Die unglaublichen Lebensgeschichten der Gebrüder Alfred und Ernst Hofer

Die unglaublichen Lebensgeschichten der Gebrüder Alfred und Ernst Hofer

Zwei Schweizer in den Wirren des 20. Jahrhunderts

Kurt Steinegger


EUR 25,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 222
ISBN: 978-3-99130-426-5
Erscheinungsdatum: 23.04.2024
Als es Alfred und Ernst Hofer aus dem ländlichen Emmental zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Ausland zieht, beginnt ein großes Abenteuer. In einer Zeit, geprägt von Schrecken, Flucht und Neubeginn, müssen die Brüder mit allen Mitteln um ihr Überleben kämpfen.
Vorwort

Im Alter von zwölf Jahren hörte ich im Jahr 1961 die Lebensgeschichte von Alfred Hofer, welcher die Schwester meines Vaters geheiratet hatte. Diese unglaubliche Erzählung faszinierte mich dermaßen, dass ich mich fortan intensiv mit dem Leben von Alfred Hofer und mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzte. In vielen Exkursionen besuchte ich die Brennpunkte der damaligen Zeitgeschichte. Später führte ich als Reiseleiter Gruppen zu wichtigen Orten der beiden Weltkriege.
Alfred Hofer übergab mir kurz vor dem Tod seine Manuskripte und Fotos. Ohne die Aussagen zu verändern, habe ich die Texte im vorliegenden Buch aufgearbeitet und mit Fotos illustriert.
Im ersten Teil des Buches lernen wir Alfred Hofer kennen, der die Wirren des 20. Jahrhunderts hautnah miterlebt hat. Als junger Schweizer Käser wandert Alfred Hofer nach Russland aus, um dort sein Auskommen zu finden. Vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht und von der russischen Revolution vertrieben, flieht Alfred Hofer in die Schweiz zurück. Nach dem Krieg baut er sich eine neue Existenz in Frankreich auf. Hier erfährt er den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die Besetzung Frankreichs durch die Deutschen, die Aktionen der französischen Résistance und das Chaos bei der Rückeroberung durch die alliierten Truppen.
Den Text zu Ernst Hofer, dem jüngeren Bruder von Alfred, habe ich 2010 in Form eines Manuskripts im Anschluss an eine Buchlesung über Alfred Hofer von Frau Béatrice Kaufmann, einer Enkelin von Ernst Hofer, erhalten. Ohne den Inhalt zu verändern, habe ich ihn einigermaßen in die heutige Sprache übertragen, den eher umständlichen Stil von Ernst Hofer jedoch, wann immer möglich, beibehalten.
Der zweite Teil des Buches ist Ernst Hofer gewidmet. Aufgewachsen im ländlichen Emmental, schildert er in eindrücklichen Worten die äußerst bescheidenen Lebensverhältnisse, in denen er und seine Brüder ihre Kindheit verbracht haben. Ernst Hofer erlernt den Beruf des Kaufmanns. Nach der Lehre zieht es auch Ernst Hofer ins Ausland, zuerst nach Italien, später nach Paris, wo er mit Lederwaren handelt. Hier wird er von der Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg überrascht. Aufgeboten zum Aktivdienst, reist Ernst Hofer in die Schweiz zurück. Nach dem Krieg beteiligt er sich am Aufbau einer Lederfabrik in Gümligen. Das Unternehmen scheitert, die Firma geht in Konkurs. Nun eröffnet Ernst Hofer in Thun ein Schuhgeschäft, doch auch dieses Vorhaben misslingt. 1932 übernimmt er nach 26 bewegten Jahren eine Stelle als Chefbuchalter bei der Firma Hirter & Co. AG in Bern, welche er bis zu seiner Pensionierung 1957 innehat.
Mit der Aufzeichnung der Lebensläufe von Alfred und Ernst Hofer möchte ich einen kleinen Beitrag zur Zeitgeschichte liefern.

Jegenstorf, 15. März 2024

Kurt Steinegger



Meine Begegnung mit Alfred Hofer

Ende September 1961 teilte mir mein Vater mit, er habe soeben im Schweizerischen Familienblatt gelesen, dass in Münsingen seit einiger Zeit ein Ausland-Schweizer namens Alfred Hofer lebe. Dieser habe sich aufgrund seiner freundlichen Art bereits sehr gut mit der Bevölkerung verbunden und fühle sich schon recht heimisch. Obwohl er von Beruf Käser sei, führe er in letzter Zeit hauptsächlich Gartenarbeiten auf Bestellungen aus. Dann bemerkte er: „Ich bin sicher, dass es sich bei dieser Person um den Ehemann meiner längst verstorbenen Schwester Marie handelt.“
Es war in der Tat der vermutete Alfred. Ein Rendezvous wurde vereinbart und eines schönen Tages kam Alfred aus Münsingen per Bahn, Tram und zu Fuß zu uns in die Maygutstraße 30 in Wabern.
Es folgte eine herzliche Begrüßung bei einem Glas Wein und – wie könnte es anders sein – ein intensives Gespräch über das Leben von Alfred Hofer. Es war klar, dass sich mein Vater vor allem für die Zeit mit seiner Schwester Marie interessierte, die ersten Begegnungen, die spätere Hochzeit und die nachfolgenden Erlebnisse in Russland. Mit Zustimmung von Alfred Hofer wurden seine Worte auf Tonband aufgezeichnet. Die Aufzeichnung war mir später bei der Aufarbeitung seines Lebensberichtes eine große Hilfe.
So erzählte er, wie er im Jahr 1908 eine Stelle in der neuen Käserei in Lyss angenommen hatte. Bald habe er Marie Steinegger im Eigenacker in Lyss kennengelernt und in der Folge hätten sie sich recht oft heimlich getroffen. Doch schon nach einem Jahr habe ihn das Fernweh ergriffen und so habe er eine neue Stelle in der Schlosskäserei in Bournelle in Frankreich angenommen. Aber Marie im Eigenacker habe er nie mehr vergessen. Regelmäßig wanderten Briefe hin und her.
Im Herbst 1910 sei er wieder einmal nach Lyss gekommen und bei dieser Gelegenheit habe ihn Marie zum ersten Mal ihren Eltern vorgestellt. Auf die Frage, wie er von seinen Schwiegereltern aufgenommen worden sei, antwortete er, sie hätten ihn als ehrlichen und heiratswürdigen Jüngling taxiert. Doch bis zur Heirat sollte es noch eine Weile dauern. Vorerst ging er für ein Jahr nach Finnland und bis Ende 1912 nach Russland.
Zu Silvester 1913 war er wieder einmal bei Marie im Eigenacker, um diesmal den Zeitpunkt für die Hochzeit zu besprechen. Marie war um diese Zeit im Hotel National in Adelboden tätig. Sie kamen überein, die Hochzeit am 3. Februar 1913 in Büren an der Aare zu feiern, d. h. am Wohnort von Alberts Mutter.
Nach dieser Feier war der Moment gekommen, von allen Lieben Abschied zu nehmen, denn schon am 10. März 1913 reisten sie voller Zuversicht nach Russland, in der Hoffnung, dort ihr künftiges Leben zu verbringen. Sie wussten nicht, dass ihr gemeinsames Lebensglück nur von kurzer Dauer sein würde.
Trotz der schweren Schicksalsschläge, die Alfred Hofer im Laufe seines Lebens in den Wirren des 20. Jahrhunderts hinnehmen musste, verlor er seinen Lebensmut nie. Immer wieder raffte er sich auf, um von Neuem zu beginnen. Sein unbeugsamer Wille, auch in hoffnungslosen Lagen nicht aufzugeben, mag uns als Vorbild dienen.




Die Erzählung von Alfred Hofer




Die Familie Hofer

Laut Auszug aus der Stammlinie lebte mein Ururgroßvater Peter Hofer im Jahr 1754 als Öler in Biglen. Auch mein Urgroßvater Johannes ergriff später den gleichen Beruf. Mein Großvater Christian war Gerber in Rohr zu Biglen und auch mein Vater kam als Gerber nach Zäziwil, wo ich 1887 geboren wurde. 1890 siedelten wir um nach Mülchi im Limpachtal in eine Gerberei. Damals war dieser Beruf noch einträglich; das naturgegerbte Sohlleder, meines Vaters Spezialität, wurde von den Bauern gekauft und der Schuhmacher kam zu ihnen auf die Stör. Aber in den 90er Jahren schossen die Leder- und Schuhfabriken wie Pilze aus dem Boden und Gerber und Schuhmacher hatten schwere Zeiten.

Im Frühjahr 1900 kauften meine Eltern eine Gerberei mit Landwirtschaft in Büren an der Aare. Da ich in der Primarschule immer zu den besten Schülern gehörte, wurde ich von meinem Lehrer für die Sekundarschule vorgeschlagen. Mein Vater war aber von diesem Vorschlag gar nicht begeistert und meinte: „Wenn du immer nur in der Schule bist, kannst du nicht mehr zu Hause arbeiten.“ So blieb ich in der Primarschule und wurde nicht Lehrer, wie ich es mir eigentlich erträumt hatte. Damit nahm mein Schicksal seinen Lauf. Am 1. November 1903 trat ich als Lehrling in die Käserei in Büren an der Aare ein. Obschon die Lehrzeit damals nur sechs Monate dauerte, blieb ich noch anderthalb Jahre als Hüttenknecht dort. Nach einem weiteren Arbeitsjahr in Schönbrunnen bei Utzigen überkam mich die Sehnsucht nach der Ferne. Eine Sehnsucht, die durch die Aussicht auf guten Verdienst im Ausland noch verstärkt wurde. Zur damaligen Zeit verfügten die Schweizer Käser über einen ausgezeichneten Ruf und arbeiteten daher in vielen ausländischen Käsereien.



Beginn der Wanderjahre

Ich wagte den Sprung über die Grenze, um in einer Käserei in Hochsavoyen eine Stelle anzutreten. Hier arbeitete man noch mit dem Hängekessi, und die Käserei war deshalb kohlschwarz. Zu meiner Überraschung wurde die Sirte (Käsemilch) zentrifugiert. Fast wichtiger als die Käserei war die schöne Schweinemästerei; 80 bis 100 Tiere hatte ich neben der Käserei und dem Keller zu versorgen.
Am Abend meiner Ankunft führte mich mein Meister, ein Mann von 110 Kilogramm, in einen großen Raum über der Käserei, wo er mir zwischen Maissäcken und altem Käsereimaterial mein Bett zeigte. Das stand noch so, wie mein Vorgänger daraus geschlüpft war; frisches Bettzeug lag daneben auf einer Kiste. Der Meister hielt sich an einem mit zwei Schnüren aufgehängten krummen Stock fest und erklärte mir: „Da kannst du dann deine Kleider aufhängen!“ Das Fenster war etwa 50 Zentimeter breit und 15 Zentimeter hoch und in der Mauer klafften Risse, sodass man ins Freie sah. Durch die Ritzen im Boden blickte ich in die Käserei hinunter. Die Hälfte des Rauches vom Hängekessi stieg durch sie herauf. Doch zum Glück war auch die Decke durchlässig und so konnte der Rauch ins Freie entweichen.
Lieber hätte ich im Stroh unter dem Dach des Schweinestalls geschlafen, aber dort waren die Ratten zu Hause.
Zum Morgenessen kochte der Meister eine große Pfanne voll Milch und stellte sie auf den Tisch. Die drei Knaben, vier-, sechs- und achtjährig, schlüpften aus ihren Betten, verrichteten ihre Notdurft gewöhnlich im Hemd im Garten und deckten dann den Tisch, ohne auf den Gedanken zu kommen, sich zu waschen. Die Milch schöpfte man in Suppenteller und goss etwas kalten Kaffee dazu; dann schnitt man Brot hinein und aß es mit dem Löffel. Endlich erschien auch die Meistersfrau, eine faule Savoyerin von 98 Kilogramm, und zog, fürchterlich gähnend, neben uns die Strümpfe an. Zu Mittag gab’s gewöhnlich Eintopf mit Fleisch, Kartoffeln, ganzen Tomaten, Zwiebeln und anderem. Vor dem Mittagessen mussten die Knaben das Geschirr des ganzen Tages abwaschen. „Oh, wie gerne kehrt ich um!“, hätte ich singen können. Aber ich war zu stolz dazu, da ich doch mit meinen Freunden Abschied gefeiert hatte. Ich hielt es an dieser Stelle ein Jahr aus, da der Meister gut und mit mir immer zufrieden war.
Im Jahr 1908 arbeitete ich dann als erster Hüttenknecht in der neuen Käserei Lyss. Dann hatte ich schon wieder Fernweh und ich fand eine Stelle in der Schlosskäserei Bournelle (Doubs, Frankreich). Hier konnte ich öfters selbstständig käsen und es gefiel mir sehr gut. Die Milch, etwa 2’500 Liter, wurde mit vier Pferden aus sechs Dörfern zusammengeführt. Aber ich blieb auch hier nur ein Jahr, denn ich wurde durch Bekannte nach Mühlhausen in die City-Milchhalle gerufen. Da hatte ich täglich 5’000 Liter anzunehmen, zu kontrollieren und zu pasteurisieren. Von vier Arbeitern war ich der Erste, obschon der Jüngste von allen. Später dachte ich viel an diese Stelle zurück, denn sie wäre eine schöne Existenz für mich gewesen. Doch nach einem Jahr packte mich das Fernweh noch stärker als zuvor und ich fand mit fünf anderen Burschen eine Molkereiarbeiterstelle in Finnland.
Am 28. Oktober 1910 trafen wir uns zu viert in Basel. Als Erkennungszeichen hatte jeder einen Tannenzweig in den Hut gesteckt. Trummer, Rüegsegger und Guggisberg hießen die Kollegen.
Nach Passieren der Grenze um 23 Uhr ging es über Freiburg im Breisgau, Frankfurt, Kassel und Hannover bis Lüneburg, wo wir anderntags um 16 Uhr eintrafen und eine Stunde Aufenthalt hatten. Kartengrüße wurden nach der Schweiz gesandt, dann ging es weiter nach der alten Hafenstadt Lübeck. Schade, dass es auf dieser Strecke schon bald dunkelte, denn der D-Zug durchraste die bekannte Tiefebene, die fast überall mit Heidekraut bewachsene Lüneburger Heide. Am nächsten Tag hatten wir in Lübeck Zeit, die zum größten Teil aus rotem Sandstein erbauten Paläste und Kirchen zu bewundern. Nachmittags, es war ein Samstag, begaben wir uns zum Hafen und bald entdeckten wir zwei Finnlanddampfer.
Die Linea, so hieß unser Schiff, war nicht sehr groß. Sie verkehrte wie ihr Schwesterschiff Primula wöchentlich einmal von Lübeck über Helsingfors (Helsinki) nach Reval und zurück. Sie hatte etwa 50 Passagierplätze und fasste ziemlich viel Frachtgut. Da es Spätherbst war, bestand Letzteres aus einer Unmenge Kohl, Zwiebeln und anderem Gemüse. Mit mächtigen Kränen wurde die Ware eingeladen. Unter den Passagieren fanden wir noch zwei Kollegen, Hess und Zehnder, die wir in Basel vergeblich gesucht hatten. Die beiden waren schon einen Tag früher in Lübeck angekommen. Nun waren wir sechs Burschen, 20- bis 25-jährig, eine fröhliche Gesellschaft!


Endlich war der Weißkohl fertig eingeladen und das Abfahrtssignal erdröhnte. Wir standen vorn am Bug, Rüegsegger spielte auf seinem Schwyzerörgeli und wir sangen nach Herzenslust.
Erst bei Einbruch der Dunkelheit wurde durch einen Kanal das offene Meer erreicht. Als die Ufer unseren Blicken entschwunden und nur noch Wasser und Himmel zu sehen waren, befiel uns Landratten ein seltsames Gefühl. Wir zogen uns ins Zwischendeck zurück, wo die halbe Nacht hindurch musiziert, gesungen und Karten gespielt wurde. Es waren auch drei deutsche Komiker da, welche für heitere Unterhaltung sorgten.
Nach einigen Stunden Schlaf auf harten Bänken wollten wir den Sonnenaufgang nicht verpassen und waren früh wieder an Deck. Bei wolkenlosem Himmel stieg die Sonne, das Auge blendend, aus den Fluten. Das war ein wunderbarer Augenblick, den ich nie vergessen werde! Es war Sonntag und wir dachten wohl alle an die Heimat, an das heimelige Herdengeläut, während die Leute im Sonntagsstaat der Kirche zuströmten. Nach dem Morgenessen war die fröhliche Schar wieder an Deck in Aktion. Der Kapitän sagte: „Ihr Schweizer seid doch ein seltsames Volk.“
Am Nachmittag sahen wir zu beiden Seiten Land. Wir befanden uns zwischen der Insel Öland und der schwedischen Küste, die fast durchwegs bewaldet ist. Auf Öland wird wohl der Getreidebau wichtig sein, denn viele mächtige Windmühlen waren vom Schiff aus sichtbar. Dazwischen gab es viele kleinere, welche vermutlich der Wasserversorgung dienten. Bevor es Nacht wurde, waren wir wieder auf dem offenen Meer und ein Schiff kam direkt auf uns zu. Es war die Primula. Die beiden Schiffe kreuzten sich langsam und die Postsäcke wurden, an Seilen gesichert, hin- und herüber geworfen. Kartengrüße gingen von uns über Lübeck zurück in die Heimat. Dann gab es wieder Volldampf und die Linea war bald wieder allein.
Die zweite Nacht sollte für uns anders werden als die erste. Etwa um 21 Uhr setzte schräg von vorne ein eisiger Wind ein, es fing an zu schneien und das Schiff begann zu schwanken. Wir hatten zunächst Freude daran und gingen ganz nach vorne, damit wir recht hoch und dann tief geschaukelt wurden. Aber das Vergnügen war bald vorbei. In einer Viertelstunde lagen 20 Zentimeter Schnee auf Deck und dann wuchs der Wind zum furchtbaren Sturm heran, der die Wellen so aufpeitschte, dass sie über das Schiff hereinschlugen und den Schnee hinunterfegten. Schleunigst stürzten wir ziemlich nass zurück ins Zwischendeck. Zum Glück hatten wir noch nicht gegessen, denn die Erst- und Zweitklasspassagiere rannten aus dem Speisesaal an die Reling und fütterten die Fische. Dazu bekamen sie von den hereinschlagenden Wellen eine kalte Dusche. Das Schiff lag ganz schief, stieg fortwährend über haushohe Wellenberge hinauf und glitt hinunter. Wir legten uns auf die harten Bänke und mussten uns daran festhalten. Dazu war es im Zwischendeck kalt, denn alle zwei Stunden musste die Türe während einer Viertelstunde offen bleiben: Die Asche wurde in großen Kübeln aus dem Maschinenraum gehoben, von zwei Matrosen auf Deck getragen und über Bord geleert.
Keiner von uns konnte einen Mantel sein Eigen nennen, denn damals galt dies als Luxus. Man war noch nicht so verwöhnt wie heute. Nur Kollege Trummer, der einige Jahre in Russland verbracht hatte, besaß einen Pelzmantel. Er überließ uns diesen abwechslungsweise für eine halbe Stunde; sonst wären wir wohl fast erfroren. Nur Guggisberg war immer guter Laune: „Wenn nur diese Nussschale bald unterginge“, meinte er. Immer stärker und grausamer tobte der Sturm und zwar nun schräg von der Seite. Das Schiff lag so schief, dass man nicht gehen konnte, ohne sich an etwas festzuhalten oder sich gegen die Wand zu stemmen. Auch die bedauernswerten Matrosen hatten mit den mächtigen Aschenkübeln ihre liebe Not. Die ganze Schiffsmannschaft war sehr aufgeregt und wir beobachteten sie mit einem Gemisch von Respekt und Angst. Dazu war uns sterbensübel. Die Linea ging übrigens im September des folgenden Jahres mit Mann und Maus im Sturm unter.
Morgens gegen fünf Uhr legte sich endlich das Unwetter und wir stiegen an Deck, wo uns die frische Luft wohltat. Erst gegen neun Uhr dämmerte der Morgen. Grau war der Himmel von herabhängenden schweren Wolken und grau war auch die Stimmung der sonst so heiteren Burschen.
Außer einem Schiff, das von Helsingfors nach Stockholm unterwegs war, sahen wir den ganzen Tag nur Wasser und Himmel. Als uns abends um 19 Uhr ein Küchenmädchen die Nachricht brachte, dass wir in zwei Stunden an Land sein würden, wurden wir wieder lebendiger. Wir brachten rasch unser Gepäck in Ordnung und sahen bald vom Deck aus einen Leuchtturm aus den Fluten steigen. Nach einer halben Stunde hatten wir das schöne Lichtermeer von Helsingfors vor uns. Die Maschine pustete ruhiger und bald hatten wir den Landungsplatz erreicht.

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