Vater werden ist nicht schwer …

Vater werden ist nicht schwer …

Wie Junior unser Leben auf den Kopf stellte

Ralf Oesterreicher


EUR 17,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 142
ISBN: 978-3-99146-731-1
Erscheinungsdatum: 19.04.2024
In tagebuchartigen kurzen Texten erzählt der Autor, wie er als frischgebackener Vater das erste Lebensjahr seines Sohnes erlebte: von den Anfängen mit einem kleinen, quäkenden Etwas, mit dem er noch nicht viel anzufangen weiß, bis zum ersten Geburtstag.
Die Geburt

Neun Monate konnten wir uns darauf vorbereiten. Aber jetzt ist doch alles anders. Ich laufe mit meiner Frau die Gänge des Krankenhauses auf und ab. Sie geht manchmal etwas nach vorne gebeugt. Ich traue mich aber nicht zu fragen, ob sie schon Schmerzen hat. Wir gehen gemeinsam den Gang der Frauenklinik entlang, vorbei an einem kleinen offenen Aufenthaltsraum, aus dem uns eine Familie anblickt. Ein kleiner dunkelhaariger Junge mit seiner Mutter, die auch sichtbar hochschwanger ist und auf dem Besucherstuhl Platz genommen hat, und dem Vater, der besorgt seinen Blick von meiner Frau zum Bauch seiner Frau schweifen lässt. Sicher fragt er sich, wann es bei ihnen so weit sein wird. Es riecht nach Essen. Und ich frage mich, wie man in so einem Moment an Essen denken kann. Wir gehen weiter den Gang vor bis zu einer großen Empore, von der aus man ins Erdgeschoss hinunterblicken kann. Am Empfang steht ein alter Mann mit einem Bündel Papieren in der Hand. Eine junge Dame nimmt sie entgegen und sie wechseln einige Worte, die ich aus der Entfernung aber nicht hören kann.„Hast Du Schmerzen?“, frage ich meine Frau. Sie atmet schwer, aber in einer gewissen Weise kontrolliert. Das beruhigt auch mich. Eine Antwort bleibt aber aus. Ich schlage vor, die Treppen ins Erdgeschoss runterzugehen. Das soll ja helfen, die Wehen in Gang zu setzen. Sie nickt und wir gehen Stufe für Stufe die breite Marmortreppe herunter. Tamara hält sich am Geländer fest, nachdem ich es ihr angeraten habe. Ich bin ziemlich ängstlich. Vielleicht auch übervorsichtig. Aber weiß der Teufel und sie rutscht jetzt noch aus. Das könnte ich mir nie verzeihen. Unten angekommen, gehen wir langsam den baugleichen Gang Richtung Krankenhausinneres entlang. Wir biegen nach rechts ab, wo wir eine Zwangspause machen müssen. „Ist das jetzt eine Wehe?“, frage ich. Diesmal bekomme ich auch eine Antwort: „Was weiß denn ich? Ich hatte ja noch nie eine Wehe!“ Etwas eingeschüchtert gebe ich mich mit der Antwort zufrieden. So wie sie ihr Gesicht verzerrt und die tiefrote Farbe ihrer Backen lassen den Schluss zu: Ja, das ist sicher eine Wehe. Das ganze Spektakel dauert nur ein paar Sekunden. Und anschließend ist meine Frau erschreckend normal und hält mich an, mit ihr doch endlich weiterzugehen. Ich greife dabei ganz leicht nach ihrer Armbeuge, um sie zu unterstützen. Weiß aber nicht, ob ihr das überhaupt recht ist.

Die Wehen – und nun bin ich sicher, es sind Wehen – kommen jetzt immer öfter. Wie in den zahlreichen Zeitschriften und Lehrbüchern beschrieben, kommen sie in regelmäßigen Abständen. Es wird Zeit, uns wieder Richtung Zimmer aufzumachen. Wir nehmen nun nicht mehr die Treppen, der Fahrstuhl muss als Transportvehikel herhalten. Kurz vor dem Zimmer entscheidet sich meine Frau, gleich den Gang rechts zum Kreißsaal zu nehmen. Auf dem Weg müssen wir noch zwei weitere Male anhalten, bei denen sie sich verkrampft mit der einen Hand in meinen Unterarm krallt und sich mit der anderen an der Flurwand abstützt. Es ist alles andere als schön oder angenehm, so hilflos neben dem Menschen zu stehen, den man liebt, und rein überhaupt nichts Vernünftiges machen zu können, um zu helfen. Schließlich sind wir an der Aufnahme angekommen. Hinter einer großen Glasscheibe sitzt eine dickliche ältere Frau und kramt in Papieren, die auf dem Schreibtisch vor ihr in auffälliger Unordnung liegen. „Ich glaube, die Wehen kommen immer öfter“, versuche ich ihr so selbstsicher wie möglich verständlich zu machen. „Wie geht es denn jetzt weiter?“, verrate ich aber prompt darauf meine völlige Unsicherheit und Unwissenheit.

Die Hebamme, und es ist leider nicht die Hebamme, die uns vor der Geburt begleitet und vorbereitet hatte, sieht meine Frau mit der ein wenig abfällig anmutenden Routine an, die nach Jahren wohl in jedem Job einkehrt. „Da bringen wir besser das Bett Ihrer Frau gleich in den Kreißsaal“, sagt sie mit unveränderter Miene. „Gehen Sie zur Stationsschwester und sagen ihr, dass sie das Bett bringen soll.“

Eigentlich bin ich froh über einen so klaren Auftrag. Endlich kann ich mich beweisen und meinen Teil zu der Geschichte beitragen. Ich führe den Auftrag aus, bin sichtlich zufrieden und mache mich mit einem Gefühl gut erledigter Arbeit wieder auf den Weg in den Kreißsaal. Und das ist es dann auch schon mit dem kurzen Hochgefühl.

Zusammengekauert lehnt Tamara an einem kleinen Sideboard, auf dem eine Kinderwaage mit einer Wärmelampe darüber und andere medizinische Gerätschaften stehen, die ich nicht kenne und die mir auch wenig Selbstvertrauen einflössen. Eine Wehe kommt und geht auch schnell wieder. Das Bett ist immer noch nicht da. Erst nach mir unendlich scheinenden fünf Minuten höre ich das Gespräch zwischen Stationsschwester und Hebamme, die sich über den Stand der Dinge in aller Seelenruhe austauschen. Kurz darauf kommt die Schwester mit dem Bett um die Ecke und platziert es neben dem Kreißbett, das mit ausgestreckten Armen schon die nächste Geburt in Empfang zu nehmen scheint.

Die erste Wehe will Tamara noch im Liegen durchstehen. Aber plötzlich schnellt sie vor meinen Augen wieder hoch und atmet stöhnend vor mir ein und aus. Schweißtropfen rinnen an ihren Wangen hinunter und die Hebamme bietet mir zur selben Zeit einen Hocker an. „Sie müssen doch nicht die ganze Zeit stehen“, ordnet sie an, was die Situation für mich noch surrealer macht. Ich sehe vor mir meine Frau, die sich vor Schmerzen krümmt, und ich soll es mir bequem machen? Ich rücke den Hocker etwa einen Meter vom Bett weg und bemühe mich, ebenso angestrengt zu schauen wie die werdende Mutter. Diese schenkt mir aber nur noch in den Pausen Beachtung. Doch auch da ist meine Angst groß, nicht genügend Anteilnahme zu zeigen oder irgendetwas falsch zu machen. Ich küsse ihren Handrücken und sie schiebt mich weg. Ich nehme meine Hand weg und sie flüstert mir zu, sie ihr wieder hinzuhalten. Wir müssen uns eben erst einspielen, denke ich bei mir.

Die Hebamme kramt nun einiges an medizinischem Gerät zusammen: „Na mal schauen, wie weit der Muttermund ist!“ Der Muttermund? Wie weit er ist? Oh Gott, denke ich, es geht los. Es geht tatsächlich los. „Der Ehemann will dabeibleiben?“, fragt die Hebamme und sieht zuerst meine Frau an und dann mich. Schwer zuzugeben, dass ich in diesem Moment darüber nachdenke, dass ich auch gerne in einer Stunde wiederkommen könnte und dann meinen Sohn auf den Arm nehmen würde. „Ja, ich will mit dabei sein“, sage ich, „aber bitte hinter dem Bett.“

Das ist auch das Stichwort, denn darauf wechselt Tamara von ihrem Krankenbett hinauf auf das Entbindungsbett. Ich ziehe meinen Hocker an eine für mich unverfängliche Position und kurz darauf werden wir wieder allein gelassen. Meine Frau fragt mich leider nicht, ob ich denn nicht nachsehen könne, wann da jemand kommt und endlich das Baby herausholt. Nein, ich muss sitzenbleiben und weiter kalt in meiner Hilflosigkeit baden.

Die Wehen werden nun stärker und die Schreie meiner Frau lauter und herzzerreißender. Jeder einzelne tut auch mir irgendwie weh. Und immer noch scheint bei der Hebamme alles reine Routine. Ja, verdammt, hier entsteht ein neues Leben! Hier kommt unser Sohn auf diese Welt. Was fällt der ein, noch mal rauszugehen? Jetzt telefoniert sie sogar noch.

Sie kommt wieder in den Kreißsaal, sieht meine Frau kurz an und rät ihr zu einer PDA. Wir nicken beide übereinstimmend und die Hebamme ruft eine Ärztin an, gibt ihr die Werte durch und bekommt ein Ok von der anderen Seite. Die Erleichterung ist Tamara sofort anzusehen. Die Schmerzen werden bald ein Ende haben. Nur wenige Minuten darauf erhält die Hebamme einen Anruf, dass es während einer Operation in einem anderen OP zu einer Blutung gekommen ist und es noch 20 Minuten dauern wird. Meine Frau sieht mich an und ich komme mir wieder so hilflos vor. Mir kommt lediglich ein „Wir schaffen das schon!“ von den Lippen. Aber die Verzweiflung ist wohl auch mir deutlich anzusehen. Als die Hebamme nach der nächsten Untersuchung sagt, dass der Muttermund nun sechs Zentimeter geöffnet und es zu spät für die PDA sei, starren wir sie beide nur ungläubig an. Sie nimmt auch gleich darauf den Hörer in die Hand und sagt der Ärztin ab.

Jetzt ist es also amtlich: Wir werden eine Geburt durchstehen müssen wie vor 500 Jahren. Ohne Medikamente, mit der vollen Dosis an Schmerzen und fürchterlichen Schreien. Mir wird es das erste Mal richtig flau im Magen. Die nächste Wehe kommt und so bleibt wenig Zeit, um über die neue Situation nachzudenken. Gott sei Dank eigentlich! Ich selbst kann nun nicht mehr unterscheiden zwischen Wehen, Schmerzschreien, Festkrallen an meiner Hand. Es verschwimmt zu einem Einheitsbrei. Die Hebamme und eine junge Assistenzärztin, die irgendwann unbemerkt dazu geschlichen zu sein scheint, feuern meine Frau an. „Pressen, los, weiter!“ Es ist genau wie in den Filmen, denke ich kurz und werde von den Schreien meiner Frau wieder aus meinen Träumereien gerissen. „Das brauch ich wahrlich nicht jeden Tag“, denke ich bei mir. Aber was wird wohl Tamara erst denken? Denkt sie grad überhaupt? Hoffentlich sitze ich so richtig, dass ich nur das sehe, was ich auch sehen will. Warum dauert das so lange? Läuft wohl etwas nicht richtig? Was, wenn der Kleine nicht gesund ist? Was, wenn meine Frau … Schluss, ich reiße mich zusammen und sehe auf ihre Hände, die sich jetzt fest in die Lehnen des Bettes verkrallt haben. Und sehe auf ihre Haare, die immer wüster aussehen. Sie hat jetzt ihre Wut. Das kenne ich. Gut so. Pressen! Hebamme anschreien: „Ich press’ doch, verdammt!“ Gut so. Schrei es raus. Pressen, Pause. Pressen, Pause. Wie lang denn noch? „Das Köpfchen kann man jetzt sehen“, sagt die Hebamme, „wollen sie es mal anfassen?“ Bei Tamara findet diese komische Frage nicht die geringste Beachtung. Pressen, Pause. Noch mal. Sie schreit, die Hebamme und die Ärztin feuern weiter an: „Noch einmal. Noch einmal!“ Ich glaube ihnen nicht mehr. Das haben sie vorher auch schon ein paar Mal gesagt.

„Schau’n Sie, jetzt ist der da!“ Das sagt sie jetzt so einfach. Ich sehe den kleinen zittrigen Körper, noch verschmiert, die Haut grau und blass, die Augen kleine Schlitze. Die Ärmchen wie kleine dünne Tentakeln, die verzweifelt versuchen, nach irgendetwas zu greifen. Die Beinchen, die sich rhythmisch zusammenziehen und wieder strecken. Hektisch, aber kontrolliert. Er lässt einen kleinen hellen Schrei los und pinkelt auf das Tuch, das die Hebamme am Fuß des Bettes ausgebreitet hat. Ich bin Vater!

Was ist jetzt anders? Nichts, denke ich im ersten Moment. Ich begreife schlicht und einfach das Ausmaß dieser Sache nicht. Aber das werde ich noch! Jetzt geht alles ganz schnell. Ich kauere immer noch auf meinem kleinen grauen Plastikhocker, als mich die Hebamme auffordert, die Nabelschnur durchzuschneiden. Meine Frau blickt mich nun das erste Mal wieder an, seitdem das kleine neue Leben da ist. „Willst du das wirklich?“, fragt sie. Ohne zu antworten und wie in Trance stehe ich auf, gehe einen Schritt nach vorne. Immer bedacht meine Blickrichtung nicht auf die Geburtsstätte zu richten. Die Hebamme gibt mir eine große silberne Schere, wie man sie für Papier nehmen würde, und führt meine Hand zu dem dünnen, schmierigen Seilchen, das links und rechts mit Plastikklemmen gesichert ist. Ich schneide die Schnur durch wie einen dicken Schnürsenkel oder Spargel und habe danach eine tropfende metallene Schere in der Hand. Schwarz tropft eine zähflüssige Masse an den Schneiden hinunter. Es erinnert mich an schmelzende Schokolade. Mir wird schlecht und ich suche nach einer Möglichkeit, das Schneidewerkzeug loszuwerden. Doch die Hebamme steht zwischen mir und der Ablage mit dem anderen Gerät. „Wohin?“, frage ich. Aber für den armen, gequälten Vater scheint keine Zeit. Ich entschließe mich, das Ding einfach aufs Fensterbrett zu legen, und ziehe mich auf meinen Hocker zurück.

Die Hebamme legt das kleine Etwas auf die Brust meiner Frau. Ich versuche irgendwie, einen Blick zu erhaschen und bilde mir ein, der Kleine hat mich erkannt. Mumpitz, aber es beruhigt. Ich lege meine Hand auf die Stirn meiner Frau, streiche sanft darüber und sage: „Du bist jetzt Mama!“ Als ich die Tränen über ihre Wangen kullern sehe, treibt es mir auch das Wasser in die Augen und mein ganzer Kopf wird heiß. Dieses Gefühl geht durch meinen ganzen Körper. Wahrscheinlich ist es Stolz. Wir haben es geschafft.

Die Untersuchungen, das Wiegen und Messen gehen vollkommen an mir vorbei. Eine Schwester packt mich an der Hand und sagt, dass wir das Baby jetzt baden gehen. Ich sehe Tamara noch einmal verzweifelt nach. Aber jetzt muss ich wohl ran. Ich bemühe mich, souverän zu wirken. Aber wahrscheinlich sieht man es mir an. Ich habe von nichts eine Ahnung. Von gar nichts! Die Schwester lässt lauwarmes Wasser in eine kleine gelbe Plastikspüle ein, testet ein paarmal mit der Hand die Temperatur und legt schließlich unseren kleinen Michael ins wohlige Wasserbad. „Und? Was sagen Sie?“, fragt sie mich. Was soll ich denn sagen, denke ich. Hier wird ein winziges Menschlein gebadet, das ab und zu ein bisschen quäkt und sich räkelt. Wir kennen uns ja nicht. Und er sagt auch nichts. Also, was soll ich dazu sagen?

Sie spült den Kleinen vorsichtig ab, entfernt Blutreste und Fuseln und gibt mir den gereinigten jungen Knaben in die Hände. Sie zeigt mir, wie ich den Kopf in meinen Armbeugen ablegen soll. Als stolzer Vater marschiere ich nun zurück in den Kreißsaal, sehe meine Frau liegen, die mich von der Seite anlächelt, und übergebe die wertvolle Fracht wieder der jungen Mutter. Meine ersten Meter als Papa sind geschafft. Und ich auch. Langsam fällt ein bisschen die Spannung von mir ab. Die Mama wird jetzt Ruhe brauchen und soll auch die Zweisamkeit mit ihrem Kind genießen. So mache ich mich, nach einer weiteren Stunde und nachdem Mutter und Sohn sicher im Zimmer untergebracht sind, auf den Weg in das zukünftige Zuhause der jungen Familie. Tag eins ist erfolgreich geschafft.



Der Tag danach

Als ich am nächsten Morgen aufwache, fehlt mir die Orientierung. Ich liege allein im Bett. Ich drehe mich zurück und es schießt mir in den Kopf. All die Ereignisse vom Vortag. Schnell springe ich unter die Dusche, trinke einen starken Kaffee, setze mich ins Auto und fahre die knapp zehn Kilometer ins Krankenhaus. Zu meinem Sohn und meiner Frau.

Als ich das Zimmer 4013 öffne, liegt sie da. In ihrem Bett mit ihm. Sie lächelt mich an. Erschöpft, aber sie lächelt. Sie erzählt mir aufgeregt von den Schwierigkeiten beim Anlegen zum Stillen, dass sie den Kleinen zwei Mal in dieser Nacht gebracht haben, dass sie selbst auch zu unruhig war, um zu schlafen und dass sie das alles immer noch nicht glauben könne. Ich küsse sie auf die Stirn und halte ihre Hand. Dann sehe ich meinen Sohn an und versuche, mich krampfhaft mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass ich nun ein Vater bin. Aber es klappt noch nicht. Das kleine Wesen ist noch so weit entfernt von dem, was ich aus Filmen oder von den herumtollenden kleinen Kindern bei der Verwandtschaft kenne. So zerbrechlich, so wenig. „Hast Du alles? Soll ich Dir etwas holen?“, frage ich. Auch um einfach noch einmal rauszugehen und irgendwie ein wenig Abstand zu bekommen. Ich bin immer noch komplett überfordert von der neuen Situation. Es ist nicht Ablehnung, nicht böser Wille, eher wieder diese Hilflosigkeit gepaart mit Unwissenheit.

An diesem Tag und am Tag davor werden sechs Kinder in der kleinen Klinik geboren. Ungewöhnlich in diesen Zeiten und für uns ein kleines Fiasko. Denn kein Mensch hat die Zeit, uns zu erklären, was wir machen sollen, wenn das Kind schreit, wenn es weint und wie man das überhaupt unterscheidet. Irgendwann schläft der kleine Michael dann friedlich ein. Pause. Erholung.



Die Besuche

In den nächsten Tagen lief es ab wie in wohl jeder neuen kleinen Familie: Jeder wollte einen Blick auf den Nachwuchs werfen und so kamen Opas und Omas, Tanten und Onkel, enge Freunde und Bekannte. Teilweise gleich in solchen Scharen, dass ich mich während der Sturm- und Drangzeiten verdrückte und wieder nach Hause fuhr oder für die kommenden Tage einkaufte. Noch war ich ja Selbstversorger. Aber bald würde meine kleine Familie nach Hause kommen. Dann sollte auch alles bereit sein.

Die junge Mama war nach anfänglicher Euphorie irgendwann auch genervt von den Massenbesuchen und so haben wir alle Beteiligten möglichst subtil darauf hingewiesen, dass sie zwar jederzeit willkommen wären, meine Frau und das Kind aber doch auch mal zur Ruhe kommen müssten. Irgendwie tut es einem Leid, sie wollen ja alle nur das Beste. Aber von dem eben einfach ein bisschen zu viel. So schafften wir es, die Besuche auf ein erträgliches Maß zu reduzieren.

Am vierten Tag hatte Tamara die kleine Hoffnung, endlich nach Hause zu dürfen. Denn ihre Zimmergenossin – auch junge Mutter eines Sohnes, der einen Tag später als Michael und nach endlosen Einleitungen zu Welt kam – schien an ihrem Bett wie festgenagelt und verließ eigentlich nie das Zimmer. Privatsphäre null! Ich konnte das gut verstehen, aber hatte darauf leider keinen Einfluss. Denn als der Kinderarzt nach der U1 bekanntgab, dass Mutter und Sohn aufgrund erhöhter Gelbsuchtwerte auf jeden Fall noch eine Nacht bleiben müssten, sah ich bereits, wie sich Tränen in den Augen meiner Frau ansammelten. Man ist in solchen Momenten einfach hilflos. „Morgen klappt es bestimmt“, hatte ich ihr noch versichert. Aber die Laune war erst mal dahin. Der Rest des Tages war Aufbauarbeit im moralischen wie physischen Sinne.



Abreise

Der Tag der Abreise war gekommen. Meine Frau rief mich wie ausgemacht am Vormittag an und ich packte das erste Mal den Maxi Cosi ins Auto und fuhr in die Klinik. An der Schranke angekommen, drückte ich stolz die Klingel und sagte, ich möchte meinen Sohn abholen. Und natürlich die Frau dazu. Die Schranke ging hoch und als ich im Gang der Frauenklinik an den hochschwangeren Frauen mit ihren hilflosen Männern vorbeiging, wusste ich: Ich bin schon einen Schritt weiter. Aber noch unendlich weit vom Ziel entfernt.

Als ich das Zimmer betrat, empfing mich ein Lächeln, das ich die letzten Tage sehr vermisst hatte. Tamara hatte schon alles gepackt und so mussten wir nur noch die Papiere zum Auschecken ausfüllen und schon ging es zum Auto. Den Kleinen festmachen, Schranke hoch und ab Richtung Heimat. Das Kapitel Krankenhaus war erledigt.



Zuhause

Unser kleiner Sohn war ziemlich unruhig, als wir unser Heim betraten. Von leisen Quäklauten bis zu ausgewachsenen Beschwerdeschreien war alles dabei. Wir schoben es zunächst auf die Aufregung, die neue Umgebung. Aber es war jetzt früher Nachmittag und im Krankenhaus war er da eigentlich immer recht ruhig und brav gewesen. Wir dachten, das geht so weiter. Aber da sollten wir uns täuschen.

Als er nach endlosen acht Stunden zu keinem Zeitpunkt aufhörte zu schreien, rief meine Frau verzweifelt und den Tränen nahe unsere Hebamme an. Eine weitere endlose Stunde später war sie da. Mit ein paar geschickten Handgriffen wickelte sie den Kleinen zu einem handlichen Paket zusammen, legte ihn sich an die Schulter und beruhigte ihn erfolgreich. Es war geschafft – dachten wir. Aber sie war kaum zehn Minuten fort, da war es wieder da: Zuerst das Quäken, dann das Brüllen.
Irgendwann gingen wir dann ins Bett. Sein Beistellbett gut eingeklinkt neben unserem Bett machten wir das Licht aus. Und kurz darauf wieder an. Er wollte nicht aufhören, sich zu beschweren. Ob es Wut war oder Schmerzen oder ob einfach irgendwas nicht passte, wussten wir nicht. Ich hatte zwar ein schlechtes Gewissen, verzog mich aber irgendwann ins Gästezimmer. Es sollte zumindest einer von uns ein bisschen Schlaf finden und fit bleiben. Gegen drei Uhr durchdrang ein wütender Schrei unser Haus. „Kümmer‘ du dich um deinen Sohn, ich will jetzt schlafen!“, so die Anweisung. Ich setzte mich an unseren Kachelofen, nahm Michael abwechselnd auf den einen und den anderen Arm und legte ihn wieder ins kleine Bettchen, das wir im Wohnzimmer stehen hatten, während Tamara auf dem Sofa wohl tatsächlich ein bisschen eingeschlafen war. Nach zwei Stunden musste ich ihrem Schlaf aber dann doch schon wieder ein Ende bereiten. Junior hatte Hunger. Und da ist der Papa relativ unnütz. Sie legte ihn an – das hatte sie schon am zweiten Tag im Krankenhaus ziemlich gut drauf, ist wohl einfach Instinkt – aber zwischen Saugen und Brüllen kam erneut diese Art von Verzweiflung auf, die man erst in solchen Momenten erfährt und die man vorher nicht kennt.

Im Nachhinein sind wir draufgekommen, was das ganze Unglück auslöste: Meine Frau hatte im Krankenhaus Abführmittel bekommen. Und dies wahrscheinlich mit der Muttermilch an Junior weitergegeben. Mit dem Ergebnis, dass Chaos in seinem Magen herrschte.

Der nächste Tag war dann auch schon wesentlich ruhiger und wir haben unser Kind als den netten, ruhigen und zugänglichen jungen Mann kennengelernt, den wir im Krankenhaus so schätzten. Wenn man zu Hause ist und das Kind auch, ist alles anders. Uns haben das auch alle gesagt, aber man ist trotzdem unvorbereitet. Sachen bleiben liegen, sind unwichtig und müssen verschoben werden. Der Rhythmus muss sich erst einspielen.

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