Ethnobombe

Ethnobombe

Michael Exner


EUR 21,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 354
ISBN: 978-3-99146-399-3
Erscheinungsdatum: 23.10.2023
Die „Maaru“: Ein Kreuzfahrtschiff mit Wissenschaftlern an Bord, die ein tödliches Virus enträtseln wollen. Und dann ein Anschlag auf die Passagiere. Tote über Tote. Ein Drama, das kein Ende zu finden scheint ...
Teil 1


Passagierschiff ‚Maaru‘
Westatlantik

Sie saßen in Alvas Büro. Ringstrøm, da Sibo, Lins und Germer beugten sich über einige Stapel von Ausdrucken und versuchten, einen Sinn in den Dossiers zu erkennen. Sara war dabei, eine Liste von Anforderungen für die Labore zu erarbeiten.
„Wir finden einfach keinen gemeinsamen Faktor. Die Spezialgebiete der verschwundenen Wissenschaftler weisen eindeutig darauf hin, dass an dem Virus weitergearbeitet werden soll, aber zu welchem Zweck, bleibt mir schleierhaft.“ Ringstrøm wirkte jetzt wirklich verzweifelt.
Auch Sara war unzufrieden. Die Koordination der Bestellungen für die inzwischen über 140 Wissenschaftler, Ingenieure und Laboranten an Bord der ‚Maaru‘ fraß immer mehr ihrer Zeit.
Sie hob den Kopf: „Hört ihr das?“
Die anderen lauschten. In die entstehende Stille drang ein leises Brummen, das sich langsam verstärkte.
„Sind das die Schiffsmotoren?“ Walos Germer schaute erstaunt. Die ‚Maaru‘ ist ein Kreuzfahrtschiff und eigentlich dazu da, gemütlich mit gedrosselten Maschinen Tausende von Rentnern durch die Weltmeere zu schippern. Jetzt schien irgendetwas den Kapitän veranlasst zu haben, die Geschwindigkeit beträchtlich zu erhöhen. Alva griff zum Telefon. „Da Sibo hier, Kapitän, was … Ja, wir kommen.“
Alle blickten ihn an. „Wir sollen auf die Brücke kommen. Solejow klang besorgt.“
Mauters und Winter waren schon auf der Brücke. Kapitän Solejow telefonierte konzentriert. Dann legte er das Telefon beiseite.
„Ich glaube, jetzt sind wir vollzählig. Ich muss Sie informieren, dass sich in den letzten Minuten eine Situation entwickelt hat, die eine gewisse Bedrohung für uns darstellen könnte. Die Erdbebenzentrale der Region hat uns informiert, dass sich östlich der British Virgin Islands in einem Meeresgraben ein Seebeben ereignet hat. Es ist von mittlerer Stärke, etwa sechs bis sieben. Man hat für die Region eine Tsunami-Warnung ausgegeben.“
„Aber wie kann uns das gefährden?“ Ringstrøm polterte dazwischen. „Wir sind weit draußen auf See, hier hat eine Bebenwelle doch nicht die Kraft, uns in Gefahr zu bringen.“
„Das ist richtig.“ Der Kapitän stimmte zu. „Es gibt allerdings einen Faktor, der schwer einzuschätzen ist. Dieses Beben hat eine Hangrutschung in einem Tiefseegraben ausgelöst, der südlich des Puerto-Rico-Grabens verläuft und in diesen mündet. Das allein wäre kein Problem, denn das Epizentrum des Bebens und die Rutschung sind einige Hundert Meilen von uns entfernt. Allerdings hat die zentrale Erd-bebenüberwachung auf Puerto Rico alle Reedereien informiert, dass dieses Beben einen riesigen Blowout ausgelöst hat, weil Dutzende Quadratkilometer Methanhydrat freigelegt wurden.“
„Ja und? Auch das ist Hunderte Meilen von uns entfernt.“ Ringstrøm ging das alles zu langsam. „Kommen Sie auf den Punkt, Kapitän!“
„Das bewegt sich auf uns zu. Ich weiß nicht, wie das alles zusammenhängt. Aber unsere Reederei versucht, jemanden zu bekommen, der das alles erklären kann. Vor allem jemanden, der uns sagt, wie wir der Bedrohung entgehen können – wenn es denn eine gibt.“
Da Sibo fragte sachlich: „Wie ist die momentane Lage, Kapitän? Wo befinden wir uns, und wohin fahren wir?“
„Wir sind jetzt in dem Bereich, in dem der kleinere Graben, der Virgin Islands Trough, aus südwestlicher Richtung in den Anegada Trough mündet und dann auf den Puerto-Rico-Graben stößt. Die Gefahr bewegt sich also aus Südwesten auf uns zu. Wir sind zum Zeitpunkt des Bebens dem Verlauf des Puerto-Rico-Grabens folgend von West nach Ost gefahren. Im Moment sind wir nach Nordost gedreht, um dem zu entgehen, was da auf uns zukommt.“
Das Telefon klingelte. Solejow nahm ab. Dann schaltete er den großen Monitor an der Wand ein. Anna Kampa, die UN-Generalsekretärin, erschien. „Guten Tag, meine Damen und Herren, wie ich sehe, sind schon alle versammelt, dann können wir loslegen. Wie ist Ihr Kenntnisstand?“
Solejow informierte in knappen Worten.
„Gut, dann wissen Sie genauso viel wie ich. Allerdings wird gerade ein Geologe des Erdbebenzentrums auf Puerto Rico zugeschaltet. Er wird uns die Lage erklären und mit den neuesten Daten versorgen. Zusätzlich kommt noch Captain Charles Connors vom Flugzeugträger ‚USS Oriskany II‘ in die Konferenz.“
Connors, ein weißhaariger, rundlicher Offizier in Uniform, nickte kurz in die Runde.
Dann erschien ein junger Mann mit altmodischer Brille und wirren Haaren auf dem Bildschirm. „Guten Tag, mein Name ist Christiano Molina. Ich bin mit der Lage im Bebengebiet vertraut und habe auch neueste Informationen. Als Erstes eine Frage, Kapitän. Wie ist Ihr gegenwärtiger Kurs?“
„Wir fahren mit Höchstgeschwindigkeit in nordöstlicher Richtung.“
„Schaffen Sie es innerhalb der nächsten zwei Stunden, den Puerto-Rico-Graben zu verlassen?“
Solejow blickte nur kurz zur Karte auf seinem Tisch. „Auf keinen Fall. In zwei Stunden befinden wir uns bestenfalls mitten über dem nördlichen Hang des Grabens, selbst wenn wir komplett auf Nord drehen würden. Die ‚Maaru‘ ist ein Kreuzfahrtschiff und nicht auf Geschwindigkeit ausgelegt.“
„Dann ändern Sie unbedingt Ihren Kurs so, dass Sie in spitzem Winkel wieder über den Grabenboden kommen, dem Sie dann in östlicher Richtung folgen. Ich erkläre das gleich. Und fahren Sie weiter so schnell wie möglich. Jede Meile, die Sie von der Stelle wegkommen, wo die beiden Tiefseegräben aufeinandertreffen, verringert die Gefahr. Wenn noch andere Schiffe in der Nähe sind, warnen Sie diese bitte. Sie müssen sich von den Hängen des Grabens fernhalten. Wenn Sie es nicht schaffen, den Graben zu verlassen, sollen Sie sich im Bereich der größten Tiefe aufhalten und in westlicher oder östlicher Richtung fliehen.“
Connors meldete sich. „Ich muss mit meinem Stab hier auf der ‚Oriskany‘ sprechen. Zusätzlich müssen die Russen informiert werden. Ihre U-Boote dürften es auch kaum schaffen, den Graben zu verlassen. Wir werden außerdem unsere Hubschrauber losschicken, um wenigstens ein paar Ihrer Leute von der ‚Maaru‘ zu evakuieren.“
„Gut.“ Kampa hatte längst die Leitung des Meetings übernommen. „Beeilen Sie sich, wir treffen uns in fünf Minuten wieder.“
„Ich besorge inzwischen die neuesten Daten.“ Molina verschwand.
Es dauerte acht Minuten, dann waren alle wieder da.
„Admiral Connors, was haben Sie erreicht?“ Kampa verlor keine Zeit.
„Die ‚Oriskany‘ war etwa 20 Meilen nördlich auf Parallelkurs zur ‚Maaru‘. Sie hat auf Nord gedreht und wird es aufgrund ihrer deutlich höheren Geschwindigkeit schaffen, den Graben zu verlassen. Ebenso die beiden russischen U-Kreuzer, die den Flugzeugträger begleitet haben. Die anderen U-Kreuzer, die bei der ‚Maaru‘ waren, sind wie diese zu weit weg vom Grabenrand und werden bei dem Kreuzfahrtschiff bleiben. Wir haben nur drei Hubschrauber, die auf dem Kreuzfahrtschiff landen können. Sie sind bereits unterwegs. Leider werden sie nur einen Evakuierungsflug schaffen, da sich die Schiffe auseinanderbewegen. Jeder Hubschrauber kann maximal zehn Leute aufnehmen. Machen Sie eine Liste. In zwanzig Minuten landen wir bei Ihnen.“
Molina staunte: ein Kreuzfahrtschiff, das von einem Flugzeugträger und U-Booten bewacht wird? „Darf ich fragen, was …“
„Nein“, kam kategorisch von Kampa. Dieser Geologe musste wirklich von einer anderen Welt sein. Monatelang waren die Medien voller Meldungen gewesen von dem Schiff, auf dem Dutzende von hochrangigen Wissenschaftlern an der Bekämpfung der schlimmsten Seuche seit Menschengedenken arbeiteten, und dieser Kerl kam aus dem Mustopf.
„Ich habe inzwischen nachgefragt, ob uns jemand helfen kann, wenigstens noch ein paar Leute von der ‚Maaru‘ auszufliegen. Keine Chance. Die Einzigen, die nahe genug wären, sind die Katastrophenschützer auf den Jungferninseln. Die haben aber alle Hände voll zu tun, die Bevölkerung der Küstenregion zu retten, die von dem Tsunami betroffen sein wird. Herr Molina, jetzt bitte Ihre Erklärung dessen, was sich da im Puerto-Rico-Graben abspielt. Und bitte in allgemein verständlichen Begriffen.“
„Ja gut, das Seebeben, das sich vor etwa 40 Minuten ereignete, war zunächst einmal kein massives kurzes Beben, sondern eher eine Folge von mehreren kleinen und mittleren Beben, ein sogenanntes Schwarmbeben. Das Epizentrum lag nicht sehr tief, sondern nur knapp unter dem Meeresboden auf Höhe der Virgin Islands, was an sich schon ungewöhnlich ist. Wir sind noch dabei, es zu analysieren.“
„Gut, wenn Sie etwas herausbekommen haben, lassen Sie es uns wissen. Jetzt bitte nur die bekannten Fakten.“ Kampa bremste Molina aus, bevor er sich in Spekulationen erging.
„Das Beben, das mehrere Minuten dauerte, löste einen sogenannten Storegga-Effekt aus. Das ist eine massive Hangrutschung an beiden Hängen, also nördlich und südlich des Grabenbodens. Die beiden Schlammlawinen vereinten sich in der Mitte des Grabens. An beiden Seiten des Grabens wurden einige Hundert Quadratkilometer eines Sediment-Methanhydrat-Gemisches freigelegt, aber auch Millionen Kubikmeter dieses Gemisches mitgerissen. Das Methaneis, wie man es auch nennt, ist dadurch aus seinem einigermaßen stabilen Zustand gebracht worden und fast explosionsartig in seine Bestandteile zerfallen, Methan und Wasser. Das hatte einen gewaltigen Blowout zur Folge. Weiterhin haben sich die beiden vereinigten Schlammlawinen am abschüssigen Grund des Grabens in Richtung Puerto-Rico-Graben in Bewegung gesetzt. Auf seinem Weg wird die Lawine große Teile des Grabenbodens und seiner Böschung mitnehmen. Aufgrund der starken Abschüssigkeit wird die Lawine an Geschwindigkeit und Mächtigkeit ständig zunehmen und mit einer kaum vorstellbaren Gewalt in den Puerto-Rico-Graben einbrechen. So weit die schlechten Nachrichten.“
Christiano Molina brachte eine Reliefkarte zum Vorschein. „Hier sehen Sie die beiden Gräben, um die es geht. Ich habe die Karte um knapp 90° gedreht, damit man besser sehen kann, was dort geschehen wird. Östlich der Virgin Islands ist der kleinere Graben nur etwa 3000 Meter tief, fällt dann aber bis zum Puerto-Rico-Graben auf etwa 6500 Meter ab. Auf diesem Weg wird die Schlammlawine ständig an Energie, Größe und Geschwindigkeit gewinnen. Wenn sie den Puerto-Rico-Graben erreicht hat und sich dann in östlicher Richtung bewegt, ist der Grabenboden nicht mehr abschüssig, sondern verliert sogar leicht an Tiefe. Deshalb meine Empfehlung, sich so schnell wie möglich in Richtung Osten zu bewegen, weil die Lawine hier mit der Zeit langsamer wird und an Masse verliert, weil die schwereren Bestandteile zurückbleiben bzw. liegen bleiben. Noch ein Wort dazu, warum Sie über dem Grabenboden bleiben sollten. Die größte Gefahr geht von dem permanenten Blowout aus, den die Schlammlawine auslöst. Am stärksten ist dieser über den Hängen des Grabens, weil hier das meiste Eis lagert. Am Boden entsteht das Methangas in erster Linie durch mitgerissenes Material, das einen großen Teil seiner Methanhydrat-Fracht schon verloren hat. Deshalb sind hier die Chancen am größten, dem Untergang zu entgehen.“
Molina war fertig. Niemand sagte etwas. Alle waren wie betäubt. Sara fing sich als Erste. „Wir müssen die Liste erstellen.“
„Dreißig Leute von zweihundertachtzig.“ Mauters war entsetzt.
Es stellte sich heraus, dass niemand evakuiert werden wollte. Da Sibo schüttelte den Kopf. „Verstehst du das, Sara?“
„Ich glaube schon. Willst du gerettet werden, wenn vielleicht alle Zurückgebliebenen sterben? Das schleppst du den Rest deines Lebens mit dir herum.“
Kapitän Solejow ließ sich auf keine langen Diskussionen ein. Er legte fest, dass die dreißig Jüngsten an Bord auf die ‚Oriskany‘ ausgeflogen werden. Wer protestierte, wurde einfach in die Hubschrauber gestopft. Solejow entwickelte dabei eine Zielstrebigkeit, die niemand dem laschen Kapitän zugetraut hätte.
Als der letzte Hubschrauber abflog, tauchten nach und nach sieben Kanew-Kreuzer auf.
So etwas hatte noch keiner von ihnen gesehen. Jeder kannte U-Boote zumindest von Bildern, immer zigarrenförmig mit dem Turm obendrauf. Was hier zu sehen war, hatte damit nichts mehr zu tun. Sechzig Meter lang, flach und im vorderen Drittel fast 30 Meter breit, eher an Flundern oder Rochen erinnernd, lagen sie träge in der Sonne. Auf Höhe der größten Breite sind zwei flache Buckel, nur etwa drei Meter hoch. Das ist wahrscheinlich die Entsprechung der Türme an klassischen U-Booten. Das verstärkte noch den Eindruck, man hätte es hier mit riesigen Tieren zu tun. Es war keine Farbe zu erkennen. Je nachdem, wie das Licht einfiel, schimmerten sie in blauen, grünen oder dunkelroten Tönen.
„Wahrscheinlich irgendeine Beschichtung gegen Sonarortung“, vermutete Sara.
„Wenn die nicht gewesen wären … Jetzt gehen sie vielleicht mit uns unter. Warum sind sie aufgetaucht?“
„Ich nehme an, sie können das Inferno, das uns erwartet, an der Oberfläche besser überstehen.“
„Oder die Besatzung kann wenigstens aussteigen, wenn sie havariert sind.“
Da Sibo schüttelte den Kopf. „Aussteigen mitten in einem Blowout?“
Von Achtern näherte sich ein Geräusch. Eine Mischung aus Rauschen und Zischen, dazwischen dumpfe Explosionen. Eine gewaltige Nebelwand verdeckte den Horizont und schien bis in den Himmel zu reichen. Dünne, verästelte Blitze zuckten in der Wand, Ergebnis der elektrostatischen Aufladung durch die enorme Geschwindigkeit, mit der das Methangas-Wasser-Gemisch in die Atmosphäre gerissen wurde. Ab und zu gab es über dem Wasser Feuerbälle, wenn ein paar Kubikmeter Gas entzündet wurden.
Sara und Alva gingen mit den Letzten unter Deck. Dann sackte das Heck der ‚Maaru‘ einfach weg.


Fünf Monate vorher
New York City

Kampa starrte immer noch hin. Ihr wurde nicht bewusst, wie hilflos sie wirkte. In den Medien zeigten sie seit Stunden immer dieselben Bilder. Im Moment war es Kalkutta. Am Straßenrand Berge von aufgedunsenen Leichen, Schwärme von Fliegen, Helfer in weißen Anzügen, Gesichtsmasken.
Ihr fiel Albert Camus ein – so ähnlich musste es im Mittelalter bei den großen Pestepidemien ausgesehen haben.
Sie war erst seit 4 Wochen im Amt, und dann gleich das hier. Als wenn die Wasserkriege nicht schon schlimm genug wären.
Hinter ihr meldete sich Caspian: „Der Stab wartet.“
„Ja, was sonst!“, entfährt es ihr gereizt. Natürlich wartet der Stab. Seit 8 Tagen jagte eine Sondersitzung die andere. Pure Hilflosigkeit. Allerdings gab es immer etwas Neues, doch nichts ergab ein Bild.


Passagierschiff ‚Maaru‘
Kleine Antillen

„Morgen wollten wir in Barbados anlegen.“ Da Sibo war sauer. Dieser schmierige Kapitän wand sich wie ein Aal.
„Die Reederei hat Anweisung gegeben, auf offener See zu bleiben, Professor. Wir müssen jedem Risiko aus dem Weg gehen. Natürlich in erster Linie im Interesse unserer Passagiere.“
„Sie verdammter Feigling.“ Da Sibo begann ganz leise. Und dann wütend und immer lauter: „Auf Barbados wurden noch keine Infektionen gemeldet. Dann hat jeder hier seine Verpflichtungen und Zeitpläne. Und noch etwas: Wie wollen Sie, wie will Ihre verdammte Reederei der Öffentlichkeit erklären, dass da draußen die Leute zu Tausenden infiziert werden und jämmerlich sterben, während hier auf Ihrem Kahn zwanzig der besten Mikrobiologen in der Sonne liegen und sich am Hintern kratzen?“ Dann stellte Solejow diese Frage; „Infektion? Woher wollen Sie wissen, dass es eine Epidemie ist?“
Da Sibo drehte sich einfach um und ging nach achtern. Dort würden sie alle sitzen und zum hundertsten Mal alle Neuigkeiten durchkauen.
Unterwegs fing ihn Sara ab: „Mann Alva, ziehst du ein Gesicht“, maulte sie. „Mach mal ein bisschen Sonnenschein, wir haben gleich ’ne Videokonferenz mit New York, die wollen uns im Krisenstab haben.“
Er mochte Sara, sie ist klein, hübsch und quietschlebendig, leider aber auch anstrengend, weil mitunter aufdringlich und vorlaut. Aber sie ist auch die Assistentin von Prof. Elaine Mauters und damit gelegentlich ganz nützlich. Sie arbeiteten im selben Institut in Pittsburgh, kannten sich aber vor der Schiffsreise nur vom Sehen.
Im Konferenzraum quatschten alle durcheinander. Es war laut, es stank nach Schweiß und Qualm. Da Sibo war wohl der Einzige, den das störte. Misstrauisch blickte er zum Klimaschacht. Die Anlage war an, aber offensichtlich hoffnungslos überlastet.
Das Standbild auf dem Monitor wich einem freundlichen asiatischen Gesicht. Natürlich Caspian Shen, der Privatsekretär der UN-Chefin. Er begrüßte alle, stellte sich formvollendet vor und gab die bisher bekannten Fakten langatmig wieder. Da Sibos Aufmerksamkeitspegel sank rapide.
„Warum macht er das?“, sinnierte er und gab sich der Vermutung hin, dass es noch neue und uninformierte Teilnehmer der Konferenz gab.
„Da wir jetzt alle auf demselben Stand sind, können wir in die Diskussion eintreten. Vorher möchte ich Ihnen noch die angeschlossenen Standorte zeigen.“ Eine Weltkarte erschien mit einer Reihe von hervorgehobenen Punkten.
„Mann“, staunte Sara. „Das sind mindestens 20, reife Leistung bei dem Chaos!“
Die Mikrofone waren wohl schon offen, sodass Shen sofort reagierte: „Tatsächlich sind es 22, und zwar weltweit. Wir hoffen, dass es in den nächsten Minuten noch mehr werden.“
Ein müdes Gesicht erschien auf dem Schirm: „Anna Kampa“, stellte sie sich sinnloserweise vor. „Ich möchte Ihnen, bevor die Experten zu Worte kommen, das Ergebnis der heutigen Ratssitzung bekannt machen. Die Bildung dieses Krisenstabes ist das eine. Hier werden in einer möglichst großen, weltweiten Vereinigung von Instituten, Hilfsorganisationen usw. in erster Linie Daten gesammelt. Wir wollen überhaupt erst einmal begreifen, mit welcher Heimsuchung wir es zu tun haben und wie sie bekämpft werden kann. Es geht hier ausschließlich um den wissenschaftlichen Aspekt. Zum Zweiten: Die logistischen Probleme wie die Entsorgung der Toten, die Versorgung der übrig gebliebenen Bevölkerung, die Verhinderung bzw. Bekämpfung von Sekundärseuchen obliegt anderen Krisenstäben. Wir werden uns natürlich gegenseitig zuarbeiten. Die gesammelten wissenschaftlichen Daten werden zentral an das Kreuzfahrtschiff ‚Maaru‘ gesandt. Ich weiß nicht, ob ich es einen glücklichen Umstand nennen soll, aber zum Zeitpunkt des Seuchenausbruches fand auf dem Schiff eine internationale Konferenz zu einem aktuellen mikrobiologischen Thema statt. Das heißt, dort ist zurzeit ein großer Teil unserer besten Virologen und Epidemiologen an Bord. Das Schiff wird weiter in internationalen Gewässern kreuzen und nähert sich weder dem Festland noch irgendeiner Insel. Die ‚normalen‘ Passagiere und ein großer Teil der Besatzung werden ausgeflogen. Es wird einiges an zusätzlicher Ausrüstung unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln an Bord geschafft werden, besonders, um der Datenflut Herr zu werden. Vielleicht können wir später einige Techniker an Bord bringen, aber im Moment ist die Gefahr einer Infektion zu groß. Sie sind also erst einmal auf sich gestellt.“
Da Sibo fühlte sich regelrecht betäubt. Irgendwie war alles, was in den letzten Tagen auf ihn eingeprasselt war, weit weg und sehr theoretisch. Jetzt betraf es ihn direkt. Er war Gefangener auf diesem Kahn. Zwar ein Luxusgefängnis, aber ein Gefängnis. Andere dachten ähnlich: „Können nicht wenigstens unsere Familien … Hier ist doch Platz genug!“, begehrte eine Frau auf.

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