Der Felsen - geliebt - gehasst

Der Felsen - geliebt - gehasst

Helga Capitain


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 72
ISBN: 978-3-95840-097-9
Erscheinungsdatum: 26.09.2016
Ein Flugzeug stürzt ab und zerschellt an ein einem großen Felsen, der mystische Kräfte besitzt. Die Überlebenden finden dort eine neue Heimat - und sie lieben und hassen den Felsen gleichermaßen, denn in ihre alte Heimat können sie nie mehr zurück.
In der fast unerträglichen Mittagshitze stand eine Cessna MAX 208 abseits auf einem abschüssigen Rollfeld mitten in Buenos Aires. Die Sonne schimmerte in bunten Regenbogenfarben über den Asphalt. Die Insassen warteten schon seit Stunden auf ihren Weiterflug, der sie nach Moyoloppa bringen sollte, eine Leprastation mitten im brasilianischen Urwald. Dort bekamen leprakranke Mütter ihre Babys und starben meistens bei der Geburt. Die infizierten kleinen Wesen brauchten dringend Hilfe. So machte sich eine Handvoll Ärzte auf den Weg dorthin. Ein Jahr lang stellte das weltweit tätige Leprahilfswerk Professoren und namhafte Doktoren frei, um dort zu arbeiten und zu forschen.
Dr. Werner Kleinert, Professor an der Hochschule Heidelberg, hatte sich entschlossen, an diesem Projekt teilzunehmen. Er wusste, dass es nicht leicht sein würde, seine Frau dafür zu begeistern. Doch er hatte sich getäuscht. Irene wollte lieber ein Jahr die brasilianische Hitze ertragen als ein Jahr der Trennung. Dafür liebte er sie sehr. Er schaute auf seine Jungs, brav lagen sie aneinandergekuschelt auf der gegenüberliegenden Sitzbank. Manchmal konnte auch er seine Zwillinge kaum auseinanderhalten. Sein Blick ging zu seiner Frau, zärtlich schaute er sie an. Dieses eine Jahr hatte sie ihm zugestanden, und dass sie die Jungs mitnahm, machte sein Herz weit und warm. Irene blinzelte ihm zu, lächelte und schloss wieder die Augen.
Die Hitze war unerträglich. Er stand auf und verließ die Maschine. Die Transportklappe stand noch offen. Er schaute hinein. Beim Verladen der Gepäckstücke hatte er einige Wasserkanister bemerkt. Er nahm einen davon und kostete das Wasser. Es war kühl und genießbar. Mit dem Kanister in der Hand stieg er wieder ins Flugzeug.
Sein alter Professor saß da, in Papieren und Lektüren vertieft.
»Hier, Heinrich, ist etwas Wasser.«
Dankbar nahm der Professor einen Schluck, befeuchtete sein Taschentuch und wischte sich über das erhitzte Gesicht. Liebevoll und besorgt schaute er seine Frau an, die neben ihm saß.
»Franzi, wie geht es dir?«, fragte er sie.
Sie aber ließ die Augen zu und nickte nur.
Werner lächelte und schaute besorgt nach hinten, die hochschwangere Frau tat ihm leid. Er ging zu ihr und fühlte ihren Puls. Es fühlte sich nicht gut an. Er befeuchtete ein Tuch und wischte ihr Gesicht und Nacken ab, dankbar ließ sie es zu. Ihre Augen wanderten zu ihrem Mann, der wie ein aufgescheuchtes Huhn hin und her lief.
»Geben Sie doch endlich Ruhe«, raunte der Franzose und schüttelte den Kopf.
Ein bunter Vogel, dieser Franzose, aber ein sehr guter Bakteriologe und in diesem Team herzlich willkommen. Er streckte seine Hand aus und kitzelte die Füße, die zu einem knabenhaften Körper gehörten. Das Gesicht war wunderschön, die schräg stehenden Augen geschlossen, die feine Nase leicht erhöht und der Mund ein wenig geöffnet. Er schaute sie lange zärtlich an. Er hatte sie nicht nur mitgenommen, weil er sie abgöttisch liebte, sie war auch eine hervorragende Krankenschwester und Psychologin. Er brauchte sie an seiner Seite.
»Wissen Sie, warum es so lange dauert, bis wir weiterfliegen?«, fragte er Werner.
»Das Warten und die Hitze machen uns alle verrückt.«
»Verstehen kann ich es auch nicht«, sagte Dr. Thomas Winterfeldt, der hinter Louis saß.
»Irgendwann wird es schon weitergehen.«
Dr. Thomas Winterfeldt war die Ruhe selber, deshalb wurde er auch so geschätzt und geliebt. Als er beim internationalen Ärztekongress erfuhr, dass man eine Klinik für leprakranke Säuglinge im brasilianischen Busch erbauen und einrichten wolle und er bei dem Aufbau dabei sein durfte, war seine Begeisterung groß. Seine Familie konnte er mitnehmen, aber er wusste von der Gefahr, die von dort ausging. Er würde nie das Leben seiner Frau und seines Kindes aufs Spiel setzen, dann würde er lieber auf diese einmalige Chance verzichten. Aber Maren war begeistert. Sie war mit Leib und Seele Ärztin, Heilpraktikerin und Biologin.
»Es kann nichts passieren!«, rief sie, als Thomas es ihr erzählte.
»Wir werden der Klinik fernbleiben, ich könnte aber Studien betreiben, ein Labor einrichten, Heilpflanzen sammeln und euch bei der Heilung der Patienten helfen. Oh Thomas, sag zu, und lass uns für ein Jahr dorthin fahren!«
»Ja, mein Schatz, wir fahren.«
Da saßen sie nun, in diesem kleinen Flugzeug, irgendwo abseits auf einem verschmutzten Rollfeld mitten in Brasilien, und warteten auf den Piloten.
Maren hatte ihren kleinen Sohn auf die hintere Sitzbank gelegt, er war endlich zur Ruhe gekommen und schlief. Ihr linkes Bein hatte sie schützend vor ihn gelegt. Werner kam mit dem Wasser zu ihr.
»Machen Sie sich ein wenig frisch, es tut gut«, sagte er lachend und reichte ihr das Wasser.
Sie lächelte zurück, schüttete das kühle Nass in ihre hohle Hand und ließ es über ihr Gesicht laufen.
»Danke«, sagte sie leise.
Er ging den schmalen Gang zurück und schaute jeden besorgt an. Bei Vera blieb er stehen.
»Wie geht es Ihnen?«
»Es geht mir gut, danke.«
»Und dem Baby?«
»Auch«, hauchte sie.
Werner sah Steffen von Stetten immer noch draußen herumlaufen. Er ging zu ihm.
»Sie sollten auch ein wenig ruhen und zu Ihrer Frau gehen, es geht ihr nicht so gut«, gab Werner ihm zu verstehen.
»Sie wäre mal lieber zu Hause geblieben«, raunte dieser zurück. Er ging dann doch zu seiner Frau, küsste sie auf die heiße Stirn und setzte sich neben sie. Er schloss die Augen und dachte zurück …
Sie hatten sich so gefreut, als sie den Wettbewerb um das Bauvorhaben des kleinen Klinikums gewannen. Viele Architekten hatten sich darum beworben. Freundlich und hell hatte er die Häuschen gestaltet und sie wie Bienenwaben aneinandergehängt, auch die Wohnungen der Ärzte durfte er bauen. Ihre Arbeit war ihnen so wichtig und nichts anderes hatte Platz in ihrem Leben. Doch es sollte anders kommen, Vera wurde schwanger. Die Vorbereitungen für das Projekt dauerten an und kamen sehr spät zum Abschluss. Vera war jetzt im achten Monat schwanger und die Hoffnung mitzureisen schwankte …
»Entweder ich komme mit«, sagte sie entschlossen, »oder du musst alle deine Pläne absagen.«
»Du bist hochschwanger, Vera, du schaffst das nicht, ich fliege für einen Monat, dann bin ich zur Geburt wieder hier.«
Dieser Nervenkrieg ging schon seit Tagen so. Vera war entschlossen, mit ihm zu reisen, und packte die Koffer. Niemals würde sie ihn allein reisen lassen, denn die Eifersucht in ihrem Herzen würde sie auffressen. Ihr und dem Baby ging es gut. Sie würde reisen und keiner konnte sie davon abhalten.
»Also gut, kommt mit.«
Der Flug hierher war schon anstrengend gewesen und jetzt saßen sie hier in dieser mörderischen Hitze fest. Gestresst schaute er aus dem Fenster. Er sah einen Mann über das Rollfeld hasten. Er trug einen bunten Overall und das Käppi auf seinem Kopf war viel zu groß. Der Mann schloss die Transportklappe, schwang sich ins Cockpit und ließ die Motoren an. Er flog los.
»Endlich.«
Werner sah sich nach seinen Zwillingen um. Sie schliefen und verschmolzen zu einer Einheit. Auch Irene schlief. Er lehnte sich zurück, jetzt konnte auch er entspannt einschlafen.

Ein Krachen, Poltern und Splittern sowie ein markerschütternder Schrei erfüllten die Luft. Werner fuhr erschrocken hoch.
»Was war das?«
Er saß eingeklemmt in seinem Sitz, in seinen Beinen tobte ein unsagbarer Schmerz. Er versuchte, sich zu befreien, aber es war hoffnungslos. Er schaute sich verzweifelt um. Dort, wo Irene gesessen hatte, klaffte ein riesiges Loch, von seiner Frau keine Spur, die Zwillinge waren tot unter ihre Sitze gefallen.
»Irene!«, rief er laut und verzweifelt.
»Andreas, Johannes!«
Keine Antwort. Immer lauter rief er die Namen seiner Frau und seiner Kinder, bis er nur noch flüstern konnte. Was war nur geschehen?
Die Maschine war gegen einen Felsen geprallt und die Tragfläche hatte das Dach durchbrochen, mit solch einer Wucht, dass die Passagiere, die dort saßen, keine Chance gehabt hatten.
Er war der Verzweiflung nahe und sein Kopf fiel auf seine Brust. Als er wieder aufsah, sah er in das verstörte und erschütterte Gesicht von Franziska, die auf den Kopf ihres Mannes starrte, der von den messerscharfen Blechteilen abgetrennt worden war. Blut war überall. Der Versuch, sich aus der verklemmten Lage zu befreien, schien vergebens. Entsetzen packte ihn. Wo waren Irene und Vera? Im Gang, der noch intakt war, stand Ira, die Hände vors Gesicht gepresst. Hatte sie so furchtbar geschrien? Louis und der junge Doktor hingen leblos in ihren Sitzen. Maren saß noch immer auf dem hinteren Sitz, ihr linkes Bein lag obenauf, aufgeschlitzt, und das Blut strömte heraus. Tim war nicht mehr da.
Alles Grauenvolle und Furchtbare fiel von Werner ab, jetzt war er nur noch Arzt.
»Schaun Sie nach, ob sie noch lebt!«, rief er Ira zu.
Diese schaute ihn verstört an, verstand aber, was er sagte, und ging schnell zu Maren, fühlte ihren Puls und nickte ihm zu. Mit gekonnten Griffen band sie schnell das Bein ab und brachte das Blut zum Stillstand.
»Die Wunde muss versorgt werden, sonst verblutet sie uns.«
Vergebens versuchte Werner, seine Beine zu befreien. Die beiden Frauen mussten ihm jetzt helfen. Gemeinsam hoben sie die verschobenen Sitze hoch und zogen ihn heraus. Sie brachten ihn nach draußen und suchten nach seinem Arztkoffer, der irgendwo unter den Sitzen lag.
Maren hatte das Bewusstsein verloren, der Blutverlust hatte sie geschwächt. Draußen lag sie auf der kleinen Decke ihres Sohnes und Werner versorgte mit gekonnten Griffen schnell die große Wunde an ihrem Bein. Franziska und Ira halfen ihm dabei.
Sie sahen Steffen von Stetten aus dem Wrack taumeln, seine Arme hingen leblos an seinem Körper. Sein hässliches Lachen klang schaurig.
»Sie sind tot, sie sind alle tot.«
Franziska ging auf ihn zu und schlug ihm ins Gesicht, einmal, zweimal. Steffen kam augenblicklich zu sich und fiel in sich zusammen.
Werner untersuchte seine Arme, sie waren unterhalb des Ellenbogens gebrochen.
Franziska, die die Sitzgurte im Flugzeug abgeschnitten hatte, umwickelte jetzt damit Steffens Arme. Sie saßen fest und fürs Erste war ihm damit geholfen. Auch Werners Beine stabilisierten sie so. Das alles war eine Notlösung und sie hofften auf baldige Hilfe.
Langsam erwachte Steffen, er sah seine bandagierten Arme an und schüttelte den Kopf, er konnte das alles nicht begreifen.
»Wo waren Sie, als es passierte?«, fragte Werner ihn.
»Ich bin zur Toilette gegangen, dann krachte es. Bei dem Aufprall stützte ich mich ab, aber meine Arme knickten ein. Mit Gewalt befreite ich mich aus der Kabine. Draußen sah ich den jungen Arzt und den Franzosen leblos in ihren Sitzen hängen. Ich suchte nach meiner Frau, fand sie aber nicht. Als ich unter den zerbrochenen Flügel kroch, fand ich die toten Jungen. Auch sah ich den abgerissenen Kopf des Professors. Doch Vera fand ich nicht, da verlor ich völlig den Verstand.
Warum flog dieser Pilot nur auf diesen Felsen zu?«, erboste sich Steffen aufgebracht.
»Der Pilot, mein Gott, der Pilot, ihr müsst nach ihm schauen!«, rief Werner erschrocken.
Ira und Franziska gingen mit gemischten Gefühlen zum Cockpit. Der junge Mann, fast noch ein Kind, lag auf der Armaturenbank. Der Kopf hatte eine faustgroße Beule, aber er lebte. Vorsichtig trugen sie ihn hinaus. Kopfschüttelnd sah sich Werner den Mann an.
»Ich kann nichts für ihn tun, es liegt in Gottes Hand.«
»Lasst ihn doch krepieren!«
Wütend kam Steffen näher und schaute angewidert auf ihn herunter.
»Nein.«
Empört sah Werner ihn an. »Wie kannst du so etwas sagen? Wir Ärzte sind da, um zu helfen, egal, was er ist oder getan hat. Aber hier bin ich machtlos. Wir müssen auf Hilfe warten.«
Traurig schaute Steffen auf den jungen Piloten.
»Ich habe es nicht so gemeint. Lass uns auf baldige Hilfe hoffen.«
Werner schaute sich um. Er sah diesen riesigen Felsen und hörte das Meer rauschen. Fassungslos schüttelte er den Kopf.
»Hier können wir keine Hilfe erwarten. Er ist in die falsche Richtung geflogen, kein Flugzeug, kein Schiff wird uns hier suchen. Wir sind verloren.«
Steffen brauste auf.
»Und jetzt – und jetzt??«
»Jetzt werden wir eine Nacht hier verbringen und versuchen zu schlafen.«
Werner nahm aus seinem Koffer ein kleines Röhrchen und reichte jedem eine weiße Pille.
»Nehmt sie, ihr werdet gut schlafen und einige Stunden Vergessen finden.«
Er steckte seine Pille in die Tasche und schleppte sich zum Abgrund. Langsam dunkelte es schon und die Sterne kamen hervor. Er schaute hinauf, sein Herz war schwer, er dachte an Irene und die Zwillinge.
»Wo seid ihr – habe ich euch für immer verloren?«, murmelte er und rückte dabei dem Abgrund immer näher. Er schaute in die schwarze Tiefe.
»Wenn ich mich jetzt hinunterstürze, hat alle Qual ein Ende. Dann ist es vorbei.«
Er zögerte, sein Blick ging zurück zu den Menschen, die dort lagen und schliefen.
»Nein, ich kann und werde sie nicht im Stich lassen, sie brauchen meine Hilfe.«
Er schleppte sich wieder zurück. Am Flugzeug hielt er eine Weile inne. Es war totenstill – oder hörte er Hilferufe, irgendwo da draußen? Schon wieder – aber dann war alles ruhig. Er hatte sich wohl getäuscht.
Franziska und Ira hatten die Koffer ausgeleert und ein Lager bereitet, sie schliefen schon fest. Er legte sich dazu, nahm seine Pille. Sie wog schwer in seiner Hand, aber tapfer schluckte er sie hinunter und wartete auf den erlösenden Schlaf.
Franziska erwachte früh am Morgen. Sie ging zum Flugzeug und verharrte dort eine Weile, bevor sie zum Laderaum ging. Sie fand den Kanister mit Wasser und zwei Dosen Zwieback, damit ging sie zurück. Werner war aufgewacht, er weinte bitterlich und schämte sich seiner Tränen nicht. Franziska schaute ihn traurig an, trösten konnte sie ihn nicht.
Als er seine Fassung wiedergewonnen hatte, schaute er Franziska kopfschüttelnd an.
»Schau dich um, Franziska, wir kommen von diesem Plateau nicht herunter. Es geht fünfundzwanzig Meter in die Tiefe, das können wir nicht bewältigen, wir sitzen hier fest.«
»Oder wir steigen hinunter.«

Steffen war aufgewacht und hatte die Worte Werners gehört.
»Wir werden uns von der Kleidung eine Leiter bauen und damit hinuntersteigen. Entweder wir verhungern, verdursten oder wir stürzen ab. Wir werden es probieren.«
»Gut, lass es uns probieren.«
Bis spät am Abend saßen sie da und stellten eine Kette her. Franziska und Ira flochten und verknoteten die Kleidungsstücke miteinander. Immer wieder prüften sie die Länge, bis sie endlich am Fuße des Felsens ankam.
»Also los, Todesmutige vor«, meinte Steffen, »lasst uns beginnen.«
»Nein«, sagte Werner bestimmend, »erst morgen früh, wir müssen ausgeruht sein, denn es wird kein Kinderspiel werden. Wir werden noch einmal eine Nacht hier verbringen.«
Noch einmal nahmen sie dankbar die Pille von Werner an. Er selber schaute nach Maren und dem Piloten. Marens große Wunde sah gut aus. Die Delle am Kopf des Jungen entstellte etwas das südländische Gesicht.
»Was wird ihn wohl dazu bewogen haben, dieses Flugzeug zu fliegen? Ob wir es erfahren werden?«, dachte Werner und schaute traurig auf den jungen Mann. Er überprüfte noch einmal die Kleiderleiter, die sie an einer Felsennase befestigt hatten. Es war alles gut vorbereitet.
Die Sonne ging auf und warf einen warmen Glanz auf das Meer. Der Felsen leuchtete in einem reinen Weiß und unten wütete die Brandung. Franziska stand am Abgrund und hielt eine Jacke ihres Mannes in den Händen, die in der Leiter eingebunden war. Der Geruch von altem Zedernholz stieg ihr in die Nase. Es war sein Lieblingsduft gewesen und sie atmete tief ein. Werner kam langsam näher. Franziska schaute ihn an und nahm ihn bei der Hand.
»Sollte ich bei dieser Aktion sterben, holt mich wieder hinauf und legt mich zu meinem Mann, ich möchte ihm im Tode ganz nahe sein.«
Werner konnte nur stumm nicken.
»Dann lass uns beginnen.«
Am Lager warteten Steffen und Ira auf sie. Hand in Hand gingen sie zum Flugzeug, um Abschied zu nehmen. Das Herz war ihnen schwer. Ihre Toten konnten sie nicht ehrenvoll bestatten, aber die Zeit und die Natur würden sie zu Staub zerfallen lassen und wilde Pflanzen würden über sie hinweg wachsen. In ihren Erinnerungen würden sie für alle Zeit weiterleben.
Mutig ging Franziska zum Abgrund, sie stieg in die Leiter ein und schaute Werner fest an.
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Stufe für Stufe begann Franziska den Abstieg und mit Spannung verfolgten sie jeden ihrer Schritte.
»Bitte nicht nach oben schauen, auch nicht nach unten, schau einfach auf die Wand vor dir«, gab ihr Werner mit auf den Weg.
Auf einem kleinen Abhang machte Franziska halt und ruhte sich ein wenig aus, dann stieg sie weiter, Schritt für Schritt, bis sie Boden unter ihren Füßen spürte. Erleichtert atmete sie auf und winkte nach oben.
»Alles okay!«
Fest verpackt und verschnürt ließen sie Maren langsam den Felsen hinunter. Ohne Probleme kam sie unten an. So transportierten sie auch den Piloten.
Steffen war nervös und schaute immer wieder zum Abgrund. Werner ermutigte ihn:
»Komm – lass es geschehen, es wird schon nichts passieren.«
Fest angebunden ließen sie Steffen hinunter. Bei jedem Knarren und Reißen schrie er auf. Plötzlich war Stille. Ira, die auf der Felsennase lag, schaute nach unten und bedeutete Werner, der hinter dem Felsen die Kette herunterließ, dass Steffen in Ohnmacht gefallen war.
»Oh, das ist gut.«
Er kam wohlbehalten unten an. Franziska legte ihn zu den beiden anderen. Werner hangelte sich in die Schlaufen. Von Vorteil war jetzt sein durchtrainierter Körper, doch die bandagierten Beine zogen ihn schwer nach unten. Auf dem kleinen Vorsprung legte auch er eine Pause ein, dann machte er sich an den Rest der Kette. Ira war die Letzte. Sie war rank und schlank und flink wie eine Katze, mit Leichtigkeit kam sie unten an. Langsam erwachte Steffen aus seiner Ohnmacht. Er schlug die Augen auf und schaute auf den riesigen Felsen vor ihm. Dann entdeckte er die Kleiderkette, die ihn von schwindelerregender Höhe hinuntergetragen hatte. Mit Tränen in den Augen sah er auf die Menschen, die dort standen.
»Danke«, sagte er leise.
Sie machten sich auf den Weg. Tims Kinderwagen, den sie mit heruntergebracht hatten, nutzten sie als Transportmittel für Maren, den jungen Mann banden sie Steffen auf den Rücken. Mühsam suchten sie einen Weg entlang des Meeres bis zu einem weißen Sandstrand. Eine Lagune tat sich vor ihnen auf, das Wasser schimmerte in smaragdgrünen Farben und in einem wunderschönen Himmelblau.
Im Moment hatten sie für diese Schönheit kein Auge. Sie schleppten sich durch den weichen Sand. Ein Fluss mündete ins Meer, dort machten sie halt. Ein großer Felsbrocken versperrte dem fließenden Wasser den Weg und es bildete sich ein kleiner See. Eine natürliche Felsentreppe führte auf eine grasbewachsene Terrasse, der Felsen bildete dort große Höhlen, wie eine fünf Zimmerwohnung.

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