Die langen Jahre der Vergangenheit

Die langen Jahre der Vergangenheit

Erinnerungen eines Tierarztes, 25 Jahre DDR - 25 Jahre BRD

Johannes L. Werner


EUR 21,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 172
ISBN: 978-3-95840-143-3
Erscheinungsdatum: 14.06.2016
Er schmuggelt giftige Schlangen von Ost- nach Westberlin, er- und überlebt als Tierarzt zahlreiche „tierische“ Begegnungen und hat mit dem System der DDR so seine liebe Not. Eine spannende Lebensgeschichte zum Mitlachen und manchmal auch nur Kopfschütteln!
Dieser Traum ist einer der wenigen in meinem Leben, der noch nach langer Zeit so nachhaltig in meiner Erinnerung gespeichert ist. Meistens vergisst man seine Träume schon kurz nach dem Erwachen. Aber diesen Traum kann ich einfach nicht aus meinem Gedächtnis löschen …
… das Bild mutet etwas surrealistisch an. Eine Lichtung in einem von üppigem Grün überwucherten Wald, riesige urwaldähnliche Bäume strecken sich himmelwärts, ein träge dahingleitender Fluss gibt eine Biegung frei, eine Sandbank liegt in der Sonne. Am Ufer, auf dem sandigen Streifen, liegt eine Frau, halb nackt, langes dunkles Haar umschmeichelt ihre Schultern – sie ist tot. Es ist Regina, meine Frau. Und ich schwebe über ihr, ob ich auch tot bin oder nicht weiß ich nicht, aber meine Tränen fallen auf ihren Körper, immer mehr, und plötzlich wird sie wieder zum Leben erweckt … Ich wache auf, sitze im Bett und weine hemmungslos. Regina liegt neben mir und bemerkt von allem nichts, und sie schnarcht leise vor sich hin. Nun muss ich lachen. Ich liebe sie, und auch noch nach den langen gemeinsamen Jahren.

Das Telefon klingelt, ein Kunde ruft an. Ich fahre in das kleine Fachwerkhaus an der langen Straße, die durch unseren Ort führt. Vor dem Haus steht ein Notarztwagen, der Fahrer und der Arzt kommen mir entgegen. Ich schaue genauso verdutzt wie die beiden, gehe aber ins Haus und werde vom Besitzer in die kleine Stube geführt, in der zahlreiche Leute herumstehen und komisch gucken. Im Halbdunkel stolpere ich fast über eine am Boden liegende Person, die da seltsam steif den Weg versperrt. „Ach, es ist nur die Oma, wir hatten eine kleine Feier, und sie ist gerade gestorben“, sagt der Mann ohne sichtbare Rührung. Ich bin ziemlich verdattert und meine, ich könnte ein anderes Mal wiederkommen. Aber er möchte, dass ich seine Pferde impfe und dies in die Pässe eintrage, da ich nun mal da sei. Ich gebe also den Pferden ihre Spritzen, steige über die immer noch daliegende Oma hinweg, fülle die Pässe der Pferde aus und verlasse einigermaßen irritiert das Haus. Der Leser kann es sich schon denken. Ich bin Tierarzt auf dem Lande, und es gibt eine Menge ähnlicher Begebenheiten in einem langen Berufsleben.
Leipzig 1958. Das Abitur war geschafft! Uns stand zwar nicht die Welt offen, wie wir es uns gewünscht hätten, aber der neue Abschnitt in unserem Leben sollte doch ganz interessant und lebhaft werden, manchmal lebhafter als vorher gedacht.
Erst einmal stand die Frage im Raum: Wie geht es nun weiter? Mein Freund Schorsch, der ebenfalls Tierarzt werden wollte, hatte seine Bestätigung fürs Studium schon in der Tasche und musste nur noch ein sogenanntes praktisches Jahr in irgendeinem volkseigenen Betrieb absolvieren. Hauptsache war, der Betriebsleiter stellte am Ende ein einigermaßen gutes Zeugnis aus. Ich hatte keine Bestätigung erhalten, obwohl unsere Abiturnoten aufs Haar die gleichen waren. Schorsch hatte den Vorteil, dass seine Mutter als Zahnärztin einen Einzelvertrag mit dem Staat besaß, der die Förderung ihres Nachwuchses mit einschloss.
Also begann ich, die Sache anders anzugehen und stellte mich im VEB Gießerei in Leipzig vor. Dort arbeiteten neben Schorsch noch andere Abiturienten vor ihrem Studienbeginn. Ich bekam eine Stelle als Gießereihilfsarbeiter und schuftete nun tagein, tagaus in einer schlecht belüfteten Fabrikhalle, wo Kleinteile gegossen wurden. Das nachmittägliche Gießen, das glühende flüssige Eisen, der bestialische Gestank, es war nicht zum Aushalten.
An einem Wochenende radelte ich in das Oberholz, ein Waldgebiet im Osten von Leipzig, und suchte einen bestimmten Waldrand ab. Neben Zaun- und Waldeidechsen gab es hier auch die eine und andere Kreuzotter. Endlich entdeckte ich eine solche Schlange, fing sie mit einem Gabelstock und … mir schlug das Herz bis zum Halse. Ich hatte vor, mich von dem Tier beißen zu lassen, um in den Genuss einer Krankschreibung zu kommen. Ich schob meine Hand zehn Zentimeter vor den Kopf der Schlange und schloss die Augen. Es passierte nichts. Noch mal wollte ich das giftige Tier nicht reizen und zog irgendwie erleichtert meine Hand aus der Gefahrenzone. Nun musste ich mir etwas anderes einfallen lassen.
Tage später wickelte ich mir eine Binde ums linke Handgelenk und setzte mich ins Wartezimmer des Betriebsarztes. Schmerzen hätte ich, vielleicht eine Sehnenscheidensache. Doch der alte Fuchs von Mediziner durchschaute mein Manöver, machte aber den Fehler, einer Schar von Medizinstudenten meinen Fall in fließendem Latein vorzutragen. Die Studenten taten, als ob sie alles verstanden hätten, guckten aber so, wie die Sau ins Uhrwerk schaut. Ich war ja nur der doofe Hilfsarbeiter, aber in dem Gewirr lateinischer Wörter verstand ich auch „non laborare“, also „um nicht zu arbeiten“. Die Alarmglocken schrillten, und mit engelsgleichem Lächeln sagte ich dem Doktor, ich wolle auf keinem Fall eine Krankschreibung, vielleicht eine Salbe, damit ich ohne Schmerzen arbeiten könne. Die Verblüffung war dem Alten ins Gesicht geschrieben, die Studenten hatten wie erwartet nichts richtig mitbekommen, und ich erhielt eine Salbe und musste wieder in meine geliebte Gießerei.
Beim Judotraining zog ich mir Wochen später eine Prellung im Lendenbereich zu, als ich bei einem Wurf nicht auf der Matte, sondern daneben auf dem Parkett landete. Der behandelnde Arzt schrieb auf dem Attest, ich solle für eine längere Zeit keine schweren Arbeiten verrichten und nicht schwer heben und tragen.
Das Attest wanderte auf schnellsten Weg in die sogenannte Kaderabteilung meines Betriebes, und noch in gleicher Stunde stand der Chef persönlich in der Gießerei, ich musste alles aus der Hand legen, was ich gerade wegzutragen hatte, und ich bekam einen Posten im Gütereingang, wo nur kleinere Pakete angeliefert wurden und alles fein säuberlich geordnet und in Regale verstaut werden musste. Wir waren dort drei Personen: ein Meister, ein weiterer Studienanwärter – Mathematik – und ich. Hier ließ es sich aushalten, im Gegenteil, es wurde oft saulangweilig.
Das Jahr verging, und es kam die Stunde der Wahrheit. Eines Tages erschien ein Herr von der Uni, um ein Gespräch mit mir zu führen. Es kristallisierte sich heraus, dass ich auf keinen Fall für Veterinärmedizin immatrikuliert werden konnte, zum einen wegen zu vieler Bewerber, zum anderen, weil meine Schwester Republikflucht begangen hatte. Nun ja, es stimmte auch. Ich sollte stattdessen auf die Schule für Veterinärtechniker nach Dresden-Pillnitz gehen, das wäre überhaupt kein Problem, ich bräuchte nur zu unterschreiben.
Stur, wie ich bin, tat ich ihm nicht diesen Gefallen, sondern wollte dann lieber Biologie studieren, im Wissen, dass dieser Studiengang hoffnungslos überfüllt war. Nach langem Hin und Her zog der feine Mensch plötzlich ein Papier hervor, auf dem meine Zulassung zum gewünschten Studium schwarz auf weiß bestätigt war. Sicher gab es Prämien oder irgend so etwas, wenn Bewerber auf andere Fächer umgelenkt werden konnten.
Nun sollte erst mal nichts mehr schiefgehen, und ich war doch recht glücklich, auch über meine Haltung. Eine gewisse Halsstarrigkeit habe ich über die ganzen langen Jahre beibehalten, mit guten Erfolgen.
Nun war ein längerer Urlaub angesagt. Unser Domizil wurde, wie auch in den folgenden Jahren, Prerow auf dem Darß, also die Ostsee. Mit Schorsch zeltete ich drei Wochen lang in den Dünen, und wir erholten uns von unserer Arbeit im Betrieb. Alles Beschwerliche war vergessen.
Die Zeit Anfang September war recht günstig. Wir erhielten ohne Probleme eine Campinggenehmigung, was in der Saison kaum möglich war. Die Tage im September waren in diesem Jahr noch warm und sonnig, wir konnten unsere Seelen so richtig baumeln lassen.
An einem Nachmittag sagte einer unser Mitcamper, er hätte einen jungen Schauspieler am Strand gesehen, Krug würde der heißen, und der hätte in einem bekannten Stück eine beachtenswerte Rolle gespielt. Leicht neugierig geworden suchten wir die Nähe des uns bis dahin völlig unbekannten Mannes. Der machte die Abende am Lagerfeuer mit Gitarre und Gesang immer wieder zu einem Erlebnis und brachte es später zu großer Bekanntheit und einer steilen Karriere. Aber warum erzähle ich das alles? Manne Krug hatte eine mittelgroße Schussharpune und zeigte uns, indem er auf im Sand liegende Blätter schoss, wie man so auch im Wasser Aale erlegen konnte. Fast hätte ich dies alles vergessen, aber just fünfzig Jahre später, im Jahr 2015, waren Regina und ich, inzwischen altersmäßig auch schon jenseits von Gut und Böse, zu einem Konzert mit Uschi Brüning und Manfred Krug im Gewandhaus Leipzig. Und da zeigte Krug seine Vielseitigkeit, auch, indem er eine Kurzgeschichte zum Besten gab. Er erzählte in der „Ich“-Form, meinte aber, alles sei nur eine Fiktion. Kurz, er hätte vor dem Mauerbau immer mal Räucheraale in der S-Bahn nach Westberlin geschmuggelt. Toll erzählt, lustig. Ich wäre glücklich, so schreiben zu können. Aber er betonte es immer wieder, er selbst hätte mit der schmuggelnden Person in Wirklichkeit nichts zu tun. Dabei war es in der DDR so gut wie unmöglich, an Aale heranzukommen, es sei denn durch Wilderei. Und da fiel mir die Begegnung damals an der Ostsee wieder ein, Krug beim Räubern von Fischerreusen. Da ich auch immer, zumindest damals, solche Ambitionen hatte, gab es für mich nur einen Schluss: Manne Krug hatte sich in seiner tollen Kurzgeschichte möglicherweise doch selbst dargestellt.
Eines Tages, die Sonne strahlte schon am frühen Morgen, radelten wir zur Straße nach Zingst. Dort hatten wir früher schon oft Kreuzottern beobachtet. Nach einigem Suchen entdeckten wir das erste Tier, versteckt im Gras liegend. Es war eines der ausgesprochen schönen Exemplare, die in diesem Gebiet vorkommen, fast tiefschwarz, sodass man die typische Zickzackzeichnung auf dem Rücken kaum sehen konnte, mit rubinrot leuchtenden Augen und unglaublich schnell beim Davongleiten und Zubeißen. Wir fingen sechs von der Sorte, verstauten sie in Leinenbeuteln und nahmen sie mit auf unsere Heimreise per Fahrrad. Dass mich bei diesen Aktionen einmal eine in den Finger gebissen hat und ich deshalb zum Arzt musste zur Antiserumbehandlung, sei nur am Rande erwähnt.
Wir schrieben das Jahr 1959, Westberlin war noch nicht abgeschottet, und wir radelten durchs Brandenburger Tor Richtung Westberlin. Die DDR-Grenzer kontrollierten natürlich alle, die die Sektorengrenze passieren wollten. Schorsch hatte zwei große Taschen seitlich am Gepäckträger, und die musste er aufmachen.
„Was habt ihr in den Gepäcktaschen?“, fragte der Beamte.
„Dreckige Socken“, antwortete Schorsch.
Aber außer dreckiger Socken und Kleidungsstücken war da auch nichts drin. Die Kreuzottern hatten wir aufgeteilt, jeder von uns hatte drei Stück in einem Beutel in die Hosentasche gestopft. Durchgebissen hat Gott sei Dank keine. Ich weiß nicht, wie sonst unser späteres Liebesleben ausgesehen hätte.
Mit den geschmuggelten Schlangen steuerten wir den Berliner Zoo an. Dort fragten wir im Terrarium den Chef, ob er an den Tieren interessiert wäre. Schorsch hatte alle Ottern in einen Glasbehälter geschüttet, und der Kunde zeigte auf vier besonders schöne Exemplare, die er haben wollte. Schorsch fasste einfach mit den bloßen Händen in den Behälter und zog die Schlangen heraus. Dem Chef der Reptilienabteilung standen die Haare zu Berge, aber die Tiere blieben ganz friedlich.
Wir bekamen einige Westmark und konnten uns einen Kinobesuch und jeder eine Jeans leisten, und für einige übrig gebliebene Westmark kaufte sich Schorsch in einem Zoogeschäft, bei „Schlangenmüller“, einen wunderschönen Gecko, einen Tokeh. Die zwei übrig gebliebenen Schlangen mussten wir wieder mit zurück schmuggeln und gaben ihnen im schon erwähnten Oberholz die Freiheit. Der Gecko bekam ein großes Terrarium mit einer Rückwand aus Steinplatten und Verstecken und wurde der Liebling von Schorsch, neben drei Grünen Leguanen und einigen Wasserschildkröten.
Da das Tier im Winter auch Lebendfutter benötigte, hatten wir dank der freundlichen Hilfe des Kurators des Leipziger Zoo-Terrariums die Möglichkeit, eine Falle für die im Zoo als ungeliebte Parasiten auftretenden orientalischen Schaben aufzustellen. Dazu diente ein Einmachglas, dessen oberer Rand mit Fett eingerieben wurde, mit ein paar Brocken möglichst stinkendem Käse darin. Das stellten wir in eine Öffnung unter den Schauterrarien, in der die Heizungsrohre entlangliefen. Dort war es extrem feucht und warm, das Glas stand an der Wand, das Fett wurde flüssig, die Schaben kletterten die Wand hoch, angezogen von den für sie unwiderstehlichen Düften des alten Käses, fielen ins Glas und konnten den durchs Fett zu glatten Rand nicht überwinden, um wieder zu entkommen. Die Ausbeute für den Tokeh war immer grandios.
Aber warum erzähle ich das alles? Wir wollten nach einer solchen Fangaktion noch an den Elster-Saale-Kanal zum Schnorcheln und Apnoetauchen fahren. Es war Ende Mai, tolles Wetter, und das Wasser lockte. In Leutzsch fuhren wir eine Einbahnstraße in der verkehrten Richtung, und wie es der Teufel wollte, stand plötzlich ein Polizist vor uns und wollte die Ausweise sehen. Er zeigte deutlich, dass er uns nicht wohlgesonnen war. Wir meckerten natürlich auch, was dazu führte, dass er uns mit aufs nahegelegene Polizeirevier nahm. Dort mussten wir uns allerhand anhören, bevor der Beamte unsere Personalausweise an sich nahm und diese zwecks einer genaueren Überprüfung mit in ein anderes Zimmer nahm.
Wir waren für eine Weile allein in dem großen Raum, als Schorsch plötzlich die Plastiktüte mit den Schaben hervorzog und den Inhalt des Beutels auf den Boden schüttete. Die Schaben rannten aufgeregt in alle Richtungen davon. Wer schon einmal orientalische Schaben gesehen hat, weiß, dass es riesige Insekten sind, die die Angewohnheit haben, aus einer vorgetäuschten Ruhephase heraus urplötzlich im Zickzack davonzurasen, die großen Fühler ausgestreckt. Und stinken tun sie auch noch.
Als der Polizist wieder das Zimmer betrat, saßen noch zwei Schaben unübersehbar in der Mitte des Raumes. Vorsichtig wollte er sie mit der Stiefelspitze berühren, aber da stoben sie auch schon wie von der Tarantel gestochen davon, in irgendwelche Ecken und Ritzen, weg waren sie nun alle.
„Was war denn das?“, konnte der Uniformierte nur sagen und schaute uns misstrauisch an.
Und Schorsch erwiderte trocken: „Das Fenster ist doch offen, sicher waren es Maikäfer.“
Wir mussten drei Mark Strafe bezahlen und konnten wieder gehen. Ob die Schaben in der ihnen eigenen Art sich sprunghaft vermehrt haben, um anschließend die Akten des Reviers zu fressen, haben wir leider nie erfahren, es aber gehofft.
Oktober 1959: Nun begann das Studium. Ich hatte es nicht weit zu den Tierkliniken, mit dem Fahrrad keine zehn Minuten. Alles war neu, und womit ich nicht gerechnet hatte, waren die Grundlagenfächer Chemie, Physik und Biologie, die wir schon aus der Oberschule kannten. Russisch und Marxismus-Leninismus durften natürlich auch nicht fehlen und wurden mürrisch geduldet.
Die ersten vier Semester, also zwei Jahre, hatten es in sich, dauernd Testate, kleine Prüfungen, die man vergeigen konnte und wiederholen musste, die aber wichtig waren, um zu den Prüfungen am Studienjahresende, einmal dem sogenannten Vorphysikum und dann nach zwei Jahren dem Physikum, zugelassen zu werden. Sehr viel Freizeit war da nicht möglich, es wurde gebüffelt, um alles so gut wie möglich zu abzuschließen.
Nach dem bestandenen Vorphysikum mussten alle Studenten zur Reservistenausbildung einrücken. Mit gemischten Gefühlen ging es nachts nach Torgelow in eine Kaserne. Unser Studienjahr hatte die Ehre, als Kanoniere ausgebildet zu werden. Wir wurden eingekleidet und sahen teilweise aus wie Schießbudenfiguren. Schorsch, der Größte von uns, hatte zu kurze Hosen, und so rutschten ihm die Hosenbeine beim Marschieren oft aus den Gamaschen. Getoppt wurde dieser Anblick noch, wenn es hieß: „Rechts schwenkt“ und Schorsch mit der ihm eigenen Auffassungsgabe als Einziger nach links schwenkte und dies erst nach einigen Metern des Alleinseins merkte. Der uns befehligende Unteroffizier kochte vor Wut. Da neben Schorsch aber auch alle anderen solche oder ähnliche Fehler machten, mich eingeschlossen, wurden wir oft bis zu mitternächtlicher Stunde mit Kartoffelschälen oder Strafexerzieren belohnt.
Natürlich wollte man in der kurzen Zeit auch richtige Soldaten aus uns machen. Dazu gehörte Nahkampftraining, um auch gegen Angriffe der „Ranger“ aus dem Westen gewappnet zu sein. Es waren recht hilflose Bemühungen. Abwehr eines Stoßes mit der MPi,einer Maschinenpistole, und ähnliche Dinge. Der Unteroffizier machte es vor. Nun sollte es jemand von uns nachmachen. Wer? Alle riefen: „Der Werner!“ Der UfZ brüllte: „Kanonier Werner, vortreten.“ Ich latschte in der mir eigenen Art nach vorn. Mein Gegner richtete die Kalaschnikow auf mich und machte einen gezielten Stoß in meine Richtung. So schnell konnte er gar nicht schauen, wie er auf meiner Schulter lag und zappelte.
„Soll ich Sie nun noch auf den Boden knallen?“, flüsterte ich ihm ins Ohr.
„Nein, Werner, sind Sie verrückt, lassen Sie mich runter“, keuchte er nur.
Wenn später irgendeine sinnlose Übung anstand und ich meinem Freund Schorsch über die Eskaladierwand half oder beim Kriechen unter Stacheldraht auf der Sturmbahn zum gemächlichen Tempo anhielt, sagte der Vorgesetzte, er wisse doch, dass ich keine Lust habe, aber bitte, bitte doch etwas schneller, damit er keinen Ärger bekommen würde.
Wir, ich und mein Studienkollege Engelmann, mussten eines Abends mit in das Städtchen Torgelow auf Streife gehen. Ein Fahrer und ein uns unbekannter Oberleutnant gaben uns Instruktionen. Befehle sollten unbedingt ausgeführt werden, Vorsicht mit den Schusswaffen. Dreißig Schuss scharfer Munition waren im Magazin. Da konnte es einem schon mulmig werden. Wir sollten ein Vergnügungslokal nach sich unangemessen benehmenden Soldaten absuchen, was völlig unsinnig war. Alle dort waren mehr oder weniger besoffen, und wir zwei stolperten hilflos zwischen den Tischen umher, wurden provoziert und wussten keine Antworten. Bei mir stieg die Wut auf die Armee. Plötzlich kam unser Oberleutnant ins Lokal und verlangte von einer in Zivil dasitzenden Person den Ausweis. Die beiden mussten sich irgendwie kennen, aber nicht mögen. Der Angesprochene sagte hochnäsig: „Einem Oberleutnant zeige ich keine Papiere.“
Der OL wurde fuchsteufelswild, und als alles nichts half, schrie er uns an: „Packt ihn und rauf aufs Auto.“ Engelmann wusste gar nicht, was er machen sollte. Dagegen ließ ich meinem Zorn auf alles Militärische freien Lauf, packte den inzwischen als Hauptmann geouteten Kerl am Revers seines Sakkos, machte einen schönen Armhebel und führte den nun Tobenden aus dem Lokal. Draußen auf der Straße versuchte der sich loszumachen, ich packte noch energischer zu und ratsch, hatte ich das halbe Jackett in der Hand. Nun änderte ich die Grifftechnik und schmiss den sich Wehrenden mit Hilfe der anderen Streifengänger auf die Ladefläche des Lastautos. Dann wurde er weggefahren. Auf dem Gehweg hatten sich einige Zivilsten versammelt und ich hörte Worte wie: „Das ist ja wie bei den Nazis.“ Aber das war mir egal.
Kaum waren wir wieder in der Kaserne und im Bett, ging ein Alarm los. Die obligatorische große Übung stand an. Kaum geschlafen ging’s ins Feld, eingraben, Kanone in Stellung bringen und all so’n Quatsch. Als der Kommandeur uns examinierte und Leidensgenosse Hölzer nach der praktischen Feuergeschwindigkeit der MPi gefragt wurde und in Verkennung der Frage „333 Meter pro Sekunde“ antwortete, platzte dem Kommandeur der Kragen, zumal vorher ähnliche Fehler bei unserer Truppe sichtbar geworden waren, und er donnerte: „Oberleutnant Schäfer hauen Sie mit ihrer Gammeltruppe ab.“ Schäfer war im Zivilberuf Bäcker und hoffte, bei der Armee Karriere zu machen, er war überzogen ehrgeizig und somit sichtlich verärgert. „Wir machen jetzt einen Eilmarsch zur Kaserne, die Zeit wird gestoppt, der Letzte ist das Maß. Knöpft euch den Hosenschlitz auf, damit Luft an euren Sack kommt. Auf los geht’s los.“ Nun zeigte sich nicht zum ersten Mal, wer von meinen Kommilitonen ein Arschloch war, denn einige rannten los, als ob der Leibhaftige hinter ihnen her war. Schorsch und ich waren die Letzten. Als Schäfer dies mitkriegte, ließ er sich zurückfallen, fragte, ob wir doch etwas schneller gehen könnten, und wollte uns im Windschatten mitziehen. Seine Stiefel klapperten auf dem Asphalt, er konnte unsere Schritte nicht hören und ich befahl Schorsch, mit mir weiter gemütlich zu laufen. Der Oberleutnant kochte.
Zur Strafe musste unsere ganze Truppe wieder zum Kartoffelschälen einrücken. Das war ja Prinzip, wenn Einzelne nicht so wollten wie der Vorgesetzte, wurde die ganze Truppe bestraft, und die konnte ja dann zu besonderen Erziehungsmaßnahmen greifen. Das Gute war nur, dass sich an mich keiner herantraute, ohne einen gebrochenen Arm oder so was Schönes zu riskieren.

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