Silent Moon

Silent Moon

C. E. Adler


EUR 20,90
EUR 16,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 402
ISBN: 978-3-99146-109-8
Erscheinungsdatum: 31.05.2023
Nach Janies heißer Nacht mit dem faszinierenden Hotelmanager Marc erwacht sie allein – doch kann er sie tatsächlich so schnell vergessen? Und von wem stammen die gefährlichen Drohungen? Der erste Band der Silent-Reihe, einer Serie von erotischen Liebesabenteuern.
Kapitel 1
47 Tage vor dem Geständnis

Jeder hat doch diesen Song. Diesen einen, unnachgiebigen Ohrwurm, von dem man denkt, dass er einem niemals im Leben auf die Nerven gehen könnte. Jenen unersetzlichen Lieblingshit, den man tagelang, oft wochenlang rauf und runter hört und ihn schließlich dummerweise auch als Klingelton einrichtet.
Bei mir war das zu dieser Zeit „Counting Stars“ von der Band „OneRepublic“. Nicht nur, dass ich der Melodie sehr viel abgewinnen konnte, sondern auch dem zu meiner Gefühlswelt exakt passenden Text. Der Popsong handelt davon, seine Träume zu verwirklichen, und was das betraf, saß ich in einer absoluten Zwickmühle fest, ohne Strukturen oder Eingebungen für einen Ausweg.
Mutlos, dachte ich.
Unentschlossen würde ich es heute nennen.
Paradoxerweise fühlte ich hingegen schon eine ganze Weile, dass sich etwas anbahnte. Ich weiß, im Nachhinein erklärt sich das immer leicht, aber es war ein deutlich mulmiges Gefühl in der Bauchgegend, das ich anfänglich nur meiner gegenwärtigen Machtlosigkeit zuordnen sollte. Okay, und vielleicht war ich eine Träumerin. Aber eine von der Sorte, die keine Luftschlösser baute und wusste, dass sie für ihre Verwirklichung handeln musste. Der Impuls war also da. Nun war es höchste Zeit, diesem zu folgen.
Spätestens an diesem Samstag jedoch sollte das Gedudel der „zu zählenden Sterne“, das mir mein melodiöses Smartphone entgegenschmetterte, für den kurzen Wunsch nach „Spiel mir das Lied vom Tod“ sorgen. Wenige Minuten später, als mein Kopf noch immer mit der Kraft eines Bergkegels am Kissen haftete, besiegelte das erneut unsanfte Brummen meines Geräts letztlich das endgültige Ende meines kurzen Komas. Verschwommen leuchtete mir „Sweethearts“ alias Leylas Nachricht gemein grell in meine müden Augen, nachdem sich langsam wieder etwas Leben in meinen Gliedern breit gemacht hatte:

„Für dich, von Mark Twain: Die größte Macht
hat das richtige Wort zur richtigen Zeit.
Und das hier ist von mir: Aufstehen!“

Es musste also wirklich wichtig sein, wenn sie dazu extra nach einem Zitat meines verehrten Schriftstellers gegraben hatte! Dennoch hatte ich ihre originelle Botschaft erstmal passiv weggedrückt, worauf sich die eisblauen Zahlen ohnehin nochmals scharfglühend aufdrängen sollten.
„11.38 Uhr“ konnte ich dem unbarmherzigen Display entnehmen, bis auch der Rest meines Oberstübchens es schließlich endlich schnallen sollte. „Scheiße! Verschlafen!“, hörte ich mich fluchen, während meine Beine sich auch schon mit einem überraschend flinken Ruck über den Bettrand stemmten. Und obwohl ein Teil von mir respektvoll über Leylas Worte grinsen musste, war mir gerade überhaupt nicht nach Lachen zumute.
Da war doch irgendwas, schoss es durch meine irritiert verschlafene Birne, als ich aufgewühlt ins Badezimmer hetzte. Und wie lange ich wohl letzte Nacht nur wieder an dem Artikel geschrieben hatte? Im detailbesessenen Arbeitseifer hatte ich – wie schon etliche Male zuvor – völlig vergessen mir einen Termin zu setzen. Margo, unser Mädchen, hatte mir schon mehrfach angeboten, sie mehr einzuspannen. Aber ich fand, dass ich mit fünfundzwanzig – bald sechsundzwanzig – alt genug war, solche Dinge selbständig zu regeln.
Oder eben nicht, wie ich an jenem Tag noch unzufrieden feststellen musste.
Klar, wir „Geldsäcke“ sind privilegiert. Glücklicherweise sollte ich das meistens zu schätzen wissen. Nichtsdestotrotz sind wir für viele Außenstehende verständlicherweise nicht zu Unrecht die „High Society“. Großkotzige Schickimickis der Upperclass, die außer Shoppen, Partys und von Beruf Töchter oder Söhne nicht viel Brauchbares vorzuweisen haben. Nun, in meinem Fall stimmte das derzeit in gewisser Weise ja sogar. Bis auf meinen Wirtschaftsabschluss – und meinem verborgenen Schreiberdasein – hatte ich nichts wirklich Lohnendes vorzuweisen. Aber genau das war doch der Grund, warum ich mich immer mehr gegen diese Privilegien sträubte. Es war ein Zwiespalt, eine innere Disharmonie, wenn man so will, weil ich einerseits kein anderes Leben kannte, viele Annehmlichkeiten leider als allzu selbstverständlich betrachtete und andererseits in diesem System nirgendwo richtig dazugehörte.
Chaotisch. Unbrauchbar, um nur zwei meiner damaligen Gedankengänge in diesem Zusammenhang zu benennen.
Für immer hat sich jene Episode aus meiner Kindheit ausnahmslos negativ in meiner Seele verankert, als ich mein „privilegiertes“ Leben mit gerade einmal sechs Jahren zum ersten Mal näher zu hinterfragen begonnen hatte.
Nachdem ich am Strand mit einem eher verwahrlosten Jungen gespielt und unglaublichen Spaß gehabt hatte, war mein Vater wie ein Verrückter auf mich zugelaufen, um mich von dem Buben wegzureißen. Die Klatscher auf meinem nackten Po, die er mir danach im Haus verpasst hatte, kann ich heute manchmal immer noch viel zu deutlich hören.
Völlig verstört war ich danach heulend in eine Ecke gekrochen, während mein Vormund wutentbrannt seine Regeln aufstockend bekräftigt hatte: „Janie Elizabeth Clear! Du sollst doch nicht mit Fremden spielen! Schon gar nicht mit verwilderten Kindern aus der Gosse! Nie wieder!“
Die Weltanschauung dieses durchgreifenden Mannes, der sich auch noch mein Vater nennen durfte, sollte mich ab da noch häufiger bis ins Mark erschüttern.
Aber wie hätte ich damals begreifen sollen, worum es ihm in Wahrheit ging? Ich hätte von selbst bestimmt nie groß darüber nachgedacht, wie andere Kinder aussahen, woher sie kamen, aus welchen Verhältnissen sie stammten. Doch als Einzelkind dieses starrköpfigen Milliardärs wurden seine Prinzipien faktisch zu meinem primären Lebensinhalt. Darum durfte ich auch immer nur freitagnachmittags bei den inszenierten Treffen meiner Eltern auserwählte Sprösslinge der „Oberschicht“ zum Spielen haben. Und dabei wäre ich einfach nur allzu gerne unbekümmert mit allen anderen Kids am Strand herumgelaufen, um mich mit ihnen gemeinsam beim Sandburgbauen schmutzig zu machen. Stattdessen war es mir ausdrücklich nur gestattet, mit der besseren Gesellschaft manierlich beim Eistee zu sitzen oder mit edlen Puppen zu spielen.
Eigentlich, wie mir inzwischen wieder eingefallen war, hatte ich Leyla für heute zugesagt, bei ihr zu Frühstücken und ihr danach beim Kleid-Aussuchen zu helfen. Aber zum Glück kannte sie mich mehr als gut. Wir waren seit der Grundschule unzertrennlich und unsere Familien schon seit Ewigkeiten miteinander befreundet. Meine Eltern vertrauten ihnen uneingeschränkt. Sie war auch die einzige Freundin, die ich nicht nur bei Freitagstreffen hatte sehen dürfen. Ihr Vater, Michael Tanner, gehört mitunter zu einem Stab der besten Anwälte New Yorks. Dad nannte ihn oft den „Tanner-Hai“, was natürlich von seiner erfolgsgekrönten Beharrlichkeit herrührte. Leyla war sein eindeutiges Ebenbild, was man von mir und meinem Gebieter nachweislich absolut nicht behaupten konnte.
Zähne putzend und dabei immer wieder mintfarben gepunkteten Zahnpastaschaum ins weiße Waschbeckenporzellan spuckend, versuchte ich erstmal meine grauen Zellen zu aktvieren. Doch dann sollte mich der Umschlag auch schon gemein plakativ anglotzen. Er lag direkt neben der Keramik, zwischen meiner Auswahl an buntgemischten Nagellacken, und glänzte fast aufdringlich mit seinem qualitativ hochwertig folierten, leicht angeberischen und dennoch schlicht gehaltenen Design in meine Richtung:

„Mr. und Mrs. Hayden-Powers,
für die POWERS-Development-STIFTUNG
19., jährliches Gala-Dinner
zur Förderung des NCIC-Kinderkrebsinstitut
Samstag, 03-14-2015, 07:00 pm
Veranstaltungsort: The Grace House, NY“

Das war heute! Ich wusste doch, dass da etwas war! Dad meinte, dass ich mich dort auf jeden Fall blicken lassen muss. Wieder ein verdammt wichtiges Geschäft, bei dem er so richtig zuschlagen kann. Sozusagen ein „Mach-Dad-glücklich-Dinner“.
Es waren leider die einzigen Details, die ihm wichtig waren! Meine Güte, alles so harmlos und geradezu lächerlich einfach, um es in seinen Worten zu beschreiben. „Lächerlich“ war eines seiner Lieblingsworte. Seinen Vorstellungen zu entsprechen, sich an seine „Regeln“ zu halten, sollte doch ein reines Kinderspiel sein, nicht wahr? Aber vor allem seiner Meinung zu sein. Es nicht zu sein war einfach nur „lächerlich“, was sonst.
Doch in den letzten Monaten hatte ich heimlich schon viel zu oft an meinen leichtsinnigen Stories herumgefeilt, zu viele Nächte mit dem verbotenen Schreiben verbracht. Tabu natürlich deshalb, weil mein Herr und Meister nichts davon wissen durfte. Seit meinem Wirtschaftsabschluss drängelte er, dass ich in seine „Clear High Level Company“ einsteigen, Erfahrungen sammeln und Karriere machen sollte. Die vielen Streitereien meiner Liebe zum Schreiben wegen waren in der Vergangenheit nicht gerade von Erfolg gekrönt. Die Tochter des großen Richard Clear als „Wortdrechslerin“ – um es wieder in seinen Worten auszudrücken – eines dieser schmutzigen Schundblätter? Unmöglich! Lächerlich! Wie hätte seine Meinung auch anders sein können? Er selbst war damals bereits von seinem Oberhaupt, meinem Großvater, in diese künftige Schiene gedrängt worden und hatte das Imperium zu seinem Lebensinhalt gemacht.
Demzufolge hatte er eben seine eingefleischten Lebensregeln, die sein und damit unweigerlich auch unser aller Leben bestimmten. Ergänzend formuliert somit das Leben von mir, meiner Mutter und all seinen Untergebenen. Darum war es geradezu schlüssig, dass er sich in dieser Hinsicht niemals von seinen Zielen abbringen lassen würde, geschweige denn, sich jemals ändern könnte. Letztendlich war es eine unausweichliche Tatsache, dass er uns damit zu seinen Opfern machte. Vernichtend.
Ich schrieb trotzdem weiter. Woche für Woche. Ich schob die Bombe vor mir her, wohl wissend, dass sie irgendwann hochgehen konnte. Und ernüchtert sollten sich meine Erkenntnisse ab jenen Tagen in eine lautere Rebellion wandeln.
Und wenn ich ihn einfach vor vollendete Tatsachen stelle? Wenn ich ihm keine Wahl lasse? Was würde er dann tun? Alles wieder auf meiner Mutter abladen? Das kann ich nicht zulassen. Mich rauswerfen und enterben? Mir alle Kreditkarten wegnehmen? Ja, ich bin überzeugt, er wird’s. Gefangene der Macht und des Geldes. Erbärmlich.
Mitunter waren jene Schlussfolgerungen bestimmt auch Anstoß für meine künftigen, fragwürdigen Entscheidungen. Man hat doch immer eine Wahl. Impulsiv, leichtsinnig und kopflos sollte ich den gnadenlosen Nervenkitzel wählen. Davon wusste ich allerdings in diesem Moment noch nichts.
Das vertraute Klimpern der „Counting Stars“ beendete meine unbequemen Gedanken. „Guten Morgen Leyla-Darling!“, schäumte ich noch Zähne putzend ins Gerät.
„Was heißt hier guten Morgen? Mahlzeit wäre wohl die angebrachtere Bezeichnung, Miss Clear. Haben Sie es also doch noch geschafft, sich meiner mächtigsten Worte zu besinnen, Sie miese Versetzerin?“, krächzte sie vorwurfsvoll, aber zum Glück noch immer mit vertrautem Gutmütigkeitsunterton.
Gedanklich konnte ich ihr selbstverständlich nur beipflichten. Für das von mir versprochene Frühstück von heute Morgen war es definitiv schon etwas zu spät.
„Schuldig im Sinne der Anklage, Miss Tanner! Aber in Anbetracht dessen, dass ich die toleranteste und beste rechtsberatende Freundin an meiner Seite habe, darf ich davon ausgehen, dass Sie selbstverständlich Gnade walten lassen, mich von meinen leichtsinnigen Versäumnissen freisprechen und – oder gerade deswegen – mildernde Umstände zubilligen!“ Erneut Schaum ausspuckend wartete ich auf die Reaktion, falls man mich verstanden hatte. Unzählige Partikel von Zahnpastaspucke klebten dank meiner kreativen Ansprache nun auch am Badezimmerspiegel. So leise ich konnte kicherte ich am Hörer vorbei.
„Nachdem du nun also überraschenderweise das absolut Richtige gesagt hast, würde ich vorschlagen, dass du jetzt auf der Stelle zu Barreys rüberfährst. Dort angekommen wirst du das für mich coolste Outfit dem heutigen Anlass entsprechend herausfiltern und dann, aber auch nur dann, darfst du mich vielleicht weiterhin als deine dich unterstützende Lawyer-Leyla betrachten. Deal?“ Ihre bestimmenden Anliegen ließen wenig Platz für Verhandlungsspielraum. Und wenn sie sich als „Lawyer-Leyla“ auszugeben begann, war das meistens kein gutes Zeichen für Kompromisse.
„Nur wenn ich vorher etwas essen darf? Ich verhungere!“, versuchte ich dennoch waghalsig etwas dabei für mich herauszuschlagen. Doch es war wörtlich gemeint. Mein letzter Bissen lag schon mehr als vierundzwanzig Stunden zurück. Und Leyla musste gottlob nicht einmal dazu überredet werden, immerhin schuldete ich ihr noch die wichtigste Mahlzeit des Tages.
Zähnefletschend, in den schaumbesprenkelten Spiegel glotzend, hörte ich noch ein krächzendes Geräusch, bevor sie schließlich aufgelegt hatte. Mit einem feuchten Lappen wischte ich das hässliche Spuckemuster erstmal ab. Nachdenklich drehte ich darauf meinen Kopf in alle Richtungen, ohne dabei meine dunkelblauen Augen im Spiegel zu verlieren. Dann rieb ich mir mit den Händen im Gesicht herum, als wollte ich fettige Creme einmassieren. War ich dünner geworden? Skeptisch betrachtete ich meinen Oberkörper im Spiegelbild. Der Bauch war etwas eingefallen. Brusttechnisch war alles da, wo es sein sollte, aber die Zwillinge kamen mir ein wenig kleiner vor, was mich bei Körbchengröße „C“ nicht unbedingt nervös machte. Irgendwie sah ich nicht topfit aus, fand ich. Meine Haare waren mir schon etwas zu lang und den guten alten Sport hatte ich auch nicht mehr regelmäßig gemacht.
Vor etwas mehr als sechs Monaten hatte ich nach langem Hin und Her dem zweiten Tyrannen in meinem Leben, namens „Eric“, den Laufpass gegeben. Eine längst überfällige Entscheidung, wie ich kurz darauf erleichtert festgestellt hatte. Auf diese Weise waren die allerersten Schritte in Richtung Freiheit getan. Dachte ich jedenfalls. In den darauffolgenden Monaten hatte ich als bejahender Single fast jede freie Minute mit dem „verbotenen“ Tippen von Texten verbracht. Mehr Zeit als mir eigentlich zustand. Aber war es nicht gerade deshalb so reizvoll, weil es so verboten war? Das mochte vielleicht am Anfang so gewesen sein, aber mit der Zeit wurde es zu einem ganz schönen Nervenkrieg.
Seit fast einem Jahr war ich nun schon „undercover“ als „JayJustice“ bei Meetspace News, einem mehr oder weniger angesehenen Magazin. Ich wusste, dass die High Society dieses Blatt abwertete und eigentlich war es genau das, was mich am meisten reizte. Ebenfalls Teil dieser unwirklichen Gesellschaft zu sein, hatte unaufhaltsam eine verborgene Rebellin aus mir gemacht. Bislang musste ich mich ja noch verdeckt halten.
Keine Frage, die Vorteile, die der Reichtum mit sich brachte, waren unumstritten. Damit war mein Vater natürlich nicht im Unrecht. Denn alles, was man mit Geld kaufen konnte, war für ihn immer schon einfach gewesen. Ich hätte in seinem Sinne einfach nur dafür dankbar sein sollen. War ich ungerecht, wenn ich es dennoch nicht schaffte? Ich wollte es zu jener Zeit nicht zu Ende denken. Was meiner chaotischen Seele noch weniger diente, war natürlich die Heimlichtuerei, mit der ich mir Zugang in ein anderes Leben erlaubte. Ich fühlte, dass sich etwas ändern musste, und derartige Impulse haben meist einen kleinen Kick nötig! Einen Arschtritt sozusagen, der sich schneller annäherte als vorauszusehen.

Abends, als Leyla und ich schon aufgebrezelt in der Limousine saßen, fielen mir erst wieder meine mehr als fragwürdig lackierten Fußnägel auf. Den ganzen Nachmittag war ich derart chaotisch umhergehetzt, dass ich es wahrhaftig nicht bemerkt hatte! In einem monatlichen Anflug von Hormonschüben, Müdigkeit und unter dem Einfluss etwas zu lauter, aggressiver Musik, musste ich die Farbe wohl milder eingestuft haben. Giftgrün stach mir das Ergebnis von meinen Zehen neben den weißen Riemchen meiner hochhackigen Sandaletten jedenfalls penetrant auffällig entgegen! Was hatte ich mir nur dabei gedacht?
Leyla schien meine Gedanken zu hören, denn im selben Moment schnaufte sie mit merklich schwarzhumorigem Unterton: „Sind wir unter die Punks gegangen oder was sonst hat Sie dazu veranlasst, sich mit derart leuchtgrünen Fußnägeln in die High Society zu mischen, Miss Clear?“ Ihre linke Augenbraue zog sie dabei zweckgemäß weit nach oben. Im nächsten Augenblick ging unser Gekicher los.
„Scheiß drauf! Damit lande ich diesmal garantiert einen Volltreffer!“, japste ich kämpferisch. Wenn ich von „Volltreffer“ sprach, meinte ich natürlich den gepeinigten Gesichtsausdruck meines Vaters. Es spornte mich zunehmend an, ihn zu provozieren. Kein kluger Ansatz.
„Jep, aber damit gehst du gewiss auch in die Geschichte der giftigsten Zehen der Galanächte ein! Wie konntest du das nur tun?“ Zu Leylas weit aufgerissenen Augen und abstraktem Lächeln gesellte sich dennoch Anerkennung für meinen Mut in ihrer Stimmlage. Ihr hierauf breiter Zähnegrinser ließ auf Respekt für meinen Schneid schließen. „Wenigstens hast du heute echt das perfekte Kleid an!“ Sie machte dazu eine bewundernde Handbewegung über meine weiße, etwas zu offenherzige Robe. Gleich darauf wurde ihre Stimmlage wieder ernster. „Hast du in letzter Zeit mit deinem Vater gesprochen?“
Ich hatte befürchtet, dass sie das wieder zum Thema machen würde. Sie konnte es einfach nicht lassen. Zum einen hatte sie die Rechtsanwaltsgene ja doch auch im Blut, musste alles zerpflücken und zerkauen, und zum anderen war sie der zweitungeduldigste Mensch der Welt. Gleich hinter mir.
„Als ob das etwas nützen würde“, murmelte ich widerwillig und strich nervös über meine Oberschenkel, als wollte ich Flecken aus meinem farbneutralen Kleid rubbeln.
„Okay, natürlich nicht. Janie, er wird dich niemals so respektieren, wie du es dir wünscht, wenn du nicht endlich hinter dem stehst, was du sein willst, hinter dem, was du bist.“
„Und was bin ich?“, fragte ich sie vorsichtig. Ich wusste darauf wirklich keine genaue Antwort.
Leylas dunkle Brauen wanderten nach unten und ihre hellbraunen Rehaugen wurden sehr sanft, fast bemitleidend. Sie verharrte für einen kurzen Moment und schien sich zu fragen, ob ich es wirklich nicht erraten konnte. Dann fuhr sie mit weichem, aber bestimmten Ton fort: „Du bist Autorin. Eine verdammt gute sogar! Als Bonus zudem noch klug und wunderschön. Dann steh endlich dazu! Eine Frau mit Herz und Verstand, die sich im Übrigen auch noch meine beste Freundin nennen darf. Tja, und ich bin doch der größte Beweis für deine Intelligenz!“ Sie wurde wieder albern, ihre Miene lockerte sich und zuletzt fügte sie zwinkernd hinzu: „Gute Kombination, Frau mit Herz und Hirn!“
„Eine fatale Kombination, die mir sicher noch öfters zum Verhängnis werden könnte“, ergänzte und vereitelte ich ihre aufbauenden Worte. Plötzlich bekam ich so ein unbehagliches Gefühl, dass ich wirklich Recht haben könnte. Und es machte mir Angst, zu erkennen, dass Leyla, was mein Herz betraf, auch richtig lag. Ich hasste mich regelrecht dafür, dass ich für viel zu viele Dinge Leidenschaften entwickelte, die nicht gut für mich waren, wie sich im Nachhinein so oft herausstellen sollte.
Meine letzte Beziehung mit jenem trügerischen Tyrannen, Eric oder „Drecksack“, wie wir ihn liebevoll umbenannten, war ja schon ein Weilchen her und trotzdem haderte ich immer noch mit meiner naiven Blauäugigkeit. Es traf mich mit Vehemenz, zu erkennen, dass ich ein Mensch war, der sich wenig bis gar nicht vom falschen Gegenüber distanzieren konnte. Doch ich war mit einem Mal fest entschlossen, das künftig zu ändern. Weshalb sollte ich nicht umgehend damit beginnen?
In dieser Sekunde war ich vollkommen überzeugt, dass ich meine Gefühle mit purer Willenskraft beeinflussen könnte. Aus einer verletzlichen Frau, einer empfindlichen „Tussi“, die alles viel zu nah an sich heranließ, konnte durchaus, wenn sie hart an sich arbeitete, eine reservierte und unnahbare Persönlichkeit werden. Mit Sicherheit sogar!
„Zum Glück schlummert ja eigentlich auch ein Stier in mir, den ich viel zu lange unterdrückt habe. Der sollte im Grunde stur genug für uns beide sein! Ich habe nicht vor, mich künftig jedem zu offenbaren, nur um Zeugnis abzulegen, wer ich wirklich bin. Und du wirst dich gefälligst hüten, jemandem zu sagen, wer Janie Clear ist. Ich habe es satt, die gütige, mitfühlende, zimperliche Göre zu sein! Sein wahres Ich zu zeigen, bedeutet Schwäche. Bald werde ich eine richtige Schriftstellerin sein und allen beweisen, dass ich mehr bin als Tochter des Milliardärs. Und in der Liebe steht es mir sowieso auch bis hier!“ Betonend schlug ich mir mit der Handkante gegen meinen Hals. „Und jetzt genug der Rede, wir sind da.“ Ich nickte mit dem Kopf Richtung Hoteleinfahrt.
Einen Augenblick lang sah Leyla mich erschrocken und forschend an, als ob sie nach einer plausibleren Antwort in meinem Gesicht suchte und auf eine verbesserte, durchdachtere Version meines Monologes wartete. Danach seufzte sie vernichtend fügsam, schien jedoch sehr an meinen großen Tönen zu zweifeln. Und viel zu bald sollten sich ihre Zweifel auch bestätigen.

5 Sterne
Ein sehr gutes Buch! - 01.06.2023
Sizzln

Dieses Buch ist wirklich toll! Die Autorin schreibt wirklich gut. Es hat sehr spannende momente und gewisse Szenen sind wirklich gut beschrieben ;-).Ich dachte nicht, dass es für mich als Mann auch so interessant sein würde aber ich wurde eines bessern belehrt!Danke für dieses Tolle Buch!!!

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