Wie weit wirst du geh’n?

Wie weit wirst du geh’n?

Anna Feldmann


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 72
ISBN: 978-3-99048-443-2
Erscheinungsdatum: 25.02.2016
Als sich Florina in den Straßenjungen Mika verliebt, ahnen beide noch nicht, wie weit ihre Geschichten bereits miteinander verstrickt sind und in welches Netz aus Lügen, Geheimnissen und Intrigen sie hineingezogen werden. Bis es kein Entkommen mehr gibt …
1

„Tschüss“, rief ich über die Schulter, schnappte mir noch einen Blaubeermuffin und zog die alte Holztür hinter mir ins Schloss. Das Sonnenlicht blendete mich, als ich aus dem Schatten des Lofts trat. Ich schloss meine Augen und hielt mein Gesicht in die Sonne. Endlich Frühling. Und mit dem Winter war nun auch endgültig der Albtraum vorbei. Mit einem Lächeln auf den Lippen überquerte ich die Straße, wich einigen hupenden Autos aus und steuerte das „Cupcake“ an, ein kleines Café, in dem Lilja und ich uns jeden Morgen trafen, seit wir aufs Gymnasium gingen.

Wie immer war ich die Erste, denn meine beste Freundin kam konsequent mindestens fünf Minuten zu spät. „Zweimal Latte Macchiato mit Vanillearoma?“, fragte Jana die fröhliche, leicht rundliche Besitzerin des Cafés. Sie gab mir das Gefühl, als hätten zwischen meinem letzten Besuch und heute nicht zwei Monate gelegen, und ich war dankbar dafür. Ich nickte und setzte mich auf einen der Barhocker. Nachdem ich meinen Latte Macchiato zur Hälfte ausgetrunken und mit Jana über Gott und die Welt gequatscht hatte, läutete die Türglocke und Lilja wirbelte mit zerzausten Haaren und offenen Schnürsenkeln ins Café. Sie küsste mich zur Begrüßung auf beide Wangen, wünschte Jana einen guten Morgen und griff nach ihrem Latte. Gemeinsam verließen wir das Café und machten uns auf den Weg zur Schule. Seit ich denken konnte waren Lilja und ich beste Freundinnen. Sie war zwar unpünktlich und schusselig ohne Ende, aber ich wusste, dass ich mich auf niemanden mehr verlassen konnte als auf meine hübsche blonde Seelenschwester. Genau wie ich umgekehrt alles für sie tat. „Weißt du schon, was du heute Abend anziehst?“, fragte Lilja, während wir die Straße entlangschlenderten. Heute Abend fand die angesagteste Gartenparty des Jahres bei Gereon, einem der heißesten Typen der Schule, statt. In Anbetracht der Tatsache, dass alle über mich reden würden, hatte ich eigentlich zu nichts weniger Lust, aber ich war froh, dass meine alten Freunde mich größtenteils unproblematisch wieder aufgenommen hatten, also konnte ich auf keinen Fall absagen. „Mhm, vielleicht das süße weiße Cocktailkleid mit der Spitze, das ich mir letztes Jahr im Sommerschlussverkauf gekauft habe“, überlegte ich. „Oder den Rock, den wir in Italien gekauft haben.“ „Nimm das Kleid“, entschied Lilja. „Mir ist schon wieder alles zu klein geworden“, jammerte sie gleich darauf. Ich lachte. Obwohl wir mittlerweile 17 waren, hatte Lilja noch immer nicht aufgehört zu wachsen. Sehr zu ihrem Leidwesen, da sie bereits 1,80 Meter groß war. „Freu dich doch, Lil“, sagte ich. „Ich sehe aus wie eine Giraffe“, stöhnte sie. Das war gelogen und Lilja wusste das genau. Mit ihren langen Beinen und den großen blauen Augen könnte man sie locker für ein Model halten. „Was soll ich denn sagen?“, empörte ich mich gekünstelt. „Schließlich sehe ich aus wie ein Zwerg.“ „Ich wäre gerne nur 1,65 Meter“, blieb Lilja stur.

Pünktlich mit dem ersten Gong erreichten wir das Schulgelände. Ich schlürfte den letzten Schluck Kaffee aus meinem Plastikbecher und warf ihn im Vorbeigehen in einen Mülleimer. Vor dem alten Backsteingebäude trennten wir uns. Lilja hatte in der ersten Stunde Mathe. Ich schloss die Augen, atmete noch einmal tief durch und machte mich auf den Weg zu Geschichte.

***

Nachdem er sich eine halbe Stunde lang die Beine in den Bauch gestanden hatte, verließ endlich ein Mädchen das Loft. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Er zog das Foto aus der Tasche. Das darauf abgebildete Mädchen stimmte mit dem, das nun die Straße überquerte, überein, darin bestand kein Zweifel. Hübsch sah sie aus, mit ihren langen braun-blond- gesträhnten Haaren, die zu einem unordentlichen Pferdeschwanz hochgebunden waren, der bei jedem ihrer schwungvollen Schritte auf und ab wippte. Auch er überquerte die Straßen und beobachtete, wie sie ein kleines Café betrat. Einige Minuten später verließ sie es mit einem Latte Macchiato in der Hand und einem blonden Mädchen an ihrer Seite. In gebührendem Abstand folgte er den beiden Mädchen, die quatschend und lachend den Bürgersteig entlangschlenderten. Jede ihrer Gesten und Bewegungen prägte er sich genauestens ein, analysierte sie. Es ging ganz von alleine, schließlich war er im Observieren kein Anfänger. Die beiden Mädchen verkörperten das typische hübsche it-girl-Duo, das es an jeder Schule gab. Hübsch, unzertrennlich und wahrscheinlich genauso beliebt wie beneidet. Vor dem Lessing-Gymnasium verabschiedeten sie sich lachend voneinander und betraten das alte Backsteingebäude durch unterschiedliche Eingänge. Das Lachen wird dir noch schnell genug vergehen, Florina O’Dell. Endlich hatte er eine Spur und fast bedauerte er ihren sicheren Untergang. Ärgerlich wischte er dieses Gefühl beiseite. Schließlich war er kein Anfänger.

***

„Kommst du heute Abend auch zu Gereons Party, Flori?“, rief Mia mir quer über den Schulhof zu. „Klar“, antwortete ich, „du auch?“ Das Mädchen mit den kinnlangen dunkelbraunen Haaren nickte mit leuchtenden Wangen. „Er hat mich gerade gefragt“, berichtete sie. „Hoffentlich erlauben meine Eltern, dass ich hingehe.“ „Ach bestimmt, Mia“, beruhigte ich sie. „Es ist schließlich eine Gartenparty, sogar seine Eltern sind da.“ Mia gehörte nicht wirklich in die Gruppe der beliebten Mädchen, aber sie war lieb und ich hatte mich schon am Anfang der Fünften mit ihr angefreundet. Nicht so eng wie mit Lilja, aber wir verstanden uns noch immer gut. Auch, dass sie sich heute sofort neben mich gesetzt hatte, rechnete ich ihr hoch an. Mia und ich unterhielten uns noch ein wenig über die Party, während ich auf Lilja wartete, die mal wieder zu spät kam.
Die Hälfte ihrer Bücher noch unter den Arm geklemmt, kam sie schließlich in unsere Richtung. Ich verabschiedete mich von Mia und hakte mich bei Lilja unter. „Hast du schon gehört, dass Marius und Lena sich getrennt haben?“, fragte sie mich aufgeregt. Egal worum es ging, Lilja war immer die Erste, die Bescheid wusste. „Vernünftig von ihr“, lautete meine Einschätzung dazu. Marius war ein ekelhafter Typ. „Ich hab eh nicht verstanden, was die von dem wollte“, fügte ich hinzu. „Wir sind mal wieder einer Meinung“, sagte Lilja. „Wir sehen uns heute Abend.“ Ich umarmte Lilja zum Abschied und stieß die Tür zum Loft auf.
Zu Hause angekommen, ließ ich mich erst einmal völlig fertig auf mein Bett fallen. Der erste Schultag war doch heftiger als erwartet gewesen. Gaffende Blicke und Getratsche, wo man nur hinguckte. Wenigstens meine Clique hatte mich nicht fallen gelassen, dachte ich. Findus, mein kleiner Kater, tapste auf mich zu und begann wohlig zu schnurren, als ich meinen Kopf in seinem Fell vergrub. Was die anderen dachten, brauchte mich ja nicht zu interessieren. Doch in meinem Inneren wusste ich, dass es nicht das Gerede war, das mir zu schaffen machte, sondern meine eigenen Schuldgefühle.

***

Auch wenn sie alles tat, um es zu verbergen, sah er Florina die Last an, die sie mit sich herumschleppte. Als ihre Freundin sich vor dem Loft umgedreht hatte, war sie regelrecht in sich zusammengesackt.
Das Mädchen mit den kurzen dunkelbraunen Haaren war Gold wert gewesen. Ihretwegen und ihrer Vorliebe, über dermaßen große Distanzen hinweg zu schreien, wusste er nun, wo Florina sich heute Abend aufhalten würde. Alles, was er noch brauchte, war Gereons Adresse.

***

Meine Befürchtungen in Bezug auf die Party waren ziemlich unbegründet gewesen. Die Anwesenden waren größtenteils Freunde von mir und die anderen hielten sich zurück, weil sie das genau wussten. Ich nahm ein Glas Sekt und steuerte eine um einen Stehtisch versammelte Gruppe an, bei der auch Lilja stand. „Heißes Kleid, O’Dell“, ließ Jack verlauten, der von seinen Äußerungen auf dem Niveau der achten Klasse stehen geblieben, im Grunde aber ein netter Kerl war. Ich sparte mir einen Kommentar dazu und lächelte in die Runde. „Die Deko ist wieder unübertroffen“, stellte Lea fest. Ich konnte ihr nur zustimmen. Stilvolle Lampions hingen in den Bäumen, auf dem an das riesige Grundstück angrenzenden See schwammen Windlichter, die in der leicht einsetzenden Dämmerung leuchteten, und die Stehtische waren mit geschmackvollen zarten Blumengeflechten dekoriert. Auf der großen freien Rasenfläche begannen einige Leute zu tanzen und am Ufer des Sees stand ein eng umschlungenes Pärchen. Ich schloss die Augen und wiegte mich leicht im Rhythmus der Musik. Das alles hatte mir in den vergangenen zwei Monaten gefehlt. Dies hier war meine Welt. Nur die Unbeschwertheit, die ich früher verspürt hatte, wollte sich nicht einstellen.
„Nicht einschlafen, Flori!“, sagte Lilja und stieß mich scherzhaft in die Seite. Ertappt zuckte ich zusammen und beeilte mich, wieder dem Gespräch zu folgen. Lea und Mia diskutierten mit Philip darüber, welche der Universitäten, für die sie sich eingeschrieben hatten, die beste Wahl war. Ich würde wohl kaum die Wahl haben. Lilja merkte, dass das Thema mich traurig machte, und zog mich Richtung Tanzfläche. Wir begannen zu tanzen und nach einiger Zeit merkte ich, wie ich mich langsam entspannte. Zum ersten Mal nach langer Zeit hatte ich einfach Spaß.
Als mir schließlich endgültig die Puste ausging, entschuldigte ich mich bei Lil, Mia, Lea und Jack, die mittlerweile zu uns gestoßen waren, nahm mir noch ein Glas Sekt und steuerte einen ruhigen Platz unter einer Linde am Flussufer an und genoss die gemütliche Atmosphäre in vollen Zügen. Ich war so vertieft in das Geschehen, dass ich den Jungen, der den Kopf lässig in der Hand abgestützt auf einem umgestürzten Baumstamm saß, erst nach ein paar Minuten wahrnahm. Als er meinen Blick bemerkte, verzog sich sein Gesicht zu einem schiefen Lächeln.

***

Sich auf die Party zu schmuggeln war leichter gewesen, als er erwartet hatte. Das Grundstück war weitläufig, sodass er den vorgesehenen Eingang nicht benutzen musste. Und sobald er erst einmal auf dem Grundstück war, fiel er gar nicht auf, zumal er sich überwiegend im Schatten der Bäume am See aufgehalten hatte. Sie war auf die Party gekommen, kaum dass er sich einen Überblick verschafft und einen geeigneten Platz gefunden hatte, von dem er einen Großteil des Grundstückes überblicken konnte. Sie trug ein kurzes cremefarbenes Cocktailkleid mit Spitze. Ihre langen Haare flossen in einer sanften Welle ihren Rücken hinab und umspielten ihre Schultern. Unter anderen Umständen hätte er sie anziehend gefunden. Vielleicht hätte er sie angesprochen, nur um aus der Nähe zu sehen, wie sie ihre Haare zurückstrich und ihre Worte mit lebhaften Gesten untermalte. So jedoch hielt er sich in sicherer Entfernung auf, beobachte sie und ihre Freunde. Er rief sich in Erinnerung, was dieses Mädchen getan hatte und spürte erleichtert, wie die Zuneigung, die er gegen seinen Willen bei ihrem Anblick empfand, wieder in den vertrauten Hass umschlug. Er musste Abstand wahren, und dass ihm das so schwerfiel, war er nicht gewohnt, es machte ihm Angst.
Die Zeit verstrich und er merkte, wie er langsam schläfrig wurde. Um nicht einzunicken, lief er ein paar Schritte das Ufer entlang. Schließlich ließ er sich auf einem umgestürzten Baumstamm nieder und suchte das Gelände nach Florina ab. Vorhin war sie noch mit einigen anderen auf der Tanzfläche gewesen. Er hätte sich ohrfeigen können dafür, dass er sie aus den Augen verloren hatte. Systematisch durchkämmte er die Tanzfläche mit seinem Blick, konnte aber nur Lilja und die anderen finden. Als er Schritte hörte, die am Ufer entlangliefen, hob er den Kopf. Und begegnete dem Blick von Florina O’Dell.


2

„Hi“, sagte der Junge und rutschte ein Stück auf dem Baumstamm zur Seite, sodass ich mich neben ihn setzen konnte. „Hey“, erwiderte ich und lächelte. Der Junge sah gut aus, darum verwunderte es mich umso mehr, dass ich ihn nicht kannte. Andererseits hatte ich in den vergangenen zwei Monaten fast gar nichts mitgekriegt, also war es wahrscheinlich gar nicht so verwunderlich. „Keine Lust mehr zu tanzen?“, fragte der Junge. „Ich brauch ’ne kurze Pause“, erklärte ich, „und du?“ „Ich gucke lieber den anderen beim Tanzen zu, als mich selbst lächerlich zu machen“, sagte der Junge und lachte. Ich stimmte mit ein, glaubte ihm aber keine Sekunde, dass er nicht tanzen konnte. Er hatte eine athletische Figur und jede Menge Muskeln, aber nicht die Art von übertriebenen, aufgepumpten Muskeln, die ich nicht ausstehen konnte. „Sorry, ich weiß noch gar nicht, wie du heißt“, fiel mir da auf. „Mika“, antwortete der Junge, „und du?“ Ich war etwas verwirrt darüber, dass er meinen Namen nicht kannte, aber gleichzeitig war es auch schön, mal wieder jemanden kennenzulernen, der sich nicht schon ein auf Gerüchten basierendes Urteil gebildet hatte. „Florina“, beeilte ich mich zu sagen, als mir bewusst wurde, dass Mika mich abwartend anschaute. „Also Florina, warum kommst du auf einer Party, wo du offensichtlich tausend Freunde hast, auf die Idee, dich auf einen halb vermoderten Baumstamm zu setzen und dich mit einem Fremden zu unterhalten?“ In diesem Moment hatte ich das Gefühl, er könne mit seinen ausdrucksstarken blauen Augen direkt in meine Seele gucken. Ich erschrak vor der Intensität seines Blickes, doch gleichzeitig war er unglaublich anziehend. Plötzlich überkam mich das Bedürfnis, ihm alles zu erzählen. „Ich, ich brauchte ’n bisschen Zeit zum Nachdenken. Die letzte Zeit war nicht so leicht für mich.“ Indem er mir signalisierte, dass er zuhörte, forderte Mika mich auf, weiterzureden. „Weißt du …“ „Hier steckst du also, Flori!“, rief da plötzlich Lilja. „Ich hab dich schon gesucht.“ Ich fuhr zusammen und brauchte einen Moment, bis ich mich gesammelt hatte. Rasch stand ich auf. Plötzlich fühlte ich mich hundeelend. Mit den Fingern massierte ich meine Schläfen. „Ich glaube, ich möchte nach Hause, Lil“, murmelte ich. Ihr Blick war eine Spur zu verständnisvoll, und als sie mich, betroffen schweigend zum Ausgang begleitete, fühlte ich mich fast schuldig, weil ich ihr das schlechte Gewissen ansah. Sie hatte das Gefühl, dass sie über ihren eigenen Spaß an der Party keine Rücksicht auf mich genommen hatte. Aber wie sollte ich erklären, dass ich im Begriff gewesen war, das Tabuthema, etwas über das selbst wir beide nie geredet hatten, einem völlig fremden, dahergelaufenen Jungen anzuvertrauen. Ich verstand mich ja selbst nicht.
Erst als ich in meiner Tasche kramte, um dem Taxifahrer Geld zu geben, bemerkte ich den Zettel. Mika stand drauf und eine Handynummer.

***

Er verfluchte ihre Freundin dafür, sie unterbrochen zu haben. Sich mit Florina zu unterhalten hatte er zwar ursprünglich nicht vorgehabt, aber es machte die ganze Sache um einiges interessanter. Sie hatte ihn attraktiv gefunden, das hatte er gemerkt. Genauso wie er sich sicher war, dass sie sich dessen bewusst war, dass er sie heiß fand und jeder Junge gerne mit ihr am See gesessen hätte. Es war nicht so, dass sie eingebildet oder arrogant gewesen war, im Gegenteil. Es war mehr eine Art Strahlen, das sie umgab. Ein selbstbewusstes Leuchten, das sie noch attraktiver machte. Es war in dem Moment zusammengefallen, als ihr bewusst geworden war, dass sie dabei gewesen war, einem Wildfremden ihre dunkelste Vergangenheit anzuvertrauen. In diesem Augenblick hätte er sie gerne in die Arme genommen, ihr über den Kopf gestrichen wie einem kleinen Kind und ihr gesagt, dass alles gut werden würde. Jetzt, wo er alleine in seinem Bett lag, und den Abend Revue passieren ließ, verachtete er sich selbst für seine Sentimentalität. Es war nur gerecht, dass sie unter ihrem schlechten Gewissen litt. Er war stolz auf den Einfall, ihr den Zettel in die Tasche gesteckt zu haben. Wenn er sich nicht total verkalkulierte, und das tat er für gewöhnlich nicht, schließlich hatte er einige Erfahrung mit Mädchen, dann würde sie sich bald bei ihm melden. Es hatte ihr gefallen, mit ihm zu reden, das hatte er gespürt. Auch die Tatsache, dass er so getan hatte, als wüsste er ihren Namen nicht, war ein cleverer Schachzug gewesen. Sie hatte sich sicher gefühlt und davon würde er schon sehr bald profitieren. Er hatte seine Rolle gut gespielt. So gut, dass sogar sein Herz den Abend für echt gehalten hatte.

***

Lilja lag in ihrem Bett und schaute in den Sternenhimmel, den sie durch das Fenster in der Schräge ihres Zimmers sehen konnte. Sie konnte nicht schlafen, wie so oft in letzter Zeit. Manchmal lag sie ganze Nächte lang schlaflos und mit pochenden Kopfschmerzen in ihrem Bett und wartete auf den nächsten Morgen. Früher hatte sie überall und jederzeit wie ein Stein schlafen können, doch diese Nacht, an die ihr jegliche Erinnerung fehlte, hatte ihr diese Fähigkeit genommen. Sie erinnerte sich nur noch, dass Florina und sie gemeinsam mit Marika, Liljas großer Schwester, gut gelaunt ins „Moonlight“, die Disco der Nachbarstadt aufgebrochen waren. Im Auto hatten sie laut Musik gehört und Lilja und Florina hatten die Texte ebenso laut wie schief mitgegrölt, sodass Marika schon im Spaß angedroht hatte, sie rauszuschmeißen. In der Disco war Marika zu ihren Freundinnen gegangen und Lilja und Florina hatten ein wenig mit dem Barkeeper geplaudert, gelacht getanzt, Spaß gehabt. Dann endeten Liljas Erinnerungen plötzlich. Jedes Mal, wenn sie versuchte, sich daran zu erinnern, was passiert war, nachdem sie die Disco verlassen hatten, durchzuckte ein heftiger Schmerz ihren Kopf und ihr wurde schwarz vor Augen. Sooft Lilja es auch versuchte, die Erinnerungen waren wie ausgelöscht und sie wurde das Gefühl nicht los, dass es wichtig war sich zu erinnern, dass in dieser Nacht nicht alles so gelaufen war, wie es nach außen hin wirkte.

***

Ich lag im Bett und konnte nicht schlafen. Manchmal lag ich nächtelang wach und fragte mich, ob mein Handeln in jener Nacht richtig gewesen war. Zum tausendsten Mal wünschte ich, Lilja und ich hätten uns einfach einen gemütlichen Mädelsabend gemacht, statt feiern zu gehen. Ich wünschte mir, wir hätten uns in der Disco wieder mit Marika getroffen, statt am Auto. Ich wünschte, wir hätten Julies Leben nicht zerstört. Eine Träne rollte meine Wange hinunter. Ärgerlich wischte ich sie weg. Plötzlich brach ich in hemmungsloses Schluchzen aus. Die Tränen, die ich so lange zurückgehalten hatte, flossen nun in Strömen. Mit zitternden Fingern tippte ich Mikas Nummer in mein Handy ein. Ich brauchte jetzt jemanden zum Reden. Jemanden, der mich nicht mit Samthandschuhen anpackte wie meine Eltern. Nach dem zweiten Klingeln nahm er ab und meldete sich mit verschlafener Stimme. Am liebsten hätte ich sofort wieder aufgelegt. Was zum Teufel hatte mich dazu gebracht, mitten in der Nacht einen Jungen anzurufen, mit dem ich gerade mal drei Worte gewechselt hatte. „Florina, bist du das?“, fragte Mika. „Alles okay?“ „Ich … ja, ach ich kann nicht schlafen und dann dachte ich … Ach egal, vergiss es einfach, tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.“ „Warte“, fiel Mika mir ins Wort. „Wollen wir uns in zehn Minuten an der Felsbucht am See treffen?“ Die Felsbucht lag an der gegenüberliegenden Seite des Sees, der an das Grundstück von Gereons Familie grenzte. Im Sommer chillten Lilja und ich dort oft mit der Clique und gingen schwimmen. „Ist gut“, sagte ich und lächelte.
5 Sterne
Scurr - 04.04.2016
Mois

Wenn man mal richtig upturnen will dann ist das Buch schon was ganz nices. #sheesh

5 Sterne
Mit Spannung und Gefühl - 05.03.2016
S. Anton

Man möchte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und lies atemlos weiter in der Hoffnung auf ein Happy End...

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