene Dinge und spielte gern Klavier. Zudem liebte er Johann Sebastian Bach, der vor langer, langer Zeit ein berühmter Komponist und Klavierspieler war. Karl übte jeden Tag Klavierspielen und wollte die Stücke, die Johann Sebastian Bach geschrieben hatte, nachspielen, was übrigens sehr schwierig war.
Das alles ist natürlich sehr außergewöhnlich für einen achtjährigen Jungen und für Altersgenossen schwer zu verstehen. Andersherum konnte Karl mit den Dingen, die Kinder in seinem Alter üblicherweise taten, oft nicht viel anfangen.
Fußballspielen mochte er nicht, Pokémon fand er langweilig, Höhen waren ihm zu hoch und er wollte weder auf Bäume klettern, noch wollte er von selbigen herabspringen. Genauso verhielt es sich mit Geschwindigkeiten. Schnelle, rasante Fahrzeuge waren ihm ein Gräuel und die schrille Musik, die solcherlei Gerätschaften begleiteten, waren ihm fast ebenso verhasst wie die spitzen Schreie seiner Schwester.
Aus diesen Gründen war Karl oft für sich allein.
In den Pausen saß er gern auf dem großen Schaukelpferd, welches im Schulhof etwas abseits stand. Hier konnte Karl schaukeln, bis seine Gedanken und Gefühle wieder am richtigen Ort saßen. Denn manchmal erschienen ihm seine Gedanken und Gefühle wie ein Wollknäuel mit vielen Seemannsknoten und die Schaukel war der Seemann, der die Knoten löste.

5 Sterne
Ein lesenswertes Buch zu schwierigen Themen.  - 27.07.2023
K. R.

Die Autorin beschreibt einfühlsam das Leben eines Jungen, der etwas anders ist. Dessen etwas andere Welt betritt ein sehr krankes Mädchen. Es folgt die wachsende Freundschaft der zwei Kinder, die unheilbare Krankheit des Mädchens und schließlich dessen Tod. Die Autorin zeigt warmherzig, dass das Leben danach für die hinterbliebenen Erwachsenen und Kinder weitergeht. Das Buch kann ein guter Einstieg zu einem Gespräch mit Kindern über Krankheit, Tod und auch das Leben sein.

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