Die zerstückelte Liebe

Die zerstückelte Liebe

Verena Huber


EUR 18,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 136
ISBN: 978-3-99048-014-4
Erscheinungsdatum: 11.08.2015
Der 6-jährige Peter findet bei seiner Tante Magda eine Kiste mit gefrorenen Geschenken. Der Nachbar entdeckt darin einen menschlichen Unterarm. Er übergibt ihn anonym der Polizei und spioniert Magda nach. Eine bisher harmlos geglaubte Familie gerät arg in Bedrängnis.
1. Kapitel

„Hör zu, Peter! Mami muss ins Spital, bis das Baby kommt, und Papa muss zur Arbeit. Und Oma und Opa sind in die Ferien gefahren. Nun musst du für ein paar Tage zur Großtante Hedna und Großonkel Hans gehen.“
„Die mag ich aber überhaupt nicht!“
„Ich weiß, aber sieh, es geht nun mal nicht anders.“
„Ich will nicht!“
„Es ist ja nur für ein paar Tage, drei-, viermal schlafen, dann ist Wochenende und Papa ist hier, und dann holt er dich nach Hause.“
„Ich will nicht!“
„Ich weiß. Aber schau, die haben doch Kühe, junge Kälber, Hühner und Zita, den Hund.“
„Da stinkt es immer so!“
„Auf einem Bauernhof riecht es nun mal anders als in einem Wohnblock wie bei uns hier.“
„Die sind so komisch, ich mag die nicht!“
„Ich weiß, aber Tante Magda ist ja auch noch da.“
„Die mag ich auch nicht.“
„Komm, die ist doch nicht so schlimm. Sie gibt dir doch immer ein Schokoladenstengeli.“
„Ich will nicht!“
„Ich weiß, aber es muss sein. Ich bringe dich heute Nachmittag zu ihnen“, bleibt Rosa hart und wendet sich von ihrem Kleinen ab.
Immer resignierter kommt der Protest von Peter. Es zerreißt ihr fast das Herz. Sie will immer nur das Beste für ihn und jetzt das. Peter ist mit seinen sechs Jahren noch nie länger als zwei, drei Tage von ihr getrennt gewesen. Sie weiß, dass er leiden wird. Sie geht in sein Zimmer und packt seine Sachen zusammen. Peter kauert sich in eine Ecke in der Küche und schmollt. Als Rosa zurückkommt und ihn da sieht, stellt sie sich schon die übelsten Szenen vor, wie sie ihn widerwillig an die Hand nehmen, durchs Dorf schleifen und unter Zeter-Mordio-Geschrei abliefern wird. Rabenmutter!, würden alle denken. Plötzlich schießt ihr ein Gedanke durch den Kopf. Sie könnte das Taxi für sich bestellen, ihn dann abgeben und gleich ins Spital weiterfahren.
Beide bringen am Mittagstisch keinen Bissen hinunter. Sie begnügen sich mit einer warmen Ovomaltine. Rosa will es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Sie ruft ein Taxi.


2. Kapitel

Die Sonne durchdringt den herbstlichen Hochnebel und scheint vom stahlblauen Himmel herab. Vor dem Wohnblock hupt es zweimal.
„Peter, komm, das ist das Taxi. Wir müssen gehen.“
„Nimmst du mich jetzt doch mit?“
„Äh, nein, ich bringe dich mit dem Taxi zu Großtante Hedna und Großonkel Hans. Und dann fahre ich weiter ins Spital.“
„Niemand hat mich lieb.“
„Natürlich haben wir dich alle lieb. Mach es mir bitte nicht so schwer, Peter.“
Rosa schießen die Tränen in die Augen. Bloß jetzt nicht heulen!, ermahnt sie sich selber. Sie schnappt sich Peter, zieht ihm Schuhe und Jacke an, als wäre er eine Schaufensterpuppe, dann kleidet sie sich selbst an. Sie schwingt sich die große Badetasche mit Peters Sachen auf die linke Schulter. Mit der rechten Hand zieht sie ihre Reisetasche hinter sich her und so bugsiert sie alles aus der Haustür. Unten geht ebenfalls die Tür auf und ein Mann ruft freundlich das Treppenhaus hoch: „Taxi ist hier!“
„Wir kommen“, antwortet Rosa. Widerwillig lässt sich Peter von einem Fuß auf den anderen die Treppe hinunterfallen, als wäre es der schwerste Gang in seinem Leben. Rosa trottet hinterher, Stufe für Stufe.
„Wie alt ist denn dieser Block, dass da noch kein Lift eingebaut ist?“
„Oh, aus den Sechzigern“, seufzt Rosa.
„Hallo kleiner Mann“, grüßt der Taxifahrer Peter wohlwollend aufmunternd. Erfolglos.
„Wir müssen den Kleinen zu Verwandten bringen, dann können Sie mich ins Spital fahren. Geht das?“
„Aber sicher. Bitte geben Sie mir Ihr Gepäck. Sie sollten bestimmt nicht so schwer tragen in Ihrem Zustand.“
„Vielen Dank, Sie haben recht. In der Badetasche sind die Sachen für ihn.“ Rosa deutet mit dem Kopf auf Peter.
„Verstehe.“ Der Chauffeur lädt alles in seinen beigefarbenen Mercedes. Dann öffnet er den beiden die hintere Tür mit einer Verbeugung, als würde ein Hofstaat einsteigen. Rosa lotst den Fahrer die kurze Distanz durchs Dorf. Vor einem großen Bauernhaus sagt sie: „Hier ist es.“
Tante Hedna schlurft in Gummistiefeln aus der Scheune. Sie grüßt kurz und knapp. Einladend kommt das nicht herüber. „Stell die Tasche auf die Haustreppe. Ich nehm’ das Zeug mit rein, wenn wir in der Scheune fertig sind. Du kannst gleich mithelfen“, kommandiert sie Peter Richtung Scheune. Nun hat auch die schwerhörige Hündin Zita mitbekommen, dass jemand gekommen ist, und kommt bellend zwischen der Scheune und dem Haus angelaufen. Peter würdigt seine Mutter und den Taxifahrer keines Blickes mehr. Als hätte er eine Tracht Prügel kassiert, verzieht er sich in die Scheune. Rosa bricht fast zusammen. Der Fahrer schätzt die Situation sofort richtig ein. Er stützt sie und hilft ihr ins Auto. Er fährt gleich los, sodass keiner außer ihm mitbekommt, wie Rosa ein Taschentuch aus der Jackentasche kramt und ihrem Schmerz freien Lauf lässt.
Die alte Zita muss sich anstrengen, dass sie Peter folgen kann, obwohl dieser kaum noch langsamer hätte gehen können. Im Halbdunkel erkennt er die Umrisse von Großonkel Hans. Mit einer Mistgabel schiebt er altes Stroh vor sich her wie ein Schneepflug. „Hallo Professor Peter“, scherzt er. Peter versteht den Scherz nicht. „Hier hat es nur Staub und Dreck. Geh da hinten raus. Vor der alten Waschküche liegt ein Ball. Da kannst du spielen.“
„Gib ihm doch die leichte Heugabel. Arbeit ist die beste Medizin gegen Heimweh“, keift Hedna durch die Scheune. Hier drinnen hört sich ihre Stimme noch giftiger an als draußen.
„Lass ihn“, brummt Hans.
Mit hängendem Kopf grüßt Peter stumm. Er schleicht durch die Scheune, hinten wieder raus und geht den leichten Anstieg hinauf. Auf der einen Seite ist die alte Waschküche mit dem angrenzenden Wagenschopf, auf der anderen Seite die Treppe für den Hintereingang des Hauses. Auf dem Platz liegt ein verbleichter, roter Ball mit weißen Punkten. Das Ding gleicht mehr einer Pflaume als einem Ball. Als Peter dagegen tritt, bleibt der Fußabdruck gleich drin und das Teil kullert schlapp kaum einen Meter weiter. Zita ist die Einzige, die das toll findet. Doofer Hund, denkt Peter. Er geht in den Wagenschopf und erkundet ihn. Außer einem alten Traktor stehen ganz hinten ein Mofa und ein Militärfahrrad. Das findet er schon interessanter. Er kämpft sich durch Kisten und Holzscheite. Mit einem Stecken streicht er die Spinnweben weg, als wären sie giftig. Die Kisten und Schachteln sind verschlossen. Mit dem Stecken bekommt er sie nicht auf. Vielleicht müsste er herausfinden, wo der Großonkel Werkzeug hat und dann könnte er sie öffnen. Das stimmt ihn etwas heiterer. Und er vergisst die Zeit.


3. Kapitel

„Nachtessen!“, dröhnt es aus dem Küchenfenster auf den Hinterhof. Peter zuckt zusammen, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem erwischt. Mühsam klettert er nach vorne. Als er aus dem Schuppen kommt, ist es draußen schon ziemlich dunkel. Zita erwartet ihn oben auf der Treppe. Die Tür ist einen Spalt offen. Er geht hinein, schaut sich um und fragt sich, ob er die Schuhe ausziehen soll oder nicht. Es riecht nach Kuhstall und ist ungemütlich kühl. Der Flur erstreckt sich von der Hintertür bis zur Vordertür wie ein langer Tunnel. Gleich links sieht man Licht unter der Tür. Peter öffnet sie. Da stehen die kuhfladenverschmierten Stiefel vom Großonkel. „Bäh“, entfährt es Peter.
„Was ist los?“ Hedna kommt um die Ecke. Der Holzherd ist angefeuert und gibt Wärme ab. Mitten in der Küche steht ein riesiger Tisch. Rundherum stehen genug Taburette für eine Großfamilie. Hedna zieht Peter die Jacke vom Leib und weist ihn an, sich hinzusetzen. Sie hängt die Jacke an einen Nagel hinter der Tür. Peter reicht der Tisch bis zur Brust. Der Großonkel schlürft aus einer großen Tasse mit dem Suppenlöffel große Brotbrocken, die er vorher kräftig in den heißen Milchkaffee hineingedrückt hat. Ängstlich schaut Peter auf die andere Seite zur Großtante. Muss er etwa auch so etwas essen? Was wird sie ihm wohl hinstellen? Wenn ich das nicht mag, muss ich sicher verhungern, schießt es ihm durch den Kopf. Hedna schiebt ihm einen Teller mit Apfelröschti hin. Oh, das hat er nicht erwartet. Das mag er sogar. Freudig stopft er sich einen Löffel nach dem anderen hinein. Er hat ja heute kaum etwas gegessen und bemerkt erst jetzt, wie hungrig er ist. Plötzlich sitzt die Großtante bolzengerade am Tisch und hört auf zu kauen. Der Großonkel schlürft weiter seine Milchkaffeebrocken. „Pssst!“, zischt sie. „Bäh“, knurrt er. Peter vergisst zu schlucken und schaut abwechselnd die beiden an. Dann hört er eine Tür klappen. Danach Schritte bis zur Küchentür. Jetzt! Nein. Die Schritte gehen weiter die Holztreppe hinauf auf die andere Seite.
„Wo hat sich die wieder bloß den ganzen Tag herumgetrieben!“, faucht die Großtante mit vollem Mund über den Tisch zum Großonkel.
„Ach, lass sie doch“, brummt er zurück, ohne den Blick von seiner Tasse zu heben.
Peter folgert daraus, dass das Tante Magda gewesen sein muss. Sie wohnt oben, das weiß er. Da keiner mehr Anstalten macht, dass noch etwas passieren könnte, schluckt auch er wieder und isst auf.
Als der Großonkel aufgegessen hat, steht er auf. In Socken läuft er zu seinen dreckigen Stiefeln, zieht sie an, nimmt seine Melkerbluse vom Nagel und verschwindet.
„Du kannst in der Stube spielen. Ich habe dir die Spielsachen von Ursula vom Estrich geholt und vor den Ofen gestellt. Hans muss nach dem Melken den Stall fertig machen. Ich komme rein, wenn ich die Milch zur Käserei gebracht habe.“ Peter nickt stumm, rutscht vom Taburett und will in die Stube gehen. Da sieht er, dass er die Schuhe noch anhat. Er will aber nicht mit den Socken auf dem schmuddeligen Steinboden herumlaufen, wo der Großonkel schon mit seinen stinkenden Füßen herumgelaufen ist. Er bleibt stehen, schaut auf die Großtante und dann auf seine Füße.
„Ausziehen!“, keift sie, während sie den Tisch abräumt und deutet mit dem Kopf auf die andere Seite. Da sieht Peter seine Tigerfinken vor dem Holzherd. Er rennt hinüber und wechselt seine Schuhe gegen die Finken. Dann rennt er zurück um die Ecke in die Stube. Von der Straßenlaterne dringt etwas Licht durch die dicken weißen Vorhänge. Er tastet die Wand ab und findet einen Lichtschalter. Ein großer Kachelofen steht an der Wand zur Küche. Gegenüber steht wieder so ein riesiger Tisch, umrandet von Stühlen. Vor dem Ofen steht eine Holzkiste mit Spielsachen. Alles durcheinander. Er sitzt auf dem Teppich und stöbert nach etwas, was ihm Spaß machen könnte. Dabei ist er doch zu alt für diesen Krimskrams. Ab und zu hört er Schritte und Stühlerücken von oben. Plötzlich überfällt ihn eine Angst. Er wäre jetzt so gerne bei Mami und Papi gewesen. Er würde auch nicht dazwischenreden, wenn sie miteinander sprechen. Er beißt die Zähne zusammen, aber es hilft nichts. Er fängt an zu weinen. Er denkt nur noch an zu Hause. Er weiß, dass er heute nicht lieb zu Mami gewesen ist. Aber Mami hat schon zweimal ein Baby verloren. Damals war der Bauch zwar nie so dick. Aber er weiß noch, dass es ihr dann immer so schlecht ging. Und er will, dass es ihr gut geht. Er will gar keine Schwester und auch keinen Bruder mehr. Er will nach Hause. Er würde ja immer lieb sein, wenn er jetzt nur nach Hause dürfte.
Irgendwann hört er jemanden in der Küche hantieren. Er wischt sich mit dem Ärmel die Tränen und den Schnodder von der Nase. Vorsichtig öffnet er die Tür einen Spalt und sieht, wie der Großonkel auf seinem Taburett sitzt und anfängt Käse, Butter und Brot zu essen. Das hat er ja ganz vergessen. Die essen ja immer zweimal am Abend: Vor dem Stall nennen sie es Abendbrot und danach Nachtessen. Ihm ist alles egal. Er will nur nach Hause. Schon stehen ihm die Tränen wieder in den Augen. Er will nicht, dass ihn jemand so sieht. Ganz leise drückt er die Tür wieder zu. Er kriecht bäuchlings unter den Ofen und heult weiter. Im Flur klappert jemand herum. Hedna ist zurück und stellt die Milchtansen von der Käserei im Flur ab, bevor sie sie durch die gegenüberliegende Tür schleppt zum Auswaschen. „Wo ist der Kleine?“
Peter wischt sich das Gesicht mit dem Pulloverärmel ab und kriecht unter dem Ofen hervor. Er setzt sich vor die Spielzeugkiste und kramt darin herum. Im Rücken spürt er, wie die Tür einen kleinen Spalt aufgeht und sich gleich wieder schließt. Ungewöhnlich leise spricht jetzt Hedna mit Hans. Peter schleicht zur Tür und horcht.
„Die da oben war sicher wieder auf irgendeiner Beerdigung von jemandem, den sie überhaupt nicht kennt.“ Stille. „Und du sagst natürlich nie etwas.“
„Die Tagesschau beginnt gleich.“
Peter zuckt zusammen. Hier hat er keinen Fernseher gesehen. Er hört Hans den Flur entlangschlurfen. Auf der anderen Seite geht eine Tür auf und zu. Dann übertönt der Fernseher alles.
„Zeit für dich ins Bett zu gehen.“ Diese Lautstärke von Tante Hedna übertrifft auch den Fernseher. Eingeschüchtert schmeißt Peter die Spielklötze in die Holzkiste und folgt ihr. Durch die Küche, über den Flur, unter der Treppe durch, die zu Magdas Wohnung führt, zwei Stufen hinunter und er steht hinter Hedna in einer Art Badezimmer und Waschküche zugleich. Die Milchtansen stehen auf den Kopf gestellt auf einem Holzlattenrost und tropfen ab. Die Deckel liegen daneben. Mit dem Fuß schiebt Hedna Peter einen Holzschemel vor den Blechtrog. Er steigt darauf und schnappt nacheinander Waschlappen, Zahnbürste, Handtuch, gerade so, wie sie es ihm hinhält. So schnell war er noch nie fertig im Bad. Neben der Waschmaschine an der hinteren Wand gibt es noch eine Tür. „Hier lang.“ Sie stehen in einem Zwischenraum, von dem aus man links oder rechts durch je eine Tür gehen kann, wobei sich die Türen beinahe berühren, wenn sie gleichzeitig geöffnet sind. Hedna stößt die Tür rechts auf. Quietschend gibt sie ein kleines Zimmer mit einem Bett, einem Holztisch mit Stuhl und einem Kleiderschrank frei. „Hier schläfst du, wir sind auf der anderen Seite.“ Peter sieht seine Badetasche auf dem Boden neben dem Schrank liegen. Hedna rupft die Federdecke, eine braune Wolldecke und ein weißes Leintuch mit einem Ruck auf. Peter kriecht in das kalte Bett. Ruppig zieht sie die Nachtvorhänge zu, die einen muffigen Geruch in Peters Nase hinterlassen. „Gute Nacht.“ Und schon knipst sie das Licht aus und ist wieder draußen. Peter weiß nicht, ob er froh darüber sein soll, oder ob er doch noch ein nettes Wort hören wollte. Den Fernseher hört er bis hierher. Er versucht sich angestrengt vorzustellen, auf welcher Seite das Zimmer mit dem Fernseher ist und was zwischen jenem Zimmer und dem Schlafzimmer von Hans und Hedna sein könnte. Von oben kommen nun noch Musiktöne dazu. Peter kriecht unter die Decke und hält sich die Ohren zu.


4. Kapitel

Am anderen Morgen wacht Peter auf. Draußen dröhnt ein Traktor, von oben hört er wieder Musik, die ihm nicht gefällt, und schon stürzt Hedna ins Zimmer: „Aufstehen! Heute müssen wir die Räben vom Feld holen. Keine Zeit zum Trödeln!“ Die Vorhänge und die Decke fliegen beinahe gleichzeitig auf, und Peter schlüpft in die Tigerfinken. Er will ins Bad zum Duschen. „Anziehen.“ Hedna schmeißt ihm dieselben Kleider wie gestern hin. „Und duschen?“, fragt Peter scheu. „Dafür gibt es den Samstag.“ Sie steuert direkt durch diese Badewaschküche hindurch über den Flur in die Küche. Bis Peter kommt, steht nur noch seine Tasse mit warmer Milch und einer Art Schokoladengemisch darin auf dem Tisch sowie ein Teller mit drei dick geschmierten Konfitürenbrotscheiben. Hedna wäscht bereits das Geschirr von ihr und Großonkel Hans ab. „Im Fernsehen haben sie gebracht, dass es dieses Jahr mehr Unwetter geben wird als in den Vorjahren. Räben putzen ist eine harte Arbeit. Willst du mitkommen oder bleibst du hier?“
So ganz alleine hier?, denkt Peter. Ihm wird ganz flau im Magen.
„Die Nachbarin, Frau Junker, hat mir gesagt, dass drei ihrer Enkelkinder ein paar Tage zu ihnen kommen. Du kannst hinübergehen und mit denen spielen.“
Peter nickt stumm und stopft sich riesige Bissen in den Mund. Gleichzeitig durchtränkt er die großen Brocken mit dem Milchschokoladengetränk, das ganz anders schmeckt als das zu Hause. Aber so werden die Brocken weicher und rutschen besser den Hals hinunter. Von draußen ertönt eine mickrige Hupe.
„Das ist Hans. Ich muss gehen. Stell alles hier auf den Spültrog.“ Wie im Flug zieht sie sich eine schwere, braune Jacke über, schlüpft in die Stiefel, keift „ICH KOMME!“ und ist weg.
Jetzt geht Peter das Frühstück langsamer an. Verloren hockt er auf seinem Taburett und isst. Das Küchenfenster über dem Spültrog ist schmal und so hoch oben, dass er nur ein Stück grau verhangenen Himmel sehen kann. Im Rücken gibt es auch ein Fenster, aber der dicke Vorhang lässt keinen Blick nach draußen zu. Ihm wird unwohl.
Von oben hört er Schritte. Tante Magda, denkt er. Wie sieht sie aus? Er erinnert sich nicht mehr richtig an sie. Plötzlich donnert ein lautes Poltern durch den Gang. „Post ist da!“ Klatsch! Der Postbote lässt alles im Flur neben die Tür fallen. Dann donnert der Messingring, der die Hausglocke ersetzt, zweimal. Damit quittiert der Pöstler sein Kommen und Gehen. Oben werden die Schritte schneller. Peter rutscht vom Taburett und schleicht zur Flurtür. Vorsichtig späht er nach links zur Vordertür. Jetzt geht oben eine Tür auf. Peter schielt nach rechts oben. Tante Magda hüpft die hölzerne Treppe hinunter und summt ein Lied, trippelt auf dem Zwischenboden eine Sondereinlage und tänzelt die letzten Stufen hinunter auf die Bodensteinplatten. Erwartet die ein Paket, dass die sich so auf die Post freut?, fragt sich Peter. Er würde das tun. Er weicht zurück, damit sie ihn nicht sieht, wagt sich wieder leicht nach vorne und verfolgt sie mit seinem Blick. Sie öffnet die Tür. Die ist so groß, dass nur ein Teil davon aufgeht. Sie schaut nach draußen, als prüfe sie, ob sie den Postboten noch erwischt. Auf dem Flur liegen ein paar Zeitungen und Briefe. Sie hebt den Stapel auf, nimmt sich eine Zeitung, drückt mit dem Fuß die Tür ins Schloss, wirft die Post auf die Kommode an der Wand, geht zurück, dreht den Schlüssel und schlägt mittendrin die Zeitung auf. Peter bewundert die Eleganz und Schnelligkeit, mit der Tante Magda das alles macht. Er versteht allerdings nicht, warum sie kein Licht anmacht. Wie kann sie die Zeitung im Halbdunkel des Flurs lesen? Sein Papa blättert die Zeitung von vorne nach hinten, Seite um Seite durch. Magda nicht. Sie hat nun nichts Tänzelndes oder Summendes mehr an sich. Im Stechschritt steuert sie nach oben und knallt die Tür zu. Peter sieht, dass ihn Zita die ganze Zeit beobachtet hat. Sie liegt eingerollt auf dem Türvorleger der Hintertür, die nicht ganz zu ist. Ein kühler, feuchter Windstoß kommt herein. Peter sieht sich gelangweilt um. Ganz allein in diesem Koloss von einem Bauernhaus. Zu Hause lassen ihn seine Eltern nicht einmal ein paar Minuten alleine in der Wohnung. Und hier? Er schleicht zur Kommode, auf der die restliche Post liegt. Unten hat sie zwei Türchen und oben zwei Schubladen. Er öffnet die Türchen. Schuhe und Schlappen liegen kreuz und quer auf den Tablaren. Dann zieht er an den Schubladen. Die krächzen. Peter hält inne und horcht, ob Magda das gehört haben könnte. Dann zieht er sie ganz auf. Zwischen Daumen und Zeigefinger hebt er die darin liegenden Stücke einzeln hoch. Strümpfe, Handschuhe, Taschentücher und weiße Kugeln, die entsetzlich stinken. Er schiebt die Schubladen wieder zu. Jetzt geht er in das Zimmer, in dem Großonkel Hans gestern verschwunden war. Wieder steht ein riesiger, runder Holztisch in der Mitte und darum herum Stühle. In der Ecke steht eine Couch, übersät mit Kissen und Wolldecken. Zwei durchgesessene Ledersessel stehen auf den Fernseher ausgerichtet auf der einen Seite. Neben dem Fernseher gibt es eine Einbuchtung. Vorsichtig schleicht Peter hinüber. Zwei Stufen führen hinunter zu einer Tür. Er öffnet sie und erblickt ein Schlafzimmer mit zerwühltem Bettzeug.

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